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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

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Die Heilslehre Richard Wagners.

zeichnung. Eigentlich müßte man sagen, daß es an Charalierisiruug der Indi¬
vidualitäten in Wagners Dichtungen (die "Meistersinger" teilweise ansgenmnmen)
sast ganz fehle. Wagner schildert keine Charaktere, sondern nnr Empfindungen
und Situationen. Einen bestimmten Namen und eine bestimmte Rolle führen
die betreffenden Figuren uur aus äußerer Notwendigkeit. Daß diese Figuren
aber keine Charaktere im Sinne menschlicher Individualitäten sind, kann sich
jeder klar machen, wenn er sich dieselben als Menschen zu denken versucht, un¬
abhängig von der Handlung, in welche sie zufällig von. Dichter verflochten sind.
Was bleibt dann von einem Siegfried, einer Walküre, einem Lohengrin, einem
Tannhäuser. einem Holländer? Figuren, vou deren Lebensinhalt man sich kaum
eine Vorstellung machen kann. Siegfried vollends und neuerdings Parsifal
sind so primitive Erscheinungen, daß sie unwillkürlich an Kaspar Hauser er¬
innern. An der Inhaltlosigkeit dieser Charaktere (die zu ihrer tendenziösen Be¬
deutsamkeit in gar keinem Verhältnis steht) rächt sich die falsche Behandlung
der richtigen Theorie vom Reinmenschlichen. Das Reinmenschliche ist nämlich
nur im Gegensatz zum Konventionellen und historisch Gewordenen interessant,
aber nicht in gänzlicher Ablösung von allem Kulturhintergrnnde; denn dann
unterscheidet es sich nur wenig vom Reintierischen und ist ziemlich inhaltsleer.
Die Kultur, beziehentlich das Historische, giebt dem menschlichen Leben erst Inhalt
und bringt den Menschen zum Bewußtsein seiner selbst, erhebt auch das Walten
der reinmenschlichen Empfindungen, das Durchbrechen des Urprinzips alles
Gebens, des Willens, in eine höhere Sphäre, indem es die Zahl der Motive
für die Bethätigung desselben ins Unendliche vermehrt, ohne dadurch der Wesen¬
heit des Willens irgend Abbruch zu thun. Bei Wagner erscheint aber das
Reinmenschliche fast nur als die unbeschränkte Willkürherrschaft primitivster Em¬
pfindungen, und das intellektuelle Leben der einzelnen Figuren ist auf ein solches
Minimum reduzirt, daß man, wie gesagt, sich kaum vorstellen kann, womit ein
Siegfried, ein Tannhäuser, ein Lohengrin, ein Holländer, eine Sigelinde und
Vrunhilde die Zeit hinbringen, wenn sie sich im Normalzustande befinden.

Und doch versagt dieser Versuch nie beiden Charakteren andrer großen dramati¬
schen Dichter. Man kann sich jede einzelne Figur bei Shakespeare, Goethe, Schiller
"is Menschen denken, der ein voll ausgebildetes individuelles Leben führt, und
"ur unter der Voraussetzung, daß es wirkliche Menschen sind, die in die tra¬
sche Verwicklung eines Trauerspiels hineingezogen werden und gelegentlich
^in zu Grunde gehen, kaun doch auch eigentlich nur von einer wahrhaft
"Anschlichen Teilnahme des Zuschauers die Rede sein.

Wenn die Personen der Wagnerschen Opern nun keine menschlichen Indivi¬
dualitäten in diesem Sinne sind, was sind sie denn? Sie sind Personifikationen
einzelner Züge. Wie bei einer gewissen Art russischer Militärmusik jeder Mu-
siker uur einen Ton zu blasen braucht, wenn die Reihe an ihn kommt, so haben die
Wagnerschen Personen immer nur einen Gedanken zu vertreten, und wie man


Grenzboten III, 1882, 7U
Die Heilslehre Richard Wagners.

zeichnung. Eigentlich müßte man sagen, daß es an Charalierisiruug der Indi¬
vidualitäten in Wagners Dichtungen (die „Meistersinger" teilweise ansgenmnmen)
sast ganz fehle. Wagner schildert keine Charaktere, sondern nnr Empfindungen
und Situationen. Einen bestimmten Namen und eine bestimmte Rolle führen
die betreffenden Figuren uur aus äußerer Notwendigkeit. Daß diese Figuren
aber keine Charaktere im Sinne menschlicher Individualitäten sind, kann sich
jeder klar machen, wenn er sich dieselben als Menschen zu denken versucht, un¬
abhängig von der Handlung, in welche sie zufällig von. Dichter verflochten sind.
Was bleibt dann von einem Siegfried, einer Walküre, einem Lohengrin, einem
Tannhäuser. einem Holländer? Figuren, vou deren Lebensinhalt man sich kaum
eine Vorstellung machen kann. Siegfried vollends und neuerdings Parsifal
sind so primitive Erscheinungen, daß sie unwillkürlich an Kaspar Hauser er¬
innern. An der Inhaltlosigkeit dieser Charaktere (die zu ihrer tendenziösen Be¬
deutsamkeit in gar keinem Verhältnis steht) rächt sich die falsche Behandlung
der richtigen Theorie vom Reinmenschlichen. Das Reinmenschliche ist nämlich
nur im Gegensatz zum Konventionellen und historisch Gewordenen interessant,
aber nicht in gänzlicher Ablösung von allem Kulturhintergrnnde; denn dann
unterscheidet es sich nur wenig vom Reintierischen und ist ziemlich inhaltsleer.
Die Kultur, beziehentlich das Historische, giebt dem menschlichen Leben erst Inhalt
und bringt den Menschen zum Bewußtsein seiner selbst, erhebt auch das Walten
der reinmenschlichen Empfindungen, das Durchbrechen des Urprinzips alles
Gebens, des Willens, in eine höhere Sphäre, indem es die Zahl der Motive
für die Bethätigung desselben ins Unendliche vermehrt, ohne dadurch der Wesen¬
heit des Willens irgend Abbruch zu thun. Bei Wagner erscheint aber das
Reinmenschliche fast nur als die unbeschränkte Willkürherrschaft primitivster Em¬
pfindungen, und das intellektuelle Leben der einzelnen Figuren ist auf ein solches
Minimum reduzirt, daß man, wie gesagt, sich kaum vorstellen kann, womit ein
Siegfried, ein Tannhäuser, ein Lohengrin, ein Holländer, eine Sigelinde und
Vrunhilde die Zeit hinbringen, wenn sie sich im Normalzustande befinden.

Und doch versagt dieser Versuch nie beiden Charakteren andrer großen dramati¬
schen Dichter. Man kann sich jede einzelne Figur bei Shakespeare, Goethe, Schiller
"is Menschen denken, der ein voll ausgebildetes individuelles Leben führt, und
"ur unter der Voraussetzung, daß es wirkliche Menschen sind, die in die tra¬
sche Verwicklung eines Trauerspiels hineingezogen werden und gelegentlich
^in zu Grunde gehen, kaun doch auch eigentlich nur von einer wahrhaft
"Anschlichen Teilnahme des Zuschauers die Rede sein.

Wenn die Personen der Wagnerschen Opern nun keine menschlichen Indivi¬
dualitäten in diesem Sinne sind, was sind sie denn? Sie sind Personifikationen
einzelner Züge. Wie bei einer gewissen Art russischer Militärmusik jeder Mu-
siker uur einen Ton zu blasen braucht, wenn die Reihe an ihn kommt, so haben die
Wagnerschen Personen immer nur einen Gedanken zu vertreten, und wie man


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[0561] Die Heilslehre Richard Wagners. zeichnung. Eigentlich müßte man sagen, daß es an Charalierisiruug der Indi¬ vidualitäten in Wagners Dichtungen (die „Meistersinger" teilweise ansgenmnmen) sast ganz fehle. Wagner schildert keine Charaktere, sondern nnr Empfindungen und Situationen. Einen bestimmten Namen und eine bestimmte Rolle führen die betreffenden Figuren uur aus äußerer Notwendigkeit. Daß diese Figuren aber keine Charaktere im Sinne menschlicher Individualitäten sind, kann sich jeder klar machen, wenn er sich dieselben als Menschen zu denken versucht, un¬ abhängig von der Handlung, in welche sie zufällig von. Dichter verflochten sind. Was bleibt dann von einem Siegfried, einer Walküre, einem Lohengrin, einem Tannhäuser. einem Holländer? Figuren, vou deren Lebensinhalt man sich kaum eine Vorstellung machen kann. Siegfried vollends und neuerdings Parsifal sind so primitive Erscheinungen, daß sie unwillkürlich an Kaspar Hauser er¬ innern. An der Inhaltlosigkeit dieser Charaktere (die zu ihrer tendenziösen Be¬ deutsamkeit in gar keinem Verhältnis steht) rächt sich die falsche Behandlung der richtigen Theorie vom Reinmenschlichen. Das Reinmenschliche ist nämlich nur im Gegensatz zum Konventionellen und historisch Gewordenen interessant, aber nicht in gänzlicher Ablösung von allem Kulturhintergrnnde; denn dann unterscheidet es sich nur wenig vom Reintierischen und ist ziemlich inhaltsleer. Die Kultur, beziehentlich das Historische, giebt dem menschlichen Leben erst Inhalt und bringt den Menschen zum Bewußtsein seiner selbst, erhebt auch das Walten der reinmenschlichen Empfindungen, das Durchbrechen des Urprinzips alles Gebens, des Willens, in eine höhere Sphäre, indem es die Zahl der Motive für die Bethätigung desselben ins Unendliche vermehrt, ohne dadurch der Wesen¬ heit des Willens irgend Abbruch zu thun. Bei Wagner erscheint aber das Reinmenschliche fast nur als die unbeschränkte Willkürherrschaft primitivster Em¬ pfindungen, und das intellektuelle Leben der einzelnen Figuren ist auf ein solches Minimum reduzirt, daß man, wie gesagt, sich kaum vorstellen kann, womit ein Siegfried, ein Tannhäuser, ein Lohengrin, ein Holländer, eine Sigelinde und Vrunhilde die Zeit hinbringen, wenn sie sich im Normalzustande befinden. Und doch versagt dieser Versuch nie beiden Charakteren andrer großen dramati¬ schen Dichter. Man kann sich jede einzelne Figur bei Shakespeare, Goethe, Schiller "is Menschen denken, der ein voll ausgebildetes individuelles Leben führt, und "ur unter der Voraussetzung, daß es wirkliche Menschen sind, die in die tra¬ sche Verwicklung eines Trauerspiels hineingezogen werden und gelegentlich ^in zu Grunde gehen, kaun doch auch eigentlich nur von einer wahrhaft "Anschlichen Teilnahme des Zuschauers die Rede sein. Wenn die Personen der Wagnerschen Opern nun keine menschlichen Indivi¬ dualitäten in diesem Sinne sind, was sind sie denn? Sie sind Personifikationen einzelner Züge. Wie bei einer gewissen Art russischer Militärmusik jeder Mu- siker uur einen Ton zu blasen braucht, wenn die Reihe an ihn kommt, so haben die Wagnerschen Personen immer nur einen Gedanken zu vertreten, und wie man Grenzboten III, 1882, 7U

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/561>, abgerufen am 22.07.2024.