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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Zum Monismus.

schienen. Die Entstehung des organischen und des bewußten Lebens mußte
umso unverständlicher bleiben, als die auf organischem Gebiet herrschende mecha¬
nische Theorie der Atombewegung das zwcckvvlle Füreinander der Teile eines
Organismus nicht befriedigend zu erklären vermochte. Konnte nun hier gleich¬
wohl die Lösung des Rätsels in einer eigenartigen und unendlich zusammenge¬
setzten Form der Bewegung wenigstens -- wenn auch vielleicht umsonst -- ge¬
sucht werden, so blieb es bei der Untersuchung des Bewußtseins ganz unerklärlich,
wie aus der komplizirtesten Bewegung im Runen auch nur die einfachsten That¬
sachen des Bewußtseins, die raumlvsen Empfindungen, hervorgehen sollten. Der
naive Materialismus kam einem geschulteren Denken gegenüber nicht in Betracht.
Wollte man die Kontinuität der Naturentwicklung festhalten, so mußte man die
hergebrachten Ansichten über das Wesen der Materie ändern; man fand den
bequemen Ausweg, Empfindung zu einer allgemeinen Eigenschaft der Materie
zu machen, schob sie so in das bekannte Innere der Natur, in das kein er-
schaffner Geist dringt, und befand sich bei diesen: Hieb durch den gordischen
Knoten plötzlich auf einem der abstraktesten Gebiete der Philosophie, auf dem
der Metaphysik.

Die große Bestimmtheit und Einfachheit dieser Anschauung sollte allen ein¬
schlügigen Untersuchungen zum Muster dienen. Freilich ist es sehr die Frage,
ob sich aus Milliarden empfindender Atome jemals ein einheitliches Bewußtsein
wird herleiten lassen, ob nicht vielmehr der metaphysische Gedanke, der dieser
Ansicht zu Gründe liegt, früher oder später zu einer transcendentalen Gestaltung
der Materie führen wird. Znncichst gilt es jedenfalls, die erkenntnistheoretische
Frage: Wie entsteht Empfindung, die den Kern jeder monistischen Welt¬
anschauung bildet, von allen Schleiern und Mäntelchen frei zu halten, die ihr
von unentschlossenem Denken so gern umgehängt werden; es gilt, sie den halben
Beantwortungen zu entrücken, die nichts als entschiedne Verdunkelung des Rät¬
sels bedeuten. Oder was ist es anders, wenn wieder einmal, und noch dazu
in einer recht kurz gefaßten Broschüre (Die monistische Erkenntnislehre,
physiologisch begründet von Dr. nivä. A. Mayer. Leipzig, Theodor Thomas,
1832) die seelischen Phänomene als Funktionen der den betreffenden Organen
eigentümlichen Energien aufgefaßt, diese aber weder als identisch mit chemisch¬
physikalischen Kräften, uoch als etwas von diesen wesentlich verschiednes bezeichnet
werden? Der Verfasser hat bereits früher wiederholt gegen M. Carriere und
W. Wundt polemisirt, die er beide eines unwissenschaftlichen Dualismus zeiht;
er hält mit seiner Polemik auch diesmal nicht zurück. Nur daß er selbst, wie
in den folgenden Zeilen gezeigt werden soll, sich zwischen die zwei Feuer des
Dualismus und des Materialismus setzt und obendrein, statt eine wissenschaft¬
liche Darlegung seines Standpunktes zu geben, nnr die Anfangsgründe aus der
Physiologie der Sinnesorgane und diese in logisch sehr anfechtbarer Form re-
produzirt.


Zum Monismus.

schienen. Die Entstehung des organischen und des bewußten Lebens mußte
umso unverständlicher bleiben, als die auf organischem Gebiet herrschende mecha¬
nische Theorie der Atombewegung das zwcckvvlle Füreinander der Teile eines
Organismus nicht befriedigend zu erklären vermochte. Konnte nun hier gleich¬
wohl die Lösung des Rätsels in einer eigenartigen und unendlich zusammenge¬
setzten Form der Bewegung wenigstens — wenn auch vielleicht umsonst — ge¬
sucht werden, so blieb es bei der Untersuchung des Bewußtseins ganz unerklärlich,
wie aus der komplizirtesten Bewegung im Runen auch nur die einfachsten That¬
sachen des Bewußtseins, die raumlvsen Empfindungen, hervorgehen sollten. Der
naive Materialismus kam einem geschulteren Denken gegenüber nicht in Betracht.
Wollte man die Kontinuität der Naturentwicklung festhalten, so mußte man die
hergebrachten Ansichten über das Wesen der Materie ändern; man fand den
bequemen Ausweg, Empfindung zu einer allgemeinen Eigenschaft der Materie
zu machen, schob sie so in das bekannte Innere der Natur, in das kein er-
schaffner Geist dringt, und befand sich bei diesen: Hieb durch den gordischen
Knoten plötzlich auf einem der abstraktesten Gebiete der Philosophie, auf dem
der Metaphysik.

Die große Bestimmtheit und Einfachheit dieser Anschauung sollte allen ein¬
schlügigen Untersuchungen zum Muster dienen. Freilich ist es sehr die Frage,
ob sich aus Milliarden empfindender Atome jemals ein einheitliches Bewußtsein
wird herleiten lassen, ob nicht vielmehr der metaphysische Gedanke, der dieser
Ansicht zu Gründe liegt, früher oder später zu einer transcendentalen Gestaltung
der Materie führen wird. Znncichst gilt es jedenfalls, die erkenntnistheoretische
Frage: Wie entsteht Empfindung, die den Kern jeder monistischen Welt¬
anschauung bildet, von allen Schleiern und Mäntelchen frei zu halten, die ihr
von unentschlossenem Denken so gern umgehängt werden; es gilt, sie den halben
Beantwortungen zu entrücken, die nichts als entschiedne Verdunkelung des Rät¬
sels bedeuten. Oder was ist es anders, wenn wieder einmal, und noch dazu
in einer recht kurz gefaßten Broschüre (Die monistische Erkenntnislehre,
physiologisch begründet von Dr. nivä. A. Mayer. Leipzig, Theodor Thomas,
1832) die seelischen Phänomene als Funktionen der den betreffenden Organen
eigentümlichen Energien aufgefaßt, diese aber weder als identisch mit chemisch¬
physikalischen Kräften, uoch als etwas von diesen wesentlich verschiednes bezeichnet
werden? Der Verfasser hat bereits früher wiederholt gegen M. Carriere und
W. Wundt polemisirt, die er beide eines unwissenschaftlichen Dualismus zeiht;
er hält mit seiner Polemik auch diesmal nicht zurück. Nur daß er selbst, wie
in den folgenden Zeilen gezeigt werden soll, sich zwischen die zwei Feuer des
Dualismus und des Materialismus setzt und obendrein, statt eine wissenschaft¬
liche Darlegung seines Standpunktes zu geben, nnr die Anfangsgründe aus der
Physiologie der Sinnesorgane und diese in logisch sehr anfechtbarer Form re-
produzirt.


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[0268] Zum Monismus. schienen. Die Entstehung des organischen und des bewußten Lebens mußte umso unverständlicher bleiben, als die auf organischem Gebiet herrschende mecha¬ nische Theorie der Atombewegung das zwcckvvlle Füreinander der Teile eines Organismus nicht befriedigend zu erklären vermochte. Konnte nun hier gleich¬ wohl die Lösung des Rätsels in einer eigenartigen und unendlich zusammenge¬ setzten Form der Bewegung wenigstens — wenn auch vielleicht umsonst — ge¬ sucht werden, so blieb es bei der Untersuchung des Bewußtseins ganz unerklärlich, wie aus der komplizirtesten Bewegung im Runen auch nur die einfachsten That¬ sachen des Bewußtseins, die raumlvsen Empfindungen, hervorgehen sollten. Der naive Materialismus kam einem geschulteren Denken gegenüber nicht in Betracht. Wollte man die Kontinuität der Naturentwicklung festhalten, so mußte man die hergebrachten Ansichten über das Wesen der Materie ändern; man fand den bequemen Ausweg, Empfindung zu einer allgemeinen Eigenschaft der Materie zu machen, schob sie so in das bekannte Innere der Natur, in das kein er- schaffner Geist dringt, und befand sich bei diesen: Hieb durch den gordischen Knoten plötzlich auf einem der abstraktesten Gebiete der Philosophie, auf dem der Metaphysik. Die große Bestimmtheit und Einfachheit dieser Anschauung sollte allen ein¬ schlügigen Untersuchungen zum Muster dienen. Freilich ist es sehr die Frage, ob sich aus Milliarden empfindender Atome jemals ein einheitliches Bewußtsein wird herleiten lassen, ob nicht vielmehr der metaphysische Gedanke, der dieser Ansicht zu Gründe liegt, früher oder später zu einer transcendentalen Gestaltung der Materie führen wird. Znncichst gilt es jedenfalls, die erkenntnistheoretische Frage: Wie entsteht Empfindung, die den Kern jeder monistischen Welt¬ anschauung bildet, von allen Schleiern und Mäntelchen frei zu halten, die ihr von unentschlossenem Denken so gern umgehängt werden; es gilt, sie den halben Beantwortungen zu entrücken, die nichts als entschiedne Verdunkelung des Rät¬ sels bedeuten. Oder was ist es anders, wenn wieder einmal, und noch dazu in einer recht kurz gefaßten Broschüre (Die monistische Erkenntnislehre, physiologisch begründet von Dr. nivä. A. Mayer. Leipzig, Theodor Thomas, 1832) die seelischen Phänomene als Funktionen der den betreffenden Organen eigentümlichen Energien aufgefaßt, diese aber weder als identisch mit chemisch¬ physikalischen Kräften, uoch als etwas von diesen wesentlich verschiednes bezeichnet werden? Der Verfasser hat bereits früher wiederholt gegen M. Carriere und W. Wundt polemisirt, die er beide eines unwissenschaftlichen Dualismus zeiht; er hält mit seiner Polemik auch diesmal nicht zurück. Nur daß er selbst, wie in den folgenden Zeilen gezeigt werden soll, sich zwischen die zwei Feuer des Dualismus und des Materialismus setzt und obendrein, statt eine wissenschaft¬ liche Darlegung seines Standpunktes zu geben, nnr die Anfangsgründe aus der Physiologie der Sinnesorgane und diese in logisch sehr anfechtbarer Form re- produzirt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/268>, abgerufen am 28.09.2024.