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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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daß er allmählich andre Bahne" eingeschlagen hat. Er folgte dabei mir seiner
Nntnr, seiner starken, feurigen Sympathie mit allem, was unter den Begriff
Humanität füllt, sein anfänglicher Stnndpnnkt war in der That ein sehr eng
begrenzter gewesen, selten ist er, der als Kanfmannssvhn zu seiner politischen
Arbeit praktischen Sinn mitbrachte, mit seinen Reformen zu weit gegangen, n"d
fast immer erwies er sich als Redner wie als Gesetzbilduer als ein Staatsmann
von ungewöhnlicher Begabung, der es wohl verstand, die Überlieferungen der
Vergangenheit mit dem zu versöhnen, was sich aus der Zukunft in das gegen¬
wärtige Leben seiner Nation hereindrüngte. Immer freilich ist ihm das nicht
gelungen, und ob die Erweiterung des Wahlrechts, deren beredtester und rührigster
Fürsprecher er war und noch jetzt ist, England zum Segen gereichen und nicht vielmehr
einem sehr bedenklichen Radikalismus zur Herrschaft verhelfen wird, ist abzuwarten.

Gladstones Hauptverdienfte lagen bisher ans dem Gebiete der Finanzen,
auf dem er in der That wiederholt meisterhaftes geleistet hat. Aber auch nach
andern Richtungen hin hat er ungewöhnliche Fähigkeiten an den Tag gelegt
und allmählich einen fast unbegrenzten Einfluß in seiner Partei erlangt. Auch
als er nicht im Amte war, regierte er dieselbe, und jetzt kann man sagen, er
allein sei das Ministerium; denn man weiß, daß seine Ansichten in den ver-
schiednen Abteilungen der Verwaltung mehr registrirt und ausgeführt, als von
seinen Kollegen erörtert und kritisirt werden. Sollen wir ihn seinem Charakter
nach näher kennzeichnen, so ist er der Typus des nordenglischen Kaufmanns.
Erfahrungsreich, unermüdlich fleißig, voll Thatkraft und zugleich voll Geduld,
pünktlich und solid, dann zwar beredt, aber ohne Humor, ohne Anmut, nüchtern,
phantasielos, flößt er Achtung, bisweilen Bewunderung ein, ohne eigentlich Sym¬
pathie zu erwecken. Er ist der Repräsentant der englischen Mittelklasse, mit
deren starken Seiten und mit deren Schwächen und Schranken. Sein Auf¬
treten, seine Redeweise, seine Bestrebungen, alles trägt den Stempel des Kauf¬
manns ans dem Norden Englands, und er verhehlt uicht, daß er darauf stolz
ist. Vor einigen Jahren sagte er, von sich selbst sprechend, in Liverpool: "Ich
weiß nicht, warum der Handelsstand in England nicht seine alten Familien
haben sollte, die sich freuen und geehrt fühlen, daß sich in ihnen die Kaufmann¬
schaft von Geschlecht zu Geschlecht vererbt hat. Es ist in andern Ländern so
gewesen, und ich hoffe, daß es bei uns zu Lande ebenfalls so sein wird. Ich
meine, es ist traurig, es ist beinahe ein Skandal, wenn Familien, die sich durch
kaufmännische Geschäfte Stellung und Reichtum erworben oder wiedergewonnen
haben, dem Handel den Rücken zudrehen und sich seiner zu schämen scheinen-
Mit meinem Bruder oder mir verhält sichs durchaus nicht so. Seine Söhne
folgen seinen Fußtapfen, und ich freue mich, sagen zu können, daß einer von
meinen Söhnen den Fußtapfen meines Vaters und meines Bruders folgt."

Noch nicht ganz dreiundzwanzig Jahre alt, als er ins Unterhaus gewählt
wurde, trat Gladstone zwei Jahre später schon als Lord Junior des Schatz-


daß er allmählich andre Bahne» eingeschlagen hat. Er folgte dabei mir seiner
Nntnr, seiner starken, feurigen Sympathie mit allem, was unter den Begriff
Humanität füllt, sein anfänglicher Stnndpnnkt war in der That ein sehr eng
begrenzter gewesen, selten ist er, der als Kanfmannssvhn zu seiner politischen
Arbeit praktischen Sinn mitbrachte, mit seinen Reformen zu weit gegangen, n»d
fast immer erwies er sich als Redner wie als Gesetzbilduer als ein Staatsmann
von ungewöhnlicher Begabung, der es wohl verstand, die Überlieferungen der
Vergangenheit mit dem zu versöhnen, was sich aus der Zukunft in das gegen¬
wärtige Leben seiner Nation hereindrüngte. Immer freilich ist ihm das nicht
gelungen, und ob die Erweiterung des Wahlrechts, deren beredtester und rührigster
Fürsprecher er war und noch jetzt ist, England zum Segen gereichen und nicht vielmehr
einem sehr bedenklichen Radikalismus zur Herrschaft verhelfen wird, ist abzuwarten.

Gladstones Hauptverdienfte lagen bisher ans dem Gebiete der Finanzen,
auf dem er in der That wiederholt meisterhaftes geleistet hat. Aber auch nach
andern Richtungen hin hat er ungewöhnliche Fähigkeiten an den Tag gelegt
und allmählich einen fast unbegrenzten Einfluß in seiner Partei erlangt. Auch
als er nicht im Amte war, regierte er dieselbe, und jetzt kann man sagen, er
allein sei das Ministerium; denn man weiß, daß seine Ansichten in den ver-
schiednen Abteilungen der Verwaltung mehr registrirt und ausgeführt, als von
seinen Kollegen erörtert und kritisirt werden. Sollen wir ihn seinem Charakter
nach näher kennzeichnen, so ist er der Typus des nordenglischen Kaufmanns.
Erfahrungsreich, unermüdlich fleißig, voll Thatkraft und zugleich voll Geduld,
pünktlich und solid, dann zwar beredt, aber ohne Humor, ohne Anmut, nüchtern,
phantasielos, flößt er Achtung, bisweilen Bewunderung ein, ohne eigentlich Sym¬
pathie zu erwecken. Er ist der Repräsentant der englischen Mittelklasse, mit
deren starken Seiten und mit deren Schwächen und Schranken. Sein Auf¬
treten, seine Redeweise, seine Bestrebungen, alles trägt den Stempel des Kauf¬
manns ans dem Norden Englands, und er verhehlt uicht, daß er darauf stolz
ist. Vor einigen Jahren sagte er, von sich selbst sprechend, in Liverpool: „Ich
weiß nicht, warum der Handelsstand in England nicht seine alten Familien
haben sollte, die sich freuen und geehrt fühlen, daß sich in ihnen die Kaufmann¬
schaft von Geschlecht zu Geschlecht vererbt hat. Es ist in andern Ländern so
gewesen, und ich hoffe, daß es bei uns zu Lande ebenfalls so sein wird. Ich
meine, es ist traurig, es ist beinahe ein Skandal, wenn Familien, die sich durch
kaufmännische Geschäfte Stellung und Reichtum erworben oder wiedergewonnen
haben, dem Handel den Rücken zudrehen und sich seiner zu schämen scheinen-
Mit meinem Bruder oder mir verhält sichs durchaus nicht so. Seine Söhne
folgen seinen Fußtapfen, und ich freue mich, sagen zu können, daß einer von
meinen Söhnen den Fußtapfen meines Vaters und meines Bruders folgt."

Noch nicht ganz dreiundzwanzig Jahre alt, als er ins Unterhaus gewählt
wurde, trat Gladstone zwei Jahre später schon als Lord Junior des Schatz-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/638>, abgerufen am 01.07.2024.