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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Die Klaviermusik seit Robert Schumann.

solcher hellblauen Kritiken endlich zustande gekommen, so sammeln sie die Verleger
eilig, versenden sie sogar an gute Musiker und verkünden mit Emphase, daß in
Herrn M. O. oder in Herrn W. K. ein "ungewöhnliches Talent" aufgetaucht
sei, welches keime" zu lernen Pflicht der musikalischen Kreise sei n. s. w. Die
von Schumann gegründete "Neue Zeitschrift für Musik" hatte etliche Jahre hin¬
durch eine Rubrik "Fabrikarbeit und Modeartikel" eingerichtet, in welcher ledig¬
lich die Titel der Stücke und die Namen ihrer Komponisten angeführt wurden.
Die Idee eines solchen Index verdiente wieder aufgenommen zu werdeu. Aus
alter und ans neuer Zeit liegt eine größere Fülle guter Klavierkompositiouen
vor, als ein einzelner Mensch nur durchstudiren kann. Wir haben daher ein
Recht und eine Pflicht, von denen, welche neues hinzutragen wollen, zu verlangen,
daß sie ein starkes und wenigstens ein eigentümliches Talent besitzen. Wenn wir
hingegen fortfahren, diejenigen gute" Leute, welche uus Mendelssvhnsche und
Schumannsche Erfindungen im siebenten Aufguß und Reminiscenzen andrer Ab¬
kunft als ihre eignen neuen Klavierstücke auftischen, als wirkliche Komponisten
zu behandeln, so fördern wir nur die allgemeine Verflachung des Geschmackes.

Auch auf dem Gebiete der neuern Klaviersonate stoßen wir auf mangel¬
hafte und matte Leistungen genug. Namentlich sind es die Preissonaten der
letzten drei Dezennien, die harte Enttäuschungen bereiten. Im ganzen aber
werden im Verhältnis zu der Produktion in den kleinern Formen der Klavier¬
stücke so wenig Sonaten geschrieben, daß drei bis vier Treffer bereits die Phy¬
siognomie der Gattung entscheiden. Und solcher Treffer können wir etliche auf¬
zählen. An die Sonate wagen sich doch nur Musiker von strengerer Schulung,
einer Schulung, welche einen Teil des Talentes entweder ersetzt oder bildet.
Die halben lind ganzen Dilettanten, welche nnter den Klavierkomponisten von
heute die Majorität bilden, gehen in der Regel der Sonate ans dem Wege.
Höchstens versuchen sie es mit einer kleinen Suite.

Seitdem die öffentliche Mnsilpflege den Schützen der vergangnen Jahr¬
hunderte sich wieder zugewendet hat, ist die Suite von den neueren Jnstrnmental-
kvmponisten wieder aufgenommen worden. Wie im Orchester, erscheint sie jetzt
auch nicht selten in der Klaviermusik. Dieser Umstand beweist, daß über der
zeitweiligen Vorliebe für die kleinen, einzelnen Stücke, für das Genrehafte, der
Sinn für große, künstlerische Gebilde von einem weitern Zusammenhang nicht
erloschen ist. und daß der Phantasie außer dem Vergnügen an kleinen Aus¬
zügen immer noch das Streben innewohnt. große Strecken zu durchmessen. die
in mehrfachen Stationen zurückgelegt werden müssen.

Augenscheinlich sucht aber unsre heutige Jnstrumentalkomposition mich einer
neuen Art dieser größeren Formen. Wie auf dem Gebiete der Orchestermusik
das neunzehnte Jahrhundert verschiedne Versuche gezeitigt hat. von denen keine
allgemeine Zustimmung erfahren, so zeigt auch die neuere Klavierkomposition
mancherlei Ansätze zu großen Neubildungen. Daß mehrere nebeneinander auf-


Die Klaviermusik seit Robert Schumann.

solcher hellblauen Kritiken endlich zustande gekommen, so sammeln sie die Verleger
eilig, versenden sie sogar an gute Musiker und verkünden mit Emphase, daß in
Herrn M. O. oder in Herrn W. K. ein „ungewöhnliches Talent" aufgetaucht
sei, welches keime» zu lernen Pflicht der musikalischen Kreise sei n. s. w. Die
von Schumann gegründete „Neue Zeitschrift für Musik" hatte etliche Jahre hin¬
durch eine Rubrik „Fabrikarbeit und Modeartikel" eingerichtet, in welcher ledig¬
lich die Titel der Stücke und die Namen ihrer Komponisten angeführt wurden.
Die Idee eines solchen Index verdiente wieder aufgenommen zu werdeu. Aus
alter und ans neuer Zeit liegt eine größere Fülle guter Klavierkompositiouen
vor, als ein einzelner Mensch nur durchstudiren kann. Wir haben daher ein
Recht und eine Pflicht, von denen, welche neues hinzutragen wollen, zu verlangen,
daß sie ein starkes und wenigstens ein eigentümliches Talent besitzen. Wenn wir
hingegen fortfahren, diejenigen gute» Leute, welche uus Mendelssvhnsche und
Schumannsche Erfindungen im siebenten Aufguß und Reminiscenzen andrer Ab¬
kunft als ihre eignen neuen Klavierstücke auftischen, als wirkliche Komponisten
zu behandeln, so fördern wir nur die allgemeine Verflachung des Geschmackes.

Auch auf dem Gebiete der neuern Klaviersonate stoßen wir auf mangel¬
hafte und matte Leistungen genug. Namentlich sind es die Preissonaten der
letzten drei Dezennien, die harte Enttäuschungen bereiten. Im ganzen aber
werden im Verhältnis zu der Produktion in den kleinern Formen der Klavier¬
stücke so wenig Sonaten geschrieben, daß drei bis vier Treffer bereits die Phy¬
siognomie der Gattung entscheiden. Und solcher Treffer können wir etliche auf¬
zählen. An die Sonate wagen sich doch nur Musiker von strengerer Schulung,
einer Schulung, welche einen Teil des Talentes entweder ersetzt oder bildet.
Die halben lind ganzen Dilettanten, welche nnter den Klavierkomponisten von
heute die Majorität bilden, gehen in der Regel der Sonate ans dem Wege.
Höchstens versuchen sie es mit einer kleinen Suite.

Seitdem die öffentliche Mnsilpflege den Schützen der vergangnen Jahr¬
hunderte sich wieder zugewendet hat, ist die Suite von den neueren Jnstrnmental-
kvmponisten wieder aufgenommen worden. Wie im Orchester, erscheint sie jetzt
auch nicht selten in der Klaviermusik. Dieser Umstand beweist, daß über der
zeitweiligen Vorliebe für die kleinen, einzelnen Stücke, für das Genrehafte, der
Sinn für große, künstlerische Gebilde von einem weitern Zusammenhang nicht
erloschen ist. und daß der Phantasie außer dem Vergnügen an kleinen Aus¬
zügen immer noch das Streben innewohnt. große Strecken zu durchmessen. die
in mehrfachen Stationen zurückgelegt werden müssen.

Augenscheinlich sucht aber unsre heutige Jnstrumentalkomposition mich einer
neuen Art dieser größeren Formen. Wie auf dem Gebiete der Orchestermusik
das neunzehnte Jahrhundert verschiedne Versuche gezeitigt hat. von denen keine
allgemeine Zustimmung erfahren, so zeigt auch die neuere Klavierkomposition
mancherlei Ansätze zu großen Neubildungen. Daß mehrere nebeneinander auf-


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[0035] Die Klaviermusik seit Robert Schumann. solcher hellblauen Kritiken endlich zustande gekommen, so sammeln sie die Verleger eilig, versenden sie sogar an gute Musiker und verkünden mit Emphase, daß in Herrn M. O. oder in Herrn W. K. ein „ungewöhnliches Talent" aufgetaucht sei, welches keime» zu lernen Pflicht der musikalischen Kreise sei n. s. w. Die von Schumann gegründete „Neue Zeitschrift für Musik" hatte etliche Jahre hin¬ durch eine Rubrik „Fabrikarbeit und Modeartikel" eingerichtet, in welcher ledig¬ lich die Titel der Stücke und die Namen ihrer Komponisten angeführt wurden. Die Idee eines solchen Index verdiente wieder aufgenommen zu werdeu. Aus alter und ans neuer Zeit liegt eine größere Fülle guter Klavierkompositiouen vor, als ein einzelner Mensch nur durchstudiren kann. Wir haben daher ein Recht und eine Pflicht, von denen, welche neues hinzutragen wollen, zu verlangen, daß sie ein starkes und wenigstens ein eigentümliches Talent besitzen. Wenn wir hingegen fortfahren, diejenigen gute» Leute, welche uus Mendelssvhnsche und Schumannsche Erfindungen im siebenten Aufguß und Reminiscenzen andrer Ab¬ kunft als ihre eignen neuen Klavierstücke auftischen, als wirkliche Komponisten zu behandeln, so fördern wir nur die allgemeine Verflachung des Geschmackes. Auch auf dem Gebiete der neuern Klaviersonate stoßen wir auf mangel¬ hafte und matte Leistungen genug. Namentlich sind es die Preissonaten der letzten drei Dezennien, die harte Enttäuschungen bereiten. Im ganzen aber werden im Verhältnis zu der Produktion in den kleinern Formen der Klavier¬ stücke so wenig Sonaten geschrieben, daß drei bis vier Treffer bereits die Phy¬ siognomie der Gattung entscheiden. Und solcher Treffer können wir etliche auf¬ zählen. An die Sonate wagen sich doch nur Musiker von strengerer Schulung, einer Schulung, welche einen Teil des Talentes entweder ersetzt oder bildet. Die halben lind ganzen Dilettanten, welche nnter den Klavierkomponisten von heute die Majorität bilden, gehen in der Regel der Sonate ans dem Wege. Höchstens versuchen sie es mit einer kleinen Suite. Seitdem die öffentliche Mnsilpflege den Schützen der vergangnen Jahr¬ hunderte sich wieder zugewendet hat, ist die Suite von den neueren Jnstrnmental- kvmponisten wieder aufgenommen worden. Wie im Orchester, erscheint sie jetzt auch nicht selten in der Klaviermusik. Dieser Umstand beweist, daß über der zeitweiligen Vorliebe für die kleinen, einzelnen Stücke, für das Genrehafte, der Sinn für große, künstlerische Gebilde von einem weitern Zusammenhang nicht erloschen ist. und daß der Phantasie außer dem Vergnügen an kleinen Aus¬ zügen immer noch das Streben innewohnt. große Strecken zu durchmessen. die in mehrfachen Stationen zurückgelegt werden müssen. Augenscheinlich sucht aber unsre heutige Jnstrumentalkomposition mich einer neuen Art dieser größeren Formen. Wie auf dem Gebiete der Orchestermusik das neunzehnte Jahrhundert verschiedne Versuche gezeitigt hat. von denen keine allgemeine Zustimmung erfahren, so zeigt auch die neuere Klavierkomposition mancherlei Ansätze zu großen Neubildungen. Daß mehrere nebeneinander auf-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/35>, abgerufen am 25.08.2024.