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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Debatten über die soziale Frage.

auf liberaler Seite jener durch den Geheimrnt Engel veranlaßte Versuch, die
Arbeiter auf dem Aktienwege (bei der Fabrik von Borchers in Berlin) allmählich
zu Fabrikbesitzern zu machen, nicht nur vereinzelt geblieben, sondern sogar gänzlich
veruugliickt; während einige andre Versuche (wie z. B. der vou Wertheim in
Frankfurt) lediglich zur Reklame benutzt wurden, um dann in aller Stille wieder
einzuschlafen.

An sich ist jn die Idee, die im "Arbeiterwohl" vertreten wird, sehr schön;
ober schwerlich ist es ausreichend. Um einen patriarchalischen, väterlich-brüder¬
lichen Zusammenhang zwischen dem Fabrikbesitzer, sowie dessen Familie und den
Arbeitern herbeizuführen, müßte vor allen Dingen die ganze Erziehung der be¬
sitzenden Klassen umgekrempelt werden -- in geistiger und formaler Hinsicht.
Insbesondre die weibliche Welt -- welche intellektuelle und sittliche Nmkrempeluug
ihres gegenwärtigen Wesens wäre nötig, um sie fähig zu machen zu der Auf¬
gabe, die hier gestellt ist! Wir fürchten, daß die höheren Erziehungsanstalten
katholischer Richtung, die klösterlichen nicht ausgenommen, selbst eine gewaltige
Reformation erfahren müßten, um die Frauen und Töchter der katholischen
Fabrikbesitzer fähig zu machen zu der Aufgabe, welche ihnen die Idee des Vereins
"Arbeiterwohl" stellt. Denn es genügt uicht dieser unendlichen Aufgabe gegeu-
über, daß einzelne, die ihr Gemüll vielleicht mehr treibt als ihre Einsicht, die Aufgabe
als Herzens- oder auch selbst als Glaubenssache erfasse" -- das ist ein Tropfen
Wasser ins Meer. Wie weit ist man noch entfernt davon, die Männer von
dem Geiste, der unbedingt Voraussetzung der Erstrebung jener Aufgaben ist, zu
erfüllen, trotz der vierhundert Fabrikbesitzer, die dem Verein "Arbeiterwohl" an¬
gehören! Wird aber die im stärksten Fluß befindliche soziale Vewegnug sich stauen
lasse", bis jene Umwandlung in Erziehung und Gesinnung sich vollzogen hat?
Wir bezweifeln es.

Es scheint fast, als liege zugleich eine andre Idee den Bestrebungen des
Verbandes "Arbeiterwvhl" zu Grunde -- die Idee, die soziale Bewegung zu
adonisiren. Diese Idee äußert sich nämlich in einem Statuteuvorschlage, über
deu die Sozialpolitiker der Versammlung freilich nicht recht einig werden konnten.
Dieser Vorschlag ging dahin, von den größern reichsgesetzlich vorgeschriebenen
Unterstützungskassen abzugehen und möglichst für jede Fabrik eine Kasse zu er¬
richten. Diese Kasse soll im Grnnde eine Krankenkasse mit 50 Prozent eignem
Zuschuß vou selten des Fabrikbesitzers sein; allein sie soll ergänzt werden dnrch
eine allgemeine Unterstütznngs- und Vorschußkasse, eine Sparkasse und anch eine
Familieukrankenkasse. Hier soll nun die Einwirkung des Fabrikbesitzers und mehr
noch die seiner Familie im Sinne der christlichen Earitas mindestens bei beson¬
dern Not- und Erkrauknngsfüllen eintreten. Einer der Redner, eben jener Glnd-
bacher Fabrikbesitzer, welcher bereits eine Mnsternnstalt errichtet hat, betonte
dies ganz besonders. Diese Kassen müßten dem Arbeitgeber ebenso wie dem
Arbeiter geradezu ans Herz wachse" und eigentlich Pflegerassen werden. Es


Debatten über die soziale Frage.

auf liberaler Seite jener durch den Geheimrnt Engel veranlaßte Versuch, die
Arbeiter auf dem Aktienwege (bei der Fabrik von Borchers in Berlin) allmählich
zu Fabrikbesitzern zu machen, nicht nur vereinzelt geblieben, sondern sogar gänzlich
veruugliickt; während einige andre Versuche (wie z. B. der vou Wertheim in
Frankfurt) lediglich zur Reklame benutzt wurden, um dann in aller Stille wieder
einzuschlafen.

An sich ist jn die Idee, die im „Arbeiterwohl" vertreten wird, sehr schön;
ober schwerlich ist es ausreichend. Um einen patriarchalischen, väterlich-brüder¬
lichen Zusammenhang zwischen dem Fabrikbesitzer, sowie dessen Familie und den
Arbeitern herbeizuführen, müßte vor allen Dingen die ganze Erziehung der be¬
sitzenden Klassen umgekrempelt werden — in geistiger und formaler Hinsicht.
Insbesondre die weibliche Welt — welche intellektuelle und sittliche Nmkrempeluug
ihres gegenwärtigen Wesens wäre nötig, um sie fähig zu machen zu der Auf¬
gabe, die hier gestellt ist! Wir fürchten, daß die höheren Erziehungsanstalten
katholischer Richtung, die klösterlichen nicht ausgenommen, selbst eine gewaltige
Reformation erfahren müßten, um die Frauen und Töchter der katholischen
Fabrikbesitzer fähig zu machen zu der Aufgabe, welche ihnen die Idee des Vereins
„Arbeiterwohl" stellt. Denn es genügt uicht dieser unendlichen Aufgabe gegeu-
über, daß einzelne, die ihr Gemüll vielleicht mehr treibt als ihre Einsicht, die Aufgabe
als Herzens- oder auch selbst als Glaubenssache erfasse» — das ist ein Tropfen
Wasser ins Meer. Wie weit ist man noch entfernt davon, die Männer von
dem Geiste, der unbedingt Voraussetzung der Erstrebung jener Aufgaben ist, zu
erfüllen, trotz der vierhundert Fabrikbesitzer, die dem Verein „Arbeiterwohl" an¬
gehören! Wird aber die im stärksten Fluß befindliche soziale Vewegnug sich stauen
lasse«, bis jene Umwandlung in Erziehung und Gesinnung sich vollzogen hat?
Wir bezweifeln es.

Es scheint fast, als liege zugleich eine andre Idee den Bestrebungen des
Verbandes „Arbeiterwvhl" zu Grunde — die Idee, die soziale Bewegung zu
adonisiren. Diese Idee äußert sich nämlich in einem Statuteuvorschlage, über
deu die Sozialpolitiker der Versammlung freilich nicht recht einig werden konnten.
Dieser Vorschlag ging dahin, von den größern reichsgesetzlich vorgeschriebenen
Unterstützungskassen abzugehen und möglichst für jede Fabrik eine Kasse zu er¬
richten. Diese Kasse soll im Grnnde eine Krankenkasse mit 50 Prozent eignem
Zuschuß vou selten des Fabrikbesitzers sein; allein sie soll ergänzt werden dnrch
eine allgemeine Unterstütznngs- und Vorschußkasse, eine Sparkasse und anch eine
Familieukrankenkasse. Hier soll nun die Einwirkung des Fabrikbesitzers und mehr
noch die seiner Familie im Sinne der christlichen Earitas mindestens bei beson¬
dern Not- und Erkrauknngsfüllen eintreten. Einer der Redner, eben jener Glnd-
bacher Fabrikbesitzer, welcher bereits eine Mnsternnstalt errichtet hat, betonte
dies ganz besonders. Diese Kassen müßten dem Arbeitgeber ebenso wie dem
Arbeiter geradezu ans Herz wachse« und eigentlich Pflegerassen werden. Es


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[0436] Debatten über die soziale Frage. auf liberaler Seite jener durch den Geheimrnt Engel veranlaßte Versuch, die Arbeiter auf dem Aktienwege (bei der Fabrik von Borchers in Berlin) allmählich zu Fabrikbesitzern zu machen, nicht nur vereinzelt geblieben, sondern sogar gänzlich veruugliickt; während einige andre Versuche (wie z. B. der vou Wertheim in Frankfurt) lediglich zur Reklame benutzt wurden, um dann in aller Stille wieder einzuschlafen. An sich ist jn die Idee, die im „Arbeiterwohl" vertreten wird, sehr schön; ober schwerlich ist es ausreichend. Um einen patriarchalischen, väterlich-brüder¬ lichen Zusammenhang zwischen dem Fabrikbesitzer, sowie dessen Familie und den Arbeitern herbeizuführen, müßte vor allen Dingen die ganze Erziehung der be¬ sitzenden Klassen umgekrempelt werden — in geistiger und formaler Hinsicht. Insbesondre die weibliche Welt — welche intellektuelle und sittliche Nmkrempeluug ihres gegenwärtigen Wesens wäre nötig, um sie fähig zu machen zu der Auf¬ gabe, die hier gestellt ist! Wir fürchten, daß die höheren Erziehungsanstalten katholischer Richtung, die klösterlichen nicht ausgenommen, selbst eine gewaltige Reformation erfahren müßten, um die Frauen und Töchter der katholischen Fabrikbesitzer fähig zu machen zu der Aufgabe, welche ihnen die Idee des Vereins „Arbeiterwohl" stellt. Denn es genügt uicht dieser unendlichen Aufgabe gegeu- über, daß einzelne, die ihr Gemüll vielleicht mehr treibt als ihre Einsicht, die Aufgabe als Herzens- oder auch selbst als Glaubenssache erfasse» — das ist ein Tropfen Wasser ins Meer. Wie weit ist man noch entfernt davon, die Männer von dem Geiste, der unbedingt Voraussetzung der Erstrebung jener Aufgaben ist, zu erfüllen, trotz der vierhundert Fabrikbesitzer, die dem Verein „Arbeiterwohl" an¬ gehören! Wird aber die im stärksten Fluß befindliche soziale Vewegnug sich stauen lasse«, bis jene Umwandlung in Erziehung und Gesinnung sich vollzogen hat? Wir bezweifeln es. Es scheint fast, als liege zugleich eine andre Idee den Bestrebungen des Verbandes „Arbeiterwvhl" zu Grunde — die Idee, die soziale Bewegung zu adonisiren. Diese Idee äußert sich nämlich in einem Statuteuvorschlage, über deu die Sozialpolitiker der Versammlung freilich nicht recht einig werden konnten. Dieser Vorschlag ging dahin, von den größern reichsgesetzlich vorgeschriebenen Unterstützungskassen abzugehen und möglichst für jede Fabrik eine Kasse zu er¬ richten. Diese Kasse soll im Grnnde eine Krankenkasse mit 50 Prozent eignem Zuschuß vou selten des Fabrikbesitzers sein; allein sie soll ergänzt werden dnrch eine allgemeine Unterstütznngs- und Vorschußkasse, eine Sparkasse und anch eine Familieukrankenkasse. Hier soll nun die Einwirkung des Fabrikbesitzers und mehr noch die seiner Familie im Sinne der christlichen Earitas mindestens bei beson¬ dern Not- und Erkrauknngsfüllen eintreten. Einer der Redner, eben jener Glnd- bacher Fabrikbesitzer, welcher bereits eine Mnsternnstalt errichtet hat, betonte dies ganz besonders. Diese Kassen müßten dem Arbeitgeber ebenso wie dem Arbeiter geradezu ans Herz wachse« und eigentlich Pflegerassen werden. Es

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/436>, abgerufen am 29.06.2024.