Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.Nächsten, nicht die Liebe zum Guten, nein, nur die Liebe des Naturmenschen Es ist unrichtig, zu glauben, die Operndichtungen Wagners seien dra¬ Nächsten, nicht die Liebe zum Guten, nein, nur die Liebe des Naturmenschen Es ist unrichtig, zu glauben, die Operndichtungen Wagners seien dra¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0560" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/193901"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_1929" prev="#ID_1928"> Nächsten, nicht die Liebe zum Guten, nein, nur die Liebe des Naturmenschen<lb/> zur Person des andern Geschlechts und zu sich selber. Dieser Liebe gegenüber<lb/> verliert alles, was der Mensch von sozialer Ordnung geschaffen, seine Berech¬<lb/> tigung. Die Liebe selbst aber ist bezüglich der Wahl ihres Gegenstandes dem<lb/> Wechsel unterworfen, und wenn man sie als oberstes Bildungsprinzip mensch¬<lb/> licher Verhältnisse und Beziehungen anerkennt, so folgt daraus, das jeder nur<lb/> dann das richtige thut, wenn er thut, was er will. Was bisher als höchste<lb/> Tugend galt, die Selbstüberwindung, die um der Liebe (im christlichen Sinne)<lb/> zu den andern willen ein Gebot der Moral ist, erscheint nun als Lug und<lb/> Trug, weil es mit der Wahrheit der Empfindung nicht im Einklang steht, und<lb/> nur der ist der wahre, ideale Mensch, der von Skrupeln zwischen seinen sinn¬<lb/> lichen Trieben und der Moral ganz frei, sich den ersteren rücksichtslos überläßt,<lb/> etwa wie Siegfried, der ja ausgesprochenermaßen als Menschheitsideal von<lb/> Wagner gedacht ist.</p><lb/> <p xml:id="ID_1930" next="#ID_1931"> Es ist unrichtig, zu glauben, die Operndichtungen Wagners seien dra¬<lb/> matische Bearbeitungen der alten nationalen Sagen. Wenigstens sind sie es<lb/> mir in ganz äußerlichen Sinne, als Mittel zum Zweck. Irgend ein ans seine<lb/> eigne Entwicklung bezüglicher Hintergedanke ist der Punkt, von dem Wagner<lb/> stets ausgeht. Diesen seineu jeweiligen Standpunkt zu einem allgemein giltigen<lb/> zu gestalten, ist die Tendenz der künstlerischen Bearbeitung, der man fast überall<lb/> anmerkt, daß sie mit bewußter Absichtlichkeit gegen die Grundideen der mensch¬<lb/> lichen Kultur polemisirt. Nur im „Parsifal" ist der Ansatz eines neuen<lb/> Standpunktes bemerkbar, eiues Standpunktes, der zu dem Tenor der früheren<lb/> Wngnerschen Dichtungen in einem gewissen Gegensatze steht und deshalb für die<lb/> Beurteilung von Wagners persönlicher Entwicklung bedeutsam ist; aber die Kon¬<lb/> turen der Handlung/die Motive, unter deren Einfluß die Personen stehe», sind<lb/> von einer so weitgespannten Symbolik, daß man über den Grundgedanken des<lb/> Werkes zwar sehr vieles sagen kann, aber nichts, den: man nicht mich wirksam<lb/> widersprechen könnte. Die erlösende Kraft des Mitleids ist eine unbezweifelbarc<lb/> Thatsache, aber ob Parsifal aus Mitleid mit Amfortas der Versuchung durch<lb/> Kundry widersteht, oder weil er fürchtet, es möchte ihm ähnlich gehen wie dem<lb/> Amfortas, dessen er sich plötzlich erinnert, das wird, wie so manches andre,<lb/> nicht klar. Jedenfalls ist der „Parsifal" noch mehr als alle übrigen Werke<lb/> Wagners eine symbolische Handlung, und die alten Sagen eiguen sich durch die<lb/> Dahn- und Deutbarkeit ihres Inhaltes ganz besonders zu einer Umarbeitung in<lb/> Tendenzstücke, wobei sie außerdem den Vorteil gewähren, ihres nationalen und<lb/> populären Charakters wegen auf viele, die zunächst gar uicht nhueu, um was<lb/> es sich handelt, eine große Anziehungskraft auszuüben und über eine zweite<lb/> Eigenschaft der Wagnerschen Operndichtuugen hinwegzutäuschen, die nnter andern<lb/> Verhältnissen, d. h. in weniger mythischen Handlungen, jedermann sofort störend<lb/> auffallen würde. Diese zweite Eigenschaft ist die Monotonie der Charakter-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0560]
Nächsten, nicht die Liebe zum Guten, nein, nur die Liebe des Naturmenschen
zur Person des andern Geschlechts und zu sich selber. Dieser Liebe gegenüber
verliert alles, was der Mensch von sozialer Ordnung geschaffen, seine Berech¬
tigung. Die Liebe selbst aber ist bezüglich der Wahl ihres Gegenstandes dem
Wechsel unterworfen, und wenn man sie als oberstes Bildungsprinzip mensch¬
licher Verhältnisse und Beziehungen anerkennt, so folgt daraus, das jeder nur
dann das richtige thut, wenn er thut, was er will. Was bisher als höchste
Tugend galt, die Selbstüberwindung, die um der Liebe (im christlichen Sinne)
zu den andern willen ein Gebot der Moral ist, erscheint nun als Lug und
Trug, weil es mit der Wahrheit der Empfindung nicht im Einklang steht, und
nur der ist der wahre, ideale Mensch, der von Skrupeln zwischen seinen sinn¬
lichen Trieben und der Moral ganz frei, sich den ersteren rücksichtslos überläßt,
etwa wie Siegfried, der ja ausgesprochenermaßen als Menschheitsideal von
Wagner gedacht ist.
Es ist unrichtig, zu glauben, die Operndichtungen Wagners seien dra¬
matische Bearbeitungen der alten nationalen Sagen. Wenigstens sind sie es
mir in ganz äußerlichen Sinne, als Mittel zum Zweck. Irgend ein ans seine
eigne Entwicklung bezüglicher Hintergedanke ist der Punkt, von dem Wagner
stets ausgeht. Diesen seineu jeweiligen Standpunkt zu einem allgemein giltigen
zu gestalten, ist die Tendenz der künstlerischen Bearbeitung, der man fast überall
anmerkt, daß sie mit bewußter Absichtlichkeit gegen die Grundideen der mensch¬
lichen Kultur polemisirt. Nur im „Parsifal" ist der Ansatz eines neuen
Standpunktes bemerkbar, eiues Standpunktes, der zu dem Tenor der früheren
Wngnerschen Dichtungen in einem gewissen Gegensatze steht und deshalb für die
Beurteilung von Wagners persönlicher Entwicklung bedeutsam ist; aber die Kon¬
turen der Handlung/die Motive, unter deren Einfluß die Personen stehe», sind
von einer so weitgespannten Symbolik, daß man über den Grundgedanken des
Werkes zwar sehr vieles sagen kann, aber nichts, den: man nicht mich wirksam
widersprechen könnte. Die erlösende Kraft des Mitleids ist eine unbezweifelbarc
Thatsache, aber ob Parsifal aus Mitleid mit Amfortas der Versuchung durch
Kundry widersteht, oder weil er fürchtet, es möchte ihm ähnlich gehen wie dem
Amfortas, dessen er sich plötzlich erinnert, das wird, wie so manches andre,
nicht klar. Jedenfalls ist der „Parsifal" noch mehr als alle übrigen Werke
Wagners eine symbolische Handlung, und die alten Sagen eiguen sich durch die
Dahn- und Deutbarkeit ihres Inhaltes ganz besonders zu einer Umarbeitung in
Tendenzstücke, wobei sie außerdem den Vorteil gewähren, ihres nationalen und
populären Charakters wegen auf viele, die zunächst gar uicht nhueu, um was
es sich handelt, eine große Anziehungskraft auszuüben und über eine zweite
Eigenschaft der Wagnerschen Operndichtuugen hinwegzutäuschen, die nnter andern
Verhältnissen, d. h. in weniger mythischen Handlungen, jedermann sofort störend
auffallen würde. Diese zweite Eigenschaft ist die Monotonie der Charakter-
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