Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
vom Reisen.

alle lesen alles; tels öffentliche Leben bildet, und jedermann baut ans seine Art
mit an dem besten Staate; die Kunst bildet, und wir versammelt keine Gemälde¬
ausstellung und kaufen illustrirte Ausgaben klassischer und nichtklassischer Bücher;
Reisen bildet, und wer reiste nicht? Zudem hat das Wort reisen einen ganz
andern Sinn bekommen. Eine Fahrt von fünfzig oder achtzig Meilen machen,
was ehedem ein Ereignis für das ganze Leben blieb, fällt heute garnicht mehr
unter jenen Begriff. "Er ist verreist." -- "Auf längere Zeit?" -- "O nein,
nur mit dem Vergnügnngszuge zu den Katarakten des Nil oder nach Hammer-
fest, er wird bald wieder da sein!" Das Reisebeschreiber wird eine brodlose
Beschäftigung. Wenn der Autor nicht wenigstens von den Höhen des Himalaya
oder aus dem Innern von Afrika kommt, so empfängt ihn ein allgemeines:
"Kennen wir aus eigner Anschauung!" und er darf seine Erlebnisse nicht einmal
ausschmücken, weil jedermann ihn zu kontrolircn vermag. Auch wessen Sache
es eigentlich nicht ist, sich tagelang im Eisenbahnwagen schütteln zu lassen, der
macht es schandehalber mit, weil er sich nicht der Beschämung aussetzen will,
eingestehen zu müssen, daß er Paris, Rom und Petersburg nicht "kennt." Denn
Gott sei Dank! wir kennen das alles, mit einem Rnndreisebillet von sechs Wochen
Giltigkeit kaun man viel abmachen. Wie erweitert sich der Horizont, wenn man
sich überzeugt, daß unter allen Breitengraden mit Wasser gekocht wird!

Ohne Ironie: es ist eine herrliche Sache um die Möglichkeit, in derselben
Zeit und mit denselben Kosten, wie dereinst "von Memel nach Sachsen," nun
die zehnfache Entfernung zurücklegen zu können; aber Talent zum Reisen gehört
auch dazu. Das hat nicht jeder, verschiedenen ist es in verschiedenem Maße
verliehen, und es kann ausgebildet werden, wie jedes Talent. Deshalb sind
die Früchte des Reisens oft sehr problematischer Natur. Gerade die jetzige Art
zu reise" mit fünf Minuten Aufenthalt, dies gedankenlose, zwecklose Herumfahre"
in der Welt, unvorbereitet, ohne Muße, etwas ordentlich anzusehen, ohne den
Willen, sich über irgend einen Gegenstand zu unterrichten, ist wohl als ein neues
Förderungsmittel der Oberflächlichkeit zu betrachten. Das alte Wanderleben
der deutschen Handwerksburschen hatte gewiß allerlei übles im Gefolge, beson¬
ders seit der Zunftverband seine wahre Bedeutung eingebüßt hatte, zur über¬
lebten Formsache geworden war; aber für sein späteres Leben brachte es dem
Gesellen entschieden mehr Nutzen, daß er den Ranzen aus dem Rücken ein Stück
Welt und mancherlei Lebensgewohnheiten und Arbeitsgebräuche kennen lernte,
anstatt ein viel größeres Stück vom Waggoufenster aus zu sehen und in den
großen Städten Unterricht in sozialrevolutionären Doktrinen zu nehmen. Was
aber die Vergnügungs - und Bildungsreisen betrifft, so haben die Fortschritte
des Verkehrswesens gewissen alten Spottreimen nicht ihren Stachel genommen:


Es flog ein Gänschen übern Rhein
Und kam als Gikgnk wieder heim.

Oder:


vom Reisen.

alle lesen alles; tels öffentliche Leben bildet, und jedermann baut ans seine Art
mit an dem besten Staate; die Kunst bildet, und wir versammelt keine Gemälde¬
ausstellung und kaufen illustrirte Ausgaben klassischer und nichtklassischer Bücher;
Reisen bildet, und wer reiste nicht? Zudem hat das Wort reisen einen ganz
andern Sinn bekommen. Eine Fahrt von fünfzig oder achtzig Meilen machen,
was ehedem ein Ereignis für das ganze Leben blieb, fällt heute garnicht mehr
unter jenen Begriff. „Er ist verreist." — „Auf längere Zeit?" — „O nein,
nur mit dem Vergnügnngszuge zu den Katarakten des Nil oder nach Hammer-
fest, er wird bald wieder da sein!" Das Reisebeschreiber wird eine brodlose
Beschäftigung. Wenn der Autor nicht wenigstens von den Höhen des Himalaya
oder aus dem Innern von Afrika kommt, so empfängt ihn ein allgemeines:
„Kennen wir aus eigner Anschauung!" und er darf seine Erlebnisse nicht einmal
ausschmücken, weil jedermann ihn zu kontrolircn vermag. Auch wessen Sache
es eigentlich nicht ist, sich tagelang im Eisenbahnwagen schütteln zu lassen, der
macht es schandehalber mit, weil er sich nicht der Beschämung aussetzen will,
eingestehen zu müssen, daß er Paris, Rom und Petersburg nicht „kennt." Denn
Gott sei Dank! wir kennen das alles, mit einem Rnndreisebillet von sechs Wochen
Giltigkeit kaun man viel abmachen. Wie erweitert sich der Horizont, wenn man
sich überzeugt, daß unter allen Breitengraden mit Wasser gekocht wird!

Ohne Ironie: es ist eine herrliche Sache um die Möglichkeit, in derselben
Zeit und mit denselben Kosten, wie dereinst „von Memel nach Sachsen," nun
die zehnfache Entfernung zurücklegen zu können; aber Talent zum Reisen gehört
auch dazu. Das hat nicht jeder, verschiedenen ist es in verschiedenem Maße
verliehen, und es kann ausgebildet werden, wie jedes Talent. Deshalb sind
die Früchte des Reisens oft sehr problematischer Natur. Gerade die jetzige Art
zu reise« mit fünf Minuten Aufenthalt, dies gedankenlose, zwecklose Herumfahre»
in der Welt, unvorbereitet, ohne Muße, etwas ordentlich anzusehen, ohne den
Willen, sich über irgend einen Gegenstand zu unterrichten, ist wohl als ein neues
Förderungsmittel der Oberflächlichkeit zu betrachten. Das alte Wanderleben
der deutschen Handwerksburschen hatte gewiß allerlei übles im Gefolge, beson¬
ders seit der Zunftverband seine wahre Bedeutung eingebüßt hatte, zur über¬
lebten Formsache geworden war; aber für sein späteres Leben brachte es dem
Gesellen entschieden mehr Nutzen, daß er den Ranzen aus dem Rücken ein Stück
Welt und mancherlei Lebensgewohnheiten und Arbeitsgebräuche kennen lernte,
anstatt ein viel größeres Stück vom Waggoufenster aus zu sehen und in den
großen Städten Unterricht in sozialrevolutionären Doktrinen zu nehmen. Was
aber die Vergnügungs - und Bildungsreisen betrifft, so haben die Fortschritte
des Verkehrswesens gewissen alten Spottreimen nicht ihren Stachel genommen:


Es flog ein Gänschen übern Rhein
Und kam als Gikgnk wieder heim.

Oder:


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0568" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/193909"/>
          <fw type="header" place="top"> vom Reisen.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1950" prev="#ID_1949"> alle lesen alles; tels öffentliche Leben bildet, und jedermann baut ans seine Art<lb/>
mit an dem besten Staate; die Kunst bildet, und wir versammelt keine Gemälde¬<lb/>
ausstellung und kaufen illustrirte Ausgaben klassischer und nichtklassischer Bücher;<lb/>
Reisen bildet, und wer reiste nicht? Zudem hat das Wort reisen einen ganz<lb/>
andern Sinn bekommen. Eine Fahrt von fünfzig oder achtzig Meilen machen,<lb/>
was ehedem ein Ereignis für das ganze Leben blieb, fällt heute garnicht mehr<lb/>
unter jenen Begriff. &#x201E;Er ist verreist." &#x2014; &#x201E;Auf längere Zeit?" &#x2014; &#x201E;O nein,<lb/>
nur mit dem Vergnügnngszuge zu den Katarakten des Nil oder nach Hammer-<lb/>
fest, er wird bald wieder da sein!" Das Reisebeschreiber wird eine brodlose<lb/>
Beschäftigung. Wenn der Autor nicht wenigstens von den Höhen des Himalaya<lb/>
oder aus dem Innern von Afrika kommt, so empfängt ihn ein allgemeines:<lb/>
&#x201E;Kennen wir aus eigner Anschauung!" und er darf seine Erlebnisse nicht einmal<lb/>
ausschmücken, weil jedermann ihn zu kontrolircn vermag. Auch wessen Sache<lb/>
es eigentlich nicht ist, sich tagelang im Eisenbahnwagen schütteln zu lassen, der<lb/>
macht es schandehalber mit, weil er sich nicht der Beschämung aussetzen will,<lb/>
eingestehen zu müssen, daß er Paris, Rom und Petersburg nicht &#x201E;kennt." Denn<lb/>
Gott sei Dank! wir kennen das alles, mit einem Rnndreisebillet von sechs Wochen<lb/>
Giltigkeit kaun man viel abmachen. Wie erweitert sich der Horizont, wenn man<lb/>
sich überzeugt, daß unter allen Breitengraden mit Wasser gekocht wird!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1951"> Ohne Ironie: es ist eine herrliche Sache um die Möglichkeit, in derselben<lb/>
Zeit und mit denselben Kosten, wie dereinst &#x201E;von Memel nach Sachsen," nun<lb/>
die zehnfache Entfernung zurücklegen zu können; aber Talent zum Reisen gehört<lb/>
auch dazu. Das hat nicht jeder, verschiedenen ist es in verschiedenem Maße<lb/>
verliehen, und es kann ausgebildet werden, wie jedes Talent. Deshalb sind<lb/>
die Früchte des Reisens oft sehr problematischer Natur. Gerade die jetzige Art<lb/>
zu reise« mit fünf Minuten Aufenthalt, dies gedankenlose, zwecklose Herumfahre»<lb/>
in der Welt, unvorbereitet, ohne Muße, etwas ordentlich anzusehen, ohne den<lb/>
Willen, sich über irgend einen Gegenstand zu unterrichten, ist wohl als ein neues<lb/>
Förderungsmittel der Oberflächlichkeit zu betrachten. Das alte Wanderleben<lb/>
der deutschen Handwerksburschen hatte gewiß allerlei übles im Gefolge, beson¬<lb/>
ders seit der Zunftverband seine wahre Bedeutung eingebüßt hatte, zur über¬<lb/>
lebten Formsache geworden war; aber für sein späteres Leben brachte es dem<lb/>
Gesellen entschieden mehr Nutzen, daß er den Ranzen aus dem Rücken ein Stück<lb/>
Welt und mancherlei Lebensgewohnheiten und Arbeitsgebräuche kennen lernte,<lb/>
anstatt ein viel größeres Stück vom Waggoufenster aus zu sehen und in den<lb/>
großen Städten Unterricht in sozialrevolutionären Doktrinen zu nehmen. Was<lb/>
aber die Vergnügungs - und Bildungsreisen betrifft, so haben die Fortschritte<lb/>
des Verkehrswesens gewissen alten Spottreimen nicht ihren Stachel genommen:</p><lb/>
          <quote>
            <lg xml:id="POEMID_23" type="poem">
              <l> Es flog ein Gänschen übern Rhein<lb/>
Und kam als Gikgnk wieder heim.</l>
            </lg>
          </quote><lb/>
          <p xml:id="ID_1952" next="#ID_1953"> Oder:</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0568] vom Reisen. alle lesen alles; tels öffentliche Leben bildet, und jedermann baut ans seine Art mit an dem besten Staate; die Kunst bildet, und wir versammelt keine Gemälde¬ ausstellung und kaufen illustrirte Ausgaben klassischer und nichtklassischer Bücher; Reisen bildet, und wer reiste nicht? Zudem hat das Wort reisen einen ganz andern Sinn bekommen. Eine Fahrt von fünfzig oder achtzig Meilen machen, was ehedem ein Ereignis für das ganze Leben blieb, fällt heute garnicht mehr unter jenen Begriff. „Er ist verreist." — „Auf längere Zeit?" — „O nein, nur mit dem Vergnügnngszuge zu den Katarakten des Nil oder nach Hammer- fest, er wird bald wieder da sein!" Das Reisebeschreiber wird eine brodlose Beschäftigung. Wenn der Autor nicht wenigstens von den Höhen des Himalaya oder aus dem Innern von Afrika kommt, so empfängt ihn ein allgemeines: „Kennen wir aus eigner Anschauung!" und er darf seine Erlebnisse nicht einmal ausschmücken, weil jedermann ihn zu kontrolircn vermag. Auch wessen Sache es eigentlich nicht ist, sich tagelang im Eisenbahnwagen schütteln zu lassen, der macht es schandehalber mit, weil er sich nicht der Beschämung aussetzen will, eingestehen zu müssen, daß er Paris, Rom und Petersburg nicht „kennt." Denn Gott sei Dank! wir kennen das alles, mit einem Rnndreisebillet von sechs Wochen Giltigkeit kaun man viel abmachen. Wie erweitert sich der Horizont, wenn man sich überzeugt, daß unter allen Breitengraden mit Wasser gekocht wird! Ohne Ironie: es ist eine herrliche Sache um die Möglichkeit, in derselben Zeit und mit denselben Kosten, wie dereinst „von Memel nach Sachsen," nun die zehnfache Entfernung zurücklegen zu können; aber Talent zum Reisen gehört auch dazu. Das hat nicht jeder, verschiedenen ist es in verschiedenem Maße verliehen, und es kann ausgebildet werden, wie jedes Talent. Deshalb sind die Früchte des Reisens oft sehr problematischer Natur. Gerade die jetzige Art zu reise« mit fünf Minuten Aufenthalt, dies gedankenlose, zwecklose Herumfahre» in der Welt, unvorbereitet, ohne Muße, etwas ordentlich anzusehen, ohne den Willen, sich über irgend einen Gegenstand zu unterrichten, ist wohl als ein neues Förderungsmittel der Oberflächlichkeit zu betrachten. Das alte Wanderleben der deutschen Handwerksburschen hatte gewiß allerlei übles im Gefolge, beson¬ ders seit der Zunftverband seine wahre Bedeutung eingebüßt hatte, zur über¬ lebten Formsache geworden war; aber für sein späteres Leben brachte es dem Gesellen entschieden mehr Nutzen, daß er den Ranzen aus dem Rücken ein Stück Welt und mancherlei Lebensgewohnheiten und Arbeitsgebräuche kennen lernte, anstatt ein viel größeres Stück vom Waggoufenster aus zu sehen und in den großen Städten Unterricht in sozialrevolutionären Doktrinen zu nehmen. Was aber die Vergnügungs - und Bildungsreisen betrifft, so haben die Fortschritte des Verkehrswesens gewissen alten Spottreimen nicht ihren Stachel genommen: Es flog ein Gänschen übern Rhein Und kam als Gikgnk wieder heim. Oder:

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/568
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/568>, abgerufen am 25.08.2024.