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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

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politische Briefe.

in Mehrheit das Reich aufbringt, und ans einem wirklichen Teil, den die Finanz-
Verwaltungen der Einzelstaaten aufbringen müssen. Auch durch diese Verwirrung
wird der Fortgang der Steuerreform geschädigt, weil die öffentliche Meinung
immer erst auszurechnen hat, wieviel wirkliche Matrikularbeiträge die Staaten
aufbringen müssen. Dadurch wird die Erkenntnis verdunkelt und folglich ihrer
praktischen Wirkung beraubt, welche Mittel das Reich noch nötig hätte, um
wenigstens ganz auf eiguen Füßen zu stehen.

Die dritte und einflußreichste Ursache, welche die Steuerreform zum Stocken
gebracht hat, ist uun aber die Verblendung der Parteien. Merkwürdigerweise
nehmen an dieser Verblendung, die nur zum Teil eine unfreiwillige ist, gleich¬
mäßig Teil das Zentrum, die Konservativen und die Liberalen. Das merk¬
würdigste aber ist der Umstand, daß die Verblendung dieser Parteien sich gleich¬
mäßig beruft auf die Hauptrede, welche der Reichskanzler am 2. Mai 1879 bei der
ersten Beratung der Tarifvorlagen gehalten hat. In dieser Rede entwickelte er
das ganze Ziel der Steuerreform, wie es ihm vorschwebte. Diese Rede erreicht den
absoluten Grad der Deutlichkeit, dessen überhaupt die menschliche Sprache fähig
ist, und diese Rede wird von den Parteien an allen Hauptpunkten in ihr Gegen¬
teil verkehrt, und ans ihren Gedanken wird der Block geschmiedet, den man dem
Fortgang der Steuerreform entgegenwirft. Ein schreiender Beweis der alten
Erfahrung, daß wenn man den Menschen mit Donnerstimme zuruft: "Weiß!"
und es ist ihnen Bedürfnis etwas anderes hören, sie wirklich davon gehen und
behaupten: Wir haben "Schwarz!" gehört.

An drei Punkten ist die Rede in ihr Gegenteil verkehrt worden.

Zuerst wirft mau dem Kanzler vor, er habe ein Ziel von maßlosem Um¬
fang beschrieben. Aber die Parteien hatten ja immer verlangt, das äußerste
Ziel kennen zu lernen, hatten protestirt, daß man sie blind vorwärts einem un-
bekannten Ziel entgegenführen wolle. Der Kanzler hatte sein Ziel nicht als das
Ziel von heute oder morgen dargestellt. Nicht für das äußerste Ziel verlangte
er die sofortigen Mittel. Er hat dies immer und immer wieder gesagt. Er
verlangte nur die Mittel, welche der wirtschaftliche Organismus jetzt abgeben
kann, für deren Herbeischaffung und Ersatz er jetzt geschult werden kann. Den
Aufgaben, welche der Staat und das Reich ins Auge zu fasse" haben, wollte
der Kanzler uur näher treten je nach der natürlichen Vermehrung der aus dem
wirtschaftlichen Organismus jetzt auf lauge Zeit zum Staatsverbrauch zu ver¬
langenden Früchte.

Der zweite Punkt, an dem die Rede in ihr Gegenteil verkehrt worden,
steht in geradem Widerspruch mit dem ersten, sodaß es schier unmöglich sein
sollte, aus einem und demselben Munde die erste und die zweite Auffassung
der Rede zu vernehmen. Aber sie läßt sich vernehmen aus einem und demselben
Munde. Nach der zweiten Auffassung wird behauptet, der Kanzler habe erklärt,
keine Vermehrung der bisherigen Reichs- und Staatseinnahmen zu erstreben,


politische Briefe.

in Mehrheit das Reich aufbringt, und ans einem wirklichen Teil, den die Finanz-
Verwaltungen der Einzelstaaten aufbringen müssen. Auch durch diese Verwirrung
wird der Fortgang der Steuerreform geschädigt, weil die öffentliche Meinung
immer erst auszurechnen hat, wieviel wirkliche Matrikularbeiträge die Staaten
aufbringen müssen. Dadurch wird die Erkenntnis verdunkelt und folglich ihrer
praktischen Wirkung beraubt, welche Mittel das Reich noch nötig hätte, um
wenigstens ganz auf eiguen Füßen zu stehen.

Die dritte und einflußreichste Ursache, welche die Steuerreform zum Stocken
gebracht hat, ist uun aber die Verblendung der Parteien. Merkwürdigerweise
nehmen an dieser Verblendung, die nur zum Teil eine unfreiwillige ist, gleich¬
mäßig Teil das Zentrum, die Konservativen und die Liberalen. Das merk¬
würdigste aber ist der Umstand, daß die Verblendung dieser Parteien sich gleich¬
mäßig beruft auf die Hauptrede, welche der Reichskanzler am 2. Mai 1879 bei der
ersten Beratung der Tarifvorlagen gehalten hat. In dieser Rede entwickelte er
das ganze Ziel der Steuerreform, wie es ihm vorschwebte. Diese Rede erreicht den
absoluten Grad der Deutlichkeit, dessen überhaupt die menschliche Sprache fähig
ist, und diese Rede wird von den Parteien an allen Hauptpunkten in ihr Gegen¬
teil verkehrt, und ans ihren Gedanken wird der Block geschmiedet, den man dem
Fortgang der Steuerreform entgegenwirft. Ein schreiender Beweis der alten
Erfahrung, daß wenn man den Menschen mit Donnerstimme zuruft: „Weiß!"
und es ist ihnen Bedürfnis etwas anderes hören, sie wirklich davon gehen und
behaupten: Wir haben „Schwarz!" gehört.

An drei Punkten ist die Rede in ihr Gegenteil verkehrt worden.

Zuerst wirft mau dem Kanzler vor, er habe ein Ziel von maßlosem Um¬
fang beschrieben. Aber die Parteien hatten ja immer verlangt, das äußerste
Ziel kennen zu lernen, hatten protestirt, daß man sie blind vorwärts einem un-
bekannten Ziel entgegenführen wolle. Der Kanzler hatte sein Ziel nicht als das
Ziel von heute oder morgen dargestellt. Nicht für das äußerste Ziel verlangte
er die sofortigen Mittel. Er hat dies immer und immer wieder gesagt. Er
verlangte nur die Mittel, welche der wirtschaftliche Organismus jetzt abgeben
kann, für deren Herbeischaffung und Ersatz er jetzt geschult werden kann. Den
Aufgaben, welche der Staat und das Reich ins Auge zu fasse« haben, wollte
der Kanzler uur näher treten je nach der natürlichen Vermehrung der aus dem
wirtschaftlichen Organismus jetzt auf lauge Zeit zum Staatsverbrauch zu ver¬
langenden Früchte.

Der zweite Punkt, an dem die Rede in ihr Gegenteil verkehrt worden,
steht in geradem Widerspruch mit dem ersten, sodaß es schier unmöglich sein
sollte, aus einem und demselben Munde die erste und die zweite Auffassung
der Rede zu vernehmen. Aber sie läßt sich vernehmen aus einem und demselben
Munde. Nach der zweiten Auffassung wird behauptet, der Kanzler habe erklärt,
keine Vermehrung der bisherigen Reichs- und Staatseinnahmen zu erstreben,


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[0626] politische Briefe. in Mehrheit das Reich aufbringt, und ans einem wirklichen Teil, den die Finanz- Verwaltungen der Einzelstaaten aufbringen müssen. Auch durch diese Verwirrung wird der Fortgang der Steuerreform geschädigt, weil die öffentliche Meinung immer erst auszurechnen hat, wieviel wirkliche Matrikularbeiträge die Staaten aufbringen müssen. Dadurch wird die Erkenntnis verdunkelt und folglich ihrer praktischen Wirkung beraubt, welche Mittel das Reich noch nötig hätte, um wenigstens ganz auf eiguen Füßen zu stehen. Die dritte und einflußreichste Ursache, welche die Steuerreform zum Stocken gebracht hat, ist uun aber die Verblendung der Parteien. Merkwürdigerweise nehmen an dieser Verblendung, die nur zum Teil eine unfreiwillige ist, gleich¬ mäßig Teil das Zentrum, die Konservativen und die Liberalen. Das merk¬ würdigste aber ist der Umstand, daß die Verblendung dieser Parteien sich gleich¬ mäßig beruft auf die Hauptrede, welche der Reichskanzler am 2. Mai 1879 bei der ersten Beratung der Tarifvorlagen gehalten hat. In dieser Rede entwickelte er das ganze Ziel der Steuerreform, wie es ihm vorschwebte. Diese Rede erreicht den absoluten Grad der Deutlichkeit, dessen überhaupt die menschliche Sprache fähig ist, und diese Rede wird von den Parteien an allen Hauptpunkten in ihr Gegen¬ teil verkehrt, und ans ihren Gedanken wird der Block geschmiedet, den man dem Fortgang der Steuerreform entgegenwirft. Ein schreiender Beweis der alten Erfahrung, daß wenn man den Menschen mit Donnerstimme zuruft: „Weiß!" und es ist ihnen Bedürfnis etwas anderes hören, sie wirklich davon gehen und behaupten: Wir haben „Schwarz!" gehört. An drei Punkten ist die Rede in ihr Gegenteil verkehrt worden. Zuerst wirft mau dem Kanzler vor, er habe ein Ziel von maßlosem Um¬ fang beschrieben. Aber die Parteien hatten ja immer verlangt, das äußerste Ziel kennen zu lernen, hatten protestirt, daß man sie blind vorwärts einem un- bekannten Ziel entgegenführen wolle. Der Kanzler hatte sein Ziel nicht als das Ziel von heute oder morgen dargestellt. Nicht für das äußerste Ziel verlangte er die sofortigen Mittel. Er hat dies immer und immer wieder gesagt. Er verlangte nur die Mittel, welche der wirtschaftliche Organismus jetzt abgeben kann, für deren Herbeischaffung und Ersatz er jetzt geschult werden kann. Den Aufgaben, welche der Staat und das Reich ins Auge zu fasse« haben, wollte der Kanzler uur näher treten je nach der natürlichen Vermehrung der aus dem wirtschaftlichen Organismus jetzt auf lauge Zeit zum Staatsverbrauch zu ver¬ langenden Früchte. Der zweite Punkt, an dem die Rede in ihr Gegenteil verkehrt worden, steht in geradem Widerspruch mit dem ersten, sodaß es schier unmöglich sein sollte, aus einem und demselben Munde die erste und die zweite Auffassung der Rede zu vernehmen. Aber sie läßt sich vernehmen aus einem und demselben Munde. Nach der zweiten Auffassung wird behauptet, der Kanzler habe erklärt, keine Vermehrung der bisherigen Reichs- und Staatseinnahmen zu erstreben,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/626>, abgerufen am 25.08.2024.