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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Debatten über die soziale Frage-

eine neue repräsentativ vertretende Anschauung entsteht und der Weg zur eigent¬
lichen Thätigkeit, auf die alles ankommt, eher noch mehr verlegt als geebnet
wird. Der Verein verwirft die Privatversicherung, er verlangt Eingreifen des
Staats lind will Verbände. Das sind alles Postulate, mit deuen er das
einemal mit den Vorschlägen andrer Vereitle zusammentrifft, das andremal ihnen
widerspricht. Zudem denkt er sich die Aufgabe, die hier vorliegt, zu leicht.
Wenn behauptet wird, der Krankenkassenzwang sei eins der wesentlichsten Mittel
zur Beseitigung der Vagabondage, so ist dies ein Optimismus, den wir nicht
begreifet?. Durch deu Krankenkassenzwaug berührt mau die Urquelle der Vaga-
bondage noch lauge nicht. Diese Urquelle ist aber jedenfalls der Punkt, wo
die meiste Gefahr droht. Indeß ist ihr nirgends näher getreten; höchstens in
der katholischen Versaunulung dnrch die Berührung des Normalarbeitstages,
dessen Durchführung aber den stärksten Widerstand von selten der Fabrikanten
finden dürfte, wenigstens wenn derselbe wirklich zu jener schneidigen Maßregel
werden sollte, welche der immerwährende"! Gefahr der Überproduktion eilten
Damm zieht.

Es ist nicht zu verwundern, wenn bei solcher Verworrenheit in der Debatte
über die soziale Frage die Praxis vollends rat- und hilflos wird. Der Armen¬
verein derselben Stadt, wo die erst- und letztberührteit Versammlungen statt¬
fanden, erließ kürzlich einen Notschrei an die Bevölkerung, worin angegeben war,
daß in den ersten zehn Monaten des Jahres 1882 nicht weniger als 11769
durchpassireude Personen bei ihr um Unterstützung nachgesucht haben. Und
welche Ursache giebt der Armenverein dafür an? Die, daß in Frankfurt das
Fechtel! so einträglich sei! Vor solcher Naivetät steht mau staunend. Auf
dem Lande und in den kleinen Städten ist die Belästigung der einzelnen dnrch
Bettler thatsächlich verhältmsmäßig stärker als in großen Plätzen wie Frank¬
furt. Atldrerseits hatte vor einiger Zeit ein württembergischer Armenverband
die wesentliche Abnahme der llnterstütznngsuchendcn im Jahre 1881 ans seine
eigne Wirksamkeit zurückgeführt. Man wird zugeben, daß derartige Äußerungen
aufs traurigste berühren müssen; denn sie zeigen, wie sehr man allenthalben
in der Debatte und Praxis auf der Oberfläche herumtastet, anstatt in die Tiefe
einzudringen.

Dies vorzuführen war die Absicht dieser Erörterung, bei der wir aus¬
gegangen sind voll dem thatsächlich bedeutendsten, was sich auf dem Gebiet der
sozialen Debatte und Praxis unserer Anschauung zunächst aufdrängte. Es
konnte nicht daran zu denken sein, die Sache irgendwie erschöpfen zu wollen.
Aber wir wollten durch unsere Darstellung durchleuchten lassen, wie hoch be¬
reits die soziale Gefahr gestiegen erscheint schon durch die Unzulänglichkeit der
ihr gegenübertretenden Praxis und durch die Unsicherheit und Unklarheit der
sich mit ihr befassenden Debatte. Insbesondre wollten wir andeuten, wie
gerade der Umstand, daß einerseits die katholische Versammlung in Praxis und


Debatten über die soziale Frage-

eine neue repräsentativ vertretende Anschauung entsteht und der Weg zur eigent¬
lichen Thätigkeit, auf die alles ankommt, eher noch mehr verlegt als geebnet
wird. Der Verein verwirft die Privatversicherung, er verlangt Eingreifen des
Staats lind will Verbände. Das sind alles Postulate, mit deuen er das
einemal mit den Vorschlägen andrer Vereitle zusammentrifft, das andremal ihnen
widerspricht. Zudem denkt er sich die Aufgabe, die hier vorliegt, zu leicht.
Wenn behauptet wird, der Krankenkassenzwang sei eins der wesentlichsten Mittel
zur Beseitigung der Vagabondage, so ist dies ein Optimismus, den wir nicht
begreifet?. Durch deu Krankenkassenzwaug berührt mau die Urquelle der Vaga-
bondage noch lauge nicht. Diese Urquelle ist aber jedenfalls der Punkt, wo
die meiste Gefahr droht. Indeß ist ihr nirgends näher getreten; höchstens in
der katholischen Versaunulung dnrch die Berührung des Normalarbeitstages,
dessen Durchführung aber den stärksten Widerstand von selten der Fabrikanten
finden dürfte, wenigstens wenn derselbe wirklich zu jener schneidigen Maßregel
werden sollte, welche der immerwährende«! Gefahr der Überproduktion eilten
Damm zieht.

Es ist nicht zu verwundern, wenn bei solcher Verworrenheit in der Debatte
über die soziale Frage die Praxis vollends rat- und hilflos wird. Der Armen¬
verein derselben Stadt, wo die erst- und letztberührteit Versammlungen statt¬
fanden, erließ kürzlich einen Notschrei an die Bevölkerung, worin angegeben war,
daß in den ersten zehn Monaten des Jahres 1882 nicht weniger als 11769
durchpassireude Personen bei ihr um Unterstützung nachgesucht haben. Und
welche Ursache giebt der Armenverein dafür an? Die, daß in Frankfurt das
Fechtel! so einträglich sei! Vor solcher Naivetät steht mau staunend. Auf
dem Lande und in den kleinen Städten ist die Belästigung der einzelnen dnrch
Bettler thatsächlich verhältmsmäßig stärker als in großen Plätzen wie Frank¬
furt. Atldrerseits hatte vor einiger Zeit ein württembergischer Armenverband
die wesentliche Abnahme der llnterstütznngsuchendcn im Jahre 1881 ans seine
eigne Wirksamkeit zurückgeführt. Man wird zugeben, daß derartige Äußerungen
aufs traurigste berühren müssen; denn sie zeigen, wie sehr man allenthalben
in der Debatte und Praxis auf der Oberfläche herumtastet, anstatt in die Tiefe
einzudringen.

Dies vorzuführen war die Absicht dieser Erörterung, bei der wir aus¬
gegangen sind voll dem thatsächlich bedeutendsten, was sich auf dem Gebiet der
sozialen Debatte und Praxis unserer Anschauung zunächst aufdrängte. Es
konnte nicht daran zu denken sein, die Sache irgendwie erschöpfen zu wollen.
Aber wir wollten durch unsere Darstellung durchleuchten lassen, wie hoch be¬
reits die soziale Gefahr gestiegen erscheint schon durch die Unzulänglichkeit der
ihr gegenübertretenden Praxis und durch die Unsicherheit und Unklarheit der
sich mit ihr befassenden Debatte. Insbesondre wollten wir andeuten, wie
gerade der Umstand, daß einerseits die katholische Versammlung in Praxis und


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[0483] Debatten über die soziale Frage- eine neue repräsentativ vertretende Anschauung entsteht und der Weg zur eigent¬ lichen Thätigkeit, auf die alles ankommt, eher noch mehr verlegt als geebnet wird. Der Verein verwirft die Privatversicherung, er verlangt Eingreifen des Staats lind will Verbände. Das sind alles Postulate, mit deuen er das einemal mit den Vorschlägen andrer Vereitle zusammentrifft, das andremal ihnen widerspricht. Zudem denkt er sich die Aufgabe, die hier vorliegt, zu leicht. Wenn behauptet wird, der Krankenkassenzwang sei eins der wesentlichsten Mittel zur Beseitigung der Vagabondage, so ist dies ein Optimismus, den wir nicht begreifet?. Durch deu Krankenkassenzwaug berührt mau die Urquelle der Vaga- bondage noch lauge nicht. Diese Urquelle ist aber jedenfalls der Punkt, wo die meiste Gefahr droht. Indeß ist ihr nirgends näher getreten; höchstens in der katholischen Versaunulung dnrch die Berührung des Normalarbeitstages, dessen Durchführung aber den stärksten Widerstand von selten der Fabrikanten finden dürfte, wenigstens wenn derselbe wirklich zu jener schneidigen Maßregel werden sollte, welche der immerwährende«! Gefahr der Überproduktion eilten Damm zieht. Es ist nicht zu verwundern, wenn bei solcher Verworrenheit in der Debatte über die soziale Frage die Praxis vollends rat- und hilflos wird. Der Armen¬ verein derselben Stadt, wo die erst- und letztberührteit Versammlungen statt¬ fanden, erließ kürzlich einen Notschrei an die Bevölkerung, worin angegeben war, daß in den ersten zehn Monaten des Jahres 1882 nicht weniger als 11769 durchpassireude Personen bei ihr um Unterstützung nachgesucht haben. Und welche Ursache giebt der Armenverein dafür an? Die, daß in Frankfurt das Fechtel! so einträglich sei! Vor solcher Naivetät steht mau staunend. Auf dem Lande und in den kleinen Städten ist die Belästigung der einzelnen dnrch Bettler thatsächlich verhältmsmäßig stärker als in großen Plätzen wie Frank¬ furt. Atldrerseits hatte vor einiger Zeit ein württembergischer Armenverband die wesentliche Abnahme der llnterstütznngsuchendcn im Jahre 1881 ans seine eigne Wirksamkeit zurückgeführt. Man wird zugeben, daß derartige Äußerungen aufs traurigste berühren müssen; denn sie zeigen, wie sehr man allenthalben in der Debatte und Praxis auf der Oberfläche herumtastet, anstatt in die Tiefe einzudringen. Dies vorzuführen war die Absicht dieser Erörterung, bei der wir aus¬ gegangen sind voll dem thatsächlich bedeutendsten, was sich auf dem Gebiet der sozialen Debatte und Praxis unserer Anschauung zunächst aufdrängte. Es konnte nicht daran zu denken sein, die Sache irgendwie erschöpfen zu wollen. Aber wir wollten durch unsere Darstellung durchleuchten lassen, wie hoch be¬ reits die soziale Gefahr gestiegen erscheint schon durch die Unzulänglichkeit der ihr gegenübertretenden Praxis und durch die Unsicherheit und Unklarheit der sich mit ihr befassenden Debatte. Insbesondre wollten wir andeuten, wie gerade der Umstand, daß einerseits die katholische Versammlung in Praxis und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/483>, abgerufen am 29.06.2024.