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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

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so einrichten könnte, ihn zu verfehlen. Sie las das siebente Kapitel des Lukas,
wie der Herr den Knecht des römischen Hauptmanns heilte, "den er wert hielt,"
und bemerkte, daß er den Mann nicht tadelte, weil er seinen Sklaven liebte;
ferner wie der Heiland Mitleid hatte mit der armen Witwe, die an der Bahre
ihres einzigen Sohnes weinte, und wie er ihn ins Leben zurückbrachte und "ihn
seiner Mutter gab." Das schien doch uicht der Christus zu sein, den Cyuthy
Ann sich als den Feind jeder menschlichen Neigung vorstellte. Sie las mehr,
was sie nicht so recht verstehen konnte, und dann am Ende des Kapitels stieß
sie auf das Weib, das eine Sünderin war und seine Füße mit Thränen der
Dankbarkeit wusch und sie mit den Haaren ihres Hauptes trocknete. Und es
war ihr, als ob die Schuld des Weibes ihr die Gelegenheit zur Vergebung
ihrer Sünden verschafft habe und den Segen: gehe hin in Frieden.

Endlich stieß sie, indem sie die Blätter ohne bestimmten Zweck umwendete,
auf eine Stelle bei Matthäus, wo drei Verse am Ende eines Kapitels zufällig
den Anfang einer Spalte bildeten. Ich vermute, sie las sie, weil der Beginn
der Seite und das Ende des Kapitels sie als ein kurzes Stück für sich erscheine!?
ließen. Und sie verschmolzen in ihr Gemüt so, daß es ihr war, als ob sie
Christus und Gott zum erstenmale recht erkannte. "Kommt zu mir alle, die
ihr mühselig lind beladen seid," las sie und hielt inne. Das geht auf mich,
dachte sie mit einem Herzen, das zerspringen wollte. Und diese Rede ist die
Thür zum seligen Leben. Wenn die Verheißungen und Borschristen mich meinen,
so bin ich gerettet. Julia las weiter: "Und ich will euch erquicken." Und so
trank sie die Stelle Satz fiir Satz in sich hinein, bis sie ans Ende kam, wo
es heißt: "Mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht," und jetzt erschien
ihr Gott so ganz und gar anders. Und sie betete für August; denn jetzt schienen
die beiden Lieben, die Liebe zu August und die Liebe zu Christus, einander in
keiner Weise mehr auszuschließen. Sie legte sich nieder und sagte immer und
immer wieder mit Thränen in den Augen: "Ruhe für eure Seelen" und "müh¬
selig und beladen" und "kommt her zu mir" und "sanftmütig und vou Herzen
demütig," und dann ruhte ihr Blick auf einem Worte, und sie wiederholte es
immer von neuem: "Ruhe, Ruhe, Ruhe!"

Das alte Gefühl war fort. Sie lehnte sich uicht mehr auf, sie war uicht
mehr verwaist. Die Gegenwart Gottes war kein Schrecken mehr, sondern ein
Segen. Sie hatte Ruhe fiir ihre Seele gefunden, und er gab seinem geliebten
Kinde Schlaf. Denn als sie ans einem Zustande erwachte, der ein kurzer
Schlummer zu sein schien, kam das rote Licht eines herrlichen Tagesanbruchs
durch das Fenster herein, und ihre Kerze flackerte in den letzten Zügen ans dem
Boden der Dille. Das Testament lag aufgeschlagen da, wie sie es verlassen
hatte, und tagelang ließ sie es offen da liegen und wagte nichts andres zu lesen
als diese drei Verse; denn sie fürchtete die Ruhe zu verlieren, die sie dort für
ihre Seele gefunden hatte.


Wrcuzboten III. 1882. 72

so einrichten könnte, ihn zu verfehlen. Sie las das siebente Kapitel des Lukas,
wie der Herr den Knecht des römischen Hauptmanns heilte, „den er wert hielt,"
und bemerkte, daß er den Mann nicht tadelte, weil er seinen Sklaven liebte;
ferner wie der Heiland Mitleid hatte mit der armen Witwe, die an der Bahre
ihres einzigen Sohnes weinte, und wie er ihn ins Leben zurückbrachte und „ihn
seiner Mutter gab." Das schien doch uicht der Christus zu sein, den Cyuthy
Ann sich als den Feind jeder menschlichen Neigung vorstellte. Sie las mehr,
was sie nicht so recht verstehen konnte, und dann am Ende des Kapitels stieß
sie auf das Weib, das eine Sünderin war und seine Füße mit Thränen der
Dankbarkeit wusch und sie mit den Haaren ihres Hauptes trocknete. Und es
war ihr, als ob die Schuld des Weibes ihr die Gelegenheit zur Vergebung
ihrer Sünden verschafft habe und den Segen: gehe hin in Frieden.

Endlich stieß sie, indem sie die Blätter ohne bestimmten Zweck umwendete,
auf eine Stelle bei Matthäus, wo drei Verse am Ende eines Kapitels zufällig
den Anfang einer Spalte bildeten. Ich vermute, sie las sie, weil der Beginn
der Seite und das Ende des Kapitels sie als ein kurzes Stück für sich erscheine!?
ließen. Und sie verschmolzen in ihr Gemüt so, daß es ihr war, als ob sie
Christus und Gott zum erstenmale recht erkannte. „Kommt zu mir alle, die
ihr mühselig lind beladen seid," las sie und hielt inne. Das geht auf mich,
dachte sie mit einem Herzen, das zerspringen wollte. Und diese Rede ist die
Thür zum seligen Leben. Wenn die Verheißungen und Borschristen mich meinen,
so bin ich gerettet. Julia las weiter: „Und ich will euch erquicken." Und so
trank sie die Stelle Satz fiir Satz in sich hinein, bis sie ans Ende kam, wo
es heißt: „Mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht," und jetzt erschien
ihr Gott so ganz und gar anders. Und sie betete für August; denn jetzt schienen
die beiden Lieben, die Liebe zu August und die Liebe zu Christus, einander in
keiner Weise mehr auszuschließen. Sie legte sich nieder und sagte immer und
immer wieder mit Thränen in den Augen: „Ruhe für eure Seelen" und „müh¬
selig und beladen" und „kommt her zu mir" und „sanftmütig und vou Herzen
demütig," und dann ruhte ihr Blick auf einem Worte, und sie wiederholte es
immer von neuem: „Ruhe, Ruhe, Ruhe!"

Das alte Gefühl war fort. Sie lehnte sich uicht mehr auf, sie war uicht
mehr verwaist. Die Gegenwart Gottes war kein Schrecken mehr, sondern ein
Segen. Sie hatte Ruhe fiir ihre Seele gefunden, und er gab seinem geliebten
Kinde Schlaf. Denn als sie ans einem Zustande erwachte, der ein kurzer
Schlummer zu sein schien, kam das rote Licht eines herrlichen Tagesanbruchs
durch das Fenster herein, und ihre Kerze flackerte in den letzten Zügen ans dem
Boden der Dille. Das Testament lag aufgeschlagen da, wie sie es verlassen
hatte, und tagelang ließ sie es offen da liegen und wagte nichts andres zu lesen
als diese drei Verse; denn sie fürchtete die Ruhe zu verlieren, die sie dort für
ihre Seele gefunden hatte.


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[0577] so einrichten könnte, ihn zu verfehlen. Sie las das siebente Kapitel des Lukas, wie der Herr den Knecht des römischen Hauptmanns heilte, „den er wert hielt," und bemerkte, daß er den Mann nicht tadelte, weil er seinen Sklaven liebte; ferner wie der Heiland Mitleid hatte mit der armen Witwe, die an der Bahre ihres einzigen Sohnes weinte, und wie er ihn ins Leben zurückbrachte und „ihn seiner Mutter gab." Das schien doch uicht der Christus zu sein, den Cyuthy Ann sich als den Feind jeder menschlichen Neigung vorstellte. Sie las mehr, was sie nicht so recht verstehen konnte, und dann am Ende des Kapitels stieß sie auf das Weib, das eine Sünderin war und seine Füße mit Thränen der Dankbarkeit wusch und sie mit den Haaren ihres Hauptes trocknete. Und es war ihr, als ob die Schuld des Weibes ihr die Gelegenheit zur Vergebung ihrer Sünden verschafft habe und den Segen: gehe hin in Frieden. Endlich stieß sie, indem sie die Blätter ohne bestimmten Zweck umwendete, auf eine Stelle bei Matthäus, wo drei Verse am Ende eines Kapitels zufällig den Anfang einer Spalte bildeten. Ich vermute, sie las sie, weil der Beginn der Seite und das Ende des Kapitels sie als ein kurzes Stück für sich erscheine!? ließen. Und sie verschmolzen in ihr Gemüt so, daß es ihr war, als ob sie Christus und Gott zum erstenmale recht erkannte. „Kommt zu mir alle, die ihr mühselig lind beladen seid," las sie und hielt inne. Das geht auf mich, dachte sie mit einem Herzen, das zerspringen wollte. Und diese Rede ist die Thür zum seligen Leben. Wenn die Verheißungen und Borschristen mich meinen, so bin ich gerettet. Julia las weiter: „Und ich will euch erquicken." Und so trank sie die Stelle Satz fiir Satz in sich hinein, bis sie ans Ende kam, wo es heißt: „Mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht," und jetzt erschien ihr Gott so ganz und gar anders. Und sie betete für August; denn jetzt schienen die beiden Lieben, die Liebe zu August und die Liebe zu Christus, einander in keiner Weise mehr auszuschließen. Sie legte sich nieder und sagte immer und immer wieder mit Thränen in den Augen: „Ruhe für eure Seelen" und „müh¬ selig und beladen" und „kommt her zu mir" und „sanftmütig und vou Herzen demütig," und dann ruhte ihr Blick auf einem Worte, und sie wiederholte es immer von neuem: „Ruhe, Ruhe, Ruhe!" Das alte Gefühl war fort. Sie lehnte sich uicht mehr auf, sie war uicht mehr verwaist. Die Gegenwart Gottes war kein Schrecken mehr, sondern ein Segen. Sie hatte Ruhe fiir ihre Seele gefunden, und er gab seinem geliebten Kinde Schlaf. Denn als sie ans einem Zustande erwachte, der ein kurzer Schlummer zu sein schien, kam das rote Licht eines herrlichen Tagesanbruchs durch das Fenster herein, und ihre Kerze flackerte in den letzten Zügen ans dem Boden der Dille. Das Testament lag aufgeschlagen da, wie sie es verlassen hatte, und tagelang ließ sie es offen da liegen und wagte nichts andres zu lesen als diese drei Verse; denn sie fürchtete die Ruhe zu verlieren, die sie dort für ihre Seele gefunden hatte. Wrcuzboten III. 1882. 72

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/577>, abgerufen am 22.07.2024.