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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Die Klaviermusik seit Robert Schumann.

tauchen, beweist, daß wir uns in einer Übergangsperiode befinden. Wie einst
aus den mannichfachsten und abweichendste!, Zusammenstellungen nationaler Tänze
sich die Suite herausbildete und als feste Form kanonische Geltung für mehrere
Jahrhunderte erlangte, so wird eines Tages auch unsre Jnstrnmentalkompo-
sition sich für eine einzige Form der cyklischen Darstellung entscheiden und in
ihr eine Zeit laug ausschließlich dichte" und denken. Ob diese jetzt schon er¬
funden ist oder erst noch zu ersinnen ist, muß dahingestellt bleiben. Augenblick¬
lich laufen in der Klaviermusik Sonate und Suite, Variationen und Cyklen
kleinerer Bilder neben einander her. Letztere sind in der Anzahl und Form
der einzelnen Teile ganz abweichend von einander. Gern faßt mau sie durch
einen Titel zusammen. Hier ist nur verwandtes in ein Heft gereiht, wie in
"Wanderbilderu" oder in "Wandlungen," in Loirsss as Vieninz, als ?Stör8-
bourg- ?e. Dort schreitet in den einzelnen Nummern eine Begebenheit vom An¬
fang zum Ende wie in den verschiednen Cyklen, die als Lat <Z08tunnz herausge¬
geben wurde". Ein andres Heft wird Oarimval betitelt, um die neu zugewachsenen
Arten der kunstvoll ausgeführten Tanzweiseu zusammenzufassen. Noch eine andre
Art neuer großer Formen in der Klaviermusik bilden die "Rhapsodien." Vorder¬
hand laßt sich mit der Bezeichnung noch nicht der Begriff einer bestimmten Form
verbinde". Man braucht nur auf die ganz verschiedne Anlage der Rhapsodien
von Brahms und der von Liszt hinzuweisen. Die Anwendung des Wortes auf
Musikstücke finden wir zuerst bei dem von seinen Landsleuten als "Schiller der
Musik" hochgefeierten Prager Komponisten Wenzel Tvmaschek, welcher im Jahre
1812 bei Kühnel (Peters) in Leipzig zwölf Rhapsodien erscheinen ließ, die
von keinem geringeren als F. L. Gerber als "der kühnste Aufschwung einer
feurigen Phantasie, kühn in der Führung und hinreißend durch ihr Leben"
gepriesen wurden. Auch für einige andre Formen hat die neuere Klaviermusik
die Titel aus der Dichtkunst entlehnt. Es sind die Novelletten, Idyllen, Balladen
und Romanze". Auch Dichtungsarten von besondrer Seltenheit hat man, wie
wir sehen werden, der Musik anzupassen gesucht. Der allgemeine Trieb nach
Wachstum und Entwicklung hat zuletzt auch die vo" altersher sanktionirten
Formen der Klaviermusik mit ergriffen. Die liedartigen Form" der Klavier¬
musik ziehen Sonatenelemente an sich, die Tänze werden zu dramatische" Szene".

Was speziell die eben erwähnten neuen Tanzforme" betrifft, so hat in
ihnen unsers Erachtens die moderne Klaviertompvsition eine" rühmliche" Beweis
von Schöpferkraft gegeben. Sie geben in "xtsnso das detttlichste Bild von
den Tendenzen, welche die Jnstrume"talmusik beherrsche", und verraten am we¬
nigsten von deren Schwächen und Mängeln. Man erstaunt immer wieder über
die Fülle geistigen Gehalts, über die Tiefe des Ausdrucks, die Intimität der
Beziehungen, welche unsre besten Klaviervirtuosen in diese Walzer und Mazurken
hineingelegt haben. Auf Grund von Tonweisen, die ursprünglich nur ganz
äußerlichen Zwecken zu dienen bestimmt sind, solche feine, volle Bilder zu ge-


Die Klaviermusik seit Robert Schumann.

tauchen, beweist, daß wir uns in einer Übergangsperiode befinden. Wie einst
aus den mannichfachsten und abweichendste!, Zusammenstellungen nationaler Tänze
sich die Suite herausbildete und als feste Form kanonische Geltung für mehrere
Jahrhunderte erlangte, so wird eines Tages auch unsre Jnstrnmentalkompo-
sition sich für eine einzige Form der cyklischen Darstellung entscheiden und in
ihr eine Zeit laug ausschließlich dichte« und denken. Ob diese jetzt schon er¬
funden ist oder erst noch zu ersinnen ist, muß dahingestellt bleiben. Augenblick¬
lich laufen in der Klaviermusik Sonate und Suite, Variationen und Cyklen
kleinerer Bilder neben einander her. Letztere sind in der Anzahl und Form
der einzelnen Teile ganz abweichend von einander. Gern faßt mau sie durch
einen Titel zusammen. Hier ist nur verwandtes in ein Heft gereiht, wie in
„Wanderbilderu" oder in „Wandlungen," in Loirsss as Vieninz, als ?Stör8-
bourg- ?e. Dort schreitet in den einzelnen Nummern eine Begebenheit vom An¬
fang zum Ende wie in den verschiednen Cyklen, die als Lat <Z08tunnz herausge¬
geben wurde«. Ein andres Heft wird Oarimval betitelt, um die neu zugewachsenen
Arten der kunstvoll ausgeführten Tanzweiseu zusammenzufassen. Noch eine andre
Art neuer großer Formen in der Klaviermusik bilden die „Rhapsodien." Vorder¬
hand laßt sich mit der Bezeichnung noch nicht der Begriff einer bestimmten Form
verbinde«. Man braucht nur auf die ganz verschiedne Anlage der Rhapsodien
von Brahms und der von Liszt hinzuweisen. Die Anwendung des Wortes auf
Musikstücke finden wir zuerst bei dem von seinen Landsleuten als „Schiller der
Musik" hochgefeierten Prager Komponisten Wenzel Tvmaschek, welcher im Jahre
1812 bei Kühnel (Peters) in Leipzig zwölf Rhapsodien erscheinen ließ, die
von keinem geringeren als F. L. Gerber als „der kühnste Aufschwung einer
feurigen Phantasie, kühn in der Führung und hinreißend durch ihr Leben"
gepriesen wurden. Auch für einige andre Formen hat die neuere Klaviermusik
die Titel aus der Dichtkunst entlehnt. Es sind die Novelletten, Idyllen, Balladen
und Romanze«. Auch Dichtungsarten von besondrer Seltenheit hat man, wie
wir sehen werden, der Musik anzupassen gesucht. Der allgemeine Trieb nach
Wachstum und Entwicklung hat zuletzt auch die vo« altersher sanktionirten
Formen der Klaviermusik mit ergriffen. Die liedartigen Form« der Klavier¬
musik ziehen Sonatenelemente an sich, die Tänze werden zu dramatische« Szene«.

Was speziell die eben erwähnten neuen Tanzforme« betrifft, so hat in
ihnen unsers Erachtens die moderne Klaviertompvsition eine« rühmliche« Beweis
von Schöpferkraft gegeben. Sie geben in «xtsnso das detttlichste Bild von
den Tendenzen, welche die Jnstrume«talmusik beherrsche«, und verraten am we¬
nigsten von deren Schwächen und Mängeln. Man erstaunt immer wieder über
die Fülle geistigen Gehalts, über die Tiefe des Ausdrucks, die Intimität der
Beziehungen, welche unsre besten Klaviervirtuosen in diese Walzer und Mazurken
hineingelegt haben. Auf Grund von Tonweisen, die ursprünglich nur ganz
äußerlichen Zwecken zu dienen bestimmt sind, solche feine, volle Bilder zu ge-


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[0036] Die Klaviermusik seit Robert Schumann. tauchen, beweist, daß wir uns in einer Übergangsperiode befinden. Wie einst aus den mannichfachsten und abweichendste!, Zusammenstellungen nationaler Tänze sich die Suite herausbildete und als feste Form kanonische Geltung für mehrere Jahrhunderte erlangte, so wird eines Tages auch unsre Jnstrnmentalkompo- sition sich für eine einzige Form der cyklischen Darstellung entscheiden und in ihr eine Zeit laug ausschließlich dichte« und denken. Ob diese jetzt schon er¬ funden ist oder erst noch zu ersinnen ist, muß dahingestellt bleiben. Augenblick¬ lich laufen in der Klaviermusik Sonate und Suite, Variationen und Cyklen kleinerer Bilder neben einander her. Letztere sind in der Anzahl und Form der einzelnen Teile ganz abweichend von einander. Gern faßt mau sie durch einen Titel zusammen. Hier ist nur verwandtes in ein Heft gereiht, wie in „Wanderbilderu" oder in „Wandlungen," in Loirsss as Vieninz, als ?Stör8- bourg- ?e. Dort schreitet in den einzelnen Nummern eine Begebenheit vom An¬ fang zum Ende wie in den verschiednen Cyklen, die als Lat <Z08tunnz herausge¬ geben wurde«. Ein andres Heft wird Oarimval betitelt, um die neu zugewachsenen Arten der kunstvoll ausgeführten Tanzweiseu zusammenzufassen. Noch eine andre Art neuer großer Formen in der Klaviermusik bilden die „Rhapsodien." Vorder¬ hand laßt sich mit der Bezeichnung noch nicht der Begriff einer bestimmten Form verbinde«. Man braucht nur auf die ganz verschiedne Anlage der Rhapsodien von Brahms und der von Liszt hinzuweisen. Die Anwendung des Wortes auf Musikstücke finden wir zuerst bei dem von seinen Landsleuten als „Schiller der Musik" hochgefeierten Prager Komponisten Wenzel Tvmaschek, welcher im Jahre 1812 bei Kühnel (Peters) in Leipzig zwölf Rhapsodien erscheinen ließ, die von keinem geringeren als F. L. Gerber als „der kühnste Aufschwung einer feurigen Phantasie, kühn in der Führung und hinreißend durch ihr Leben" gepriesen wurden. Auch für einige andre Formen hat die neuere Klaviermusik die Titel aus der Dichtkunst entlehnt. Es sind die Novelletten, Idyllen, Balladen und Romanze«. Auch Dichtungsarten von besondrer Seltenheit hat man, wie wir sehen werden, der Musik anzupassen gesucht. Der allgemeine Trieb nach Wachstum und Entwicklung hat zuletzt auch die vo« altersher sanktionirten Formen der Klaviermusik mit ergriffen. Die liedartigen Form« der Klavier¬ musik ziehen Sonatenelemente an sich, die Tänze werden zu dramatische« Szene«. Was speziell die eben erwähnten neuen Tanzforme« betrifft, so hat in ihnen unsers Erachtens die moderne Klaviertompvsition eine« rühmliche« Beweis von Schöpferkraft gegeben. Sie geben in «xtsnso das detttlichste Bild von den Tendenzen, welche die Jnstrume«talmusik beherrsche«, und verraten am we¬ nigsten von deren Schwächen und Mängeln. Man erstaunt immer wieder über die Fülle geistigen Gehalts, über die Tiefe des Ausdrucks, die Intimität der Beziehungen, welche unsre besten Klaviervirtuosen in diese Walzer und Mazurken hineingelegt haben. Auf Grund von Tonweisen, die ursprünglich nur ganz äußerlichen Zwecken zu dienen bestimmt sind, solche feine, volle Bilder zu ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/36>, abgerufen am 29.06.2024.