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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

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Börse und Publikum.

Nachbar keinen Pfennig anvertrauen würde ohne die größte reale Sicherheit,
giebt man blindlings alles an jene Organe, ohne allen Rückhalt und zu Be¬
dingungen, die oft so unbegreiflich unverschämt sind, daß sie dem Gläubiger
formell schon von vornherein sein Eigentum entreißen und es zur höchsten Ehr¬
lichkeit und rühmenswertesten "Coulcmz" stempeln, wenn nicht auch faktisch diese
Entreißung stattfindet.

Eine solche Erscheinung, die so allgemein und umfassend auftritt, wäre un¬
erklärlich, wenn wir in ihr nicht das Symptom einer tiefen sozialen Krankheit
sehen müßten, welche durch die Gestaltung unsrer sozialpolitischen Verhältnisse
verursacht und genährt wird. "Millioncndiebe" sind überall jetzt eine ganz ge¬
wöhnliche Erscheinung geworden, und da sich an ihnen ein allbekanntes Sprich¬
wort außerordentlich bewährt, so ist nicht zu erwarten, daß die Spezies so
bald aussterben wird, insbesondre da die Gründerthätigkeit wieder flott geht
und ein Aktiengesellschafts- oder ein Genvsfenschaftsdirektor, der seine Aktionäre
bestiehlt, uach dem Stande unsrer Gesetzgebung vollständig im Rechte ist.

Wir haben binnen zwei Jahren in Deutschland die Fälle großartiger
Kapitalräubercieu, deren letzte Ursache an der Börse zu suchen ist, nach Dutzenden
zu zählen. In diesem Augenblick beschäftigen allein drei Berliner Fälle die
öffentliche Aufmerksamkeit: die Fälle Rahl, Levenstein-Hollander und Berliner
Handelsgesellschaft. Dabei ist die zweite Börsenstadt Deutschlands, Frankfurt,
kaum über die Fälle Sachs, Schottländer und Deutsche Handelsgesellschaft
(Mciyer-Welcker) hinaus. Luxemburg hatte seinen Bankkrach, dessen Folgen die
Steuerzahler des Landes zu tragen haben, während Stuttgart, München und
verschiedene kleinere Städte ihren Genvssenschaftskrnch erlebten und noch nicht
wissen, wie sie das Unheil, das dadurch angerichtet wurde, uur leidlich über¬
winden sollen.

Hier läßt die Gesetzgebung, wie gesagt, die gefährdete Gesellschaft fast voll¬
ständig im Stiche. Die neuesten Berliner Fülle beweisen, wie leichtfertig aber
auch zugleich das besitzende Publikum mit seinem Besitz umgeht. Denn es ist
doch wohl eigentlich unbegreiflich, wie verständige Leute dein bloßen Kassenboten
eines Bankgeschäfts, also noch nicht einmal dem letzteren selbst, obwohl schon
dies riskant genug gewesen wäre, die erstaunlichsten Summen anvertrauen konnten.
Noch ist über den Umfang des Naslöcher Schwindels wenig bekannt, aber schon
weiß mein, daß dabei sehr bedeutende Kapitalbetrüge in Frage kommen. Der
zweite Berliner Fall, der Levcnsteinsche, bei dem es sich um Millionen handelt,
unterscheidet sich von dem erstern nur dadurch, das der Betrüger als "Bankier"
auftrat und durch fortgesetzte Reklamen in den Zeitungen, ^ l^ Vvßsche Katarrh¬
pillen, das Publikum anlockte. Dabei war er ein bösartiger Gründer und hatte
alle" Ernstes vor, in die Reihen der "Großen," wie Landein u. Co., einzutreten,
aber er hatte entweder zu wenig Geschick oder zu wenig Glück bei aller Unver¬
schämtheit, und jetzt wird er wegen Unterschlagung nud Betrug steckbrieflich verfolgt.


Börse und Publikum.

Nachbar keinen Pfennig anvertrauen würde ohne die größte reale Sicherheit,
giebt man blindlings alles an jene Organe, ohne allen Rückhalt und zu Be¬
dingungen, die oft so unbegreiflich unverschämt sind, daß sie dem Gläubiger
formell schon von vornherein sein Eigentum entreißen und es zur höchsten Ehr¬
lichkeit und rühmenswertesten „Coulcmz" stempeln, wenn nicht auch faktisch diese
Entreißung stattfindet.

Eine solche Erscheinung, die so allgemein und umfassend auftritt, wäre un¬
erklärlich, wenn wir in ihr nicht das Symptom einer tiefen sozialen Krankheit
sehen müßten, welche durch die Gestaltung unsrer sozialpolitischen Verhältnisse
verursacht und genährt wird. „Millioncndiebe" sind überall jetzt eine ganz ge¬
wöhnliche Erscheinung geworden, und da sich an ihnen ein allbekanntes Sprich¬
wort außerordentlich bewährt, so ist nicht zu erwarten, daß die Spezies so
bald aussterben wird, insbesondre da die Gründerthätigkeit wieder flott geht
und ein Aktiengesellschafts- oder ein Genvsfenschaftsdirektor, der seine Aktionäre
bestiehlt, uach dem Stande unsrer Gesetzgebung vollständig im Rechte ist.

Wir haben binnen zwei Jahren in Deutschland die Fälle großartiger
Kapitalräubercieu, deren letzte Ursache an der Börse zu suchen ist, nach Dutzenden
zu zählen. In diesem Augenblick beschäftigen allein drei Berliner Fälle die
öffentliche Aufmerksamkeit: die Fälle Rahl, Levenstein-Hollander und Berliner
Handelsgesellschaft. Dabei ist die zweite Börsenstadt Deutschlands, Frankfurt,
kaum über die Fälle Sachs, Schottländer und Deutsche Handelsgesellschaft
(Mciyer-Welcker) hinaus. Luxemburg hatte seinen Bankkrach, dessen Folgen die
Steuerzahler des Landes zu tragen haben, während Stuttgart, München und
verschiedene kleinere Städte ihren Genvssenschaftskrnch erlebten und noch nicht
wissen, wie sie das Unheil, das dadurch angerichtet wurde, uur leidlich über¬
winden sollen.

Hier läßt die Gesetzgebung, wie gesagt, die gefährdete Gesellschaft fast voll¬
ständig im Stiche. Die neuesten Berliner Fülle beweisen, wie leichtfertig aber
auch zugleich das besitzende Publikum mit seinem Besitz umgeht. Denn es ist
doch wohl eigentlich unbegreiflich, wie verständige Leute dein bloßen Kassenboten
eines Bankgeschäfts, also noch nicht einmal dem letzteren selbst, obwohl schon
dies riskant genug gewesen wäre, die erstaunlichsten Summen anvertrauen konnten.
Noch ist über den Umfang des Naslöcher Schwindels wenig bekannt, aber schon
weiß mein, daß dabei sehr bedeutende Kapitalbetrüge in Frage kommen. Der
zweite Berliner Fall, der Levcnsteinsche, bei dem es sich um Millionen handelt,
unterscheidet sich von dem erstern nur dadurch, das der Betrüger als „Bankier"
auftrat und durch fortgesetzte Reklamen in den Zeitungen, ^ l^ Vvßsche Katarrh¬
pillen, das Publikum anlockte. Dabei war er ein bösartiger Gründer und hatte
alle» Ernstes vor, in die Reihen der „Großen," wie Landein u. Co., einzutreten,
aber er hatte entweder zu wenig Geschick oder zu wenig Glück bei aller Unver¬
schämtheit, und jetzt wird er wegen Unterschlagung nud Betrug steckbrieflich verfolgt.


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[0544] Börse und Publikum. Nachbar keinen Pfennig anvertrauen würde ohne die größte reale Sicherheit, giebt man blindlings alles an jene Organe, ohne allen Rückhalt und zu Be¬ dingungen, die oft so unbegreiflich unverschämt sind, daß sie dem Gläubiger formell schon von vornherein sein Eigentum entreißen und es zur höchsten Ehr¬ lichkeit und rühmenswertesten „Coulcmz" stempeln, wenn nicht auch faktisch diese Entreißung stattfindet. Eine solche Erscheinung, die so allgemein und umfassend auftritt, wäre un¬ erklärlich, wenn wir in ihr nicht das Symptom einer tiefen sozialen Krankheit sehen müßten, welche durch die Gestaltung unsrer sozialpolitischen Verhältnisse verursacht und genährt wird. „Millioncndiebe" sind überall jetzt eine ganz ge¬ wöhnliche Erscheinung geworden, und da sich an ihnen ein allbekanntes Sprich¬ wort außerordentlich bewährt, so ist nicht zu erwarten, daß die Spezies so bald aussterben wird, insbesondre da die Gründerthätigkeit wieder flott geht und ein Aktiengesellschafts- oder ein Genvsfenschaftsdirektor, der seine Aktionäre bestiehlt, uach dem Stande unsrer Gesetzgebung vollständig im Rechte ist. Wir haben binnen zwei Jahren in Deutschland die Fälle großartiger Kapitalräubercieu, deren letzte Ursache an der Börse zu suchen ist, nach Dutzenden zu zählen. In diesem Augenblick beschäftigen allein drei Berliner Fälle die öffentliche Aufmerksamkeit: die Fälle Rahl, Levenstein-Hollander und Berliner Handelsgesellschaft. Dabei ist die zweite Börsenstadt Deutschlands, Frankfurt, kaum über die Fälle Sachs, Schottländer und Deutsche Handelsgesellschaft (Mciyer-Welcker) hinaus. Luxemburg hatte seinen Bankkrach, dessen Folgen die Steuerzahler des Landes zu tragen haben, während Stuttgart, München und verschiedene kleinere Städte ihren Genvssenschaftskrnch erlebten und noch nicht wissen, wie sie das Unheil, das dadurch angerichtet wurde, uur leidlich über¬ winden sollen. Hier läßt die Gesetzgebung, wie gesagt, die gefährdete Gesellschaft fast voll¬ ständig im Stiche. Die neuesten Berliner Fülle beweisen, wie leichtfertig aber auch zugleich das besitzende Publikum mit seinem Besitz umgeht. Denn es ist doch wohl eigentlich unbegreiflich, wie verständige Leute dein bloßen Kassenboten eines Bankgeschäfts, also noch nicht einmal dem letzteren selbst, obwohl schon dies riskant genug gewesen wäre, die erstaunlichsten Summen anvertrauen konnten. Noch ist über den Umfang des Naslöcher Schwindels wenig bekannt, aber schon weiß mein, daß dabei sehr bedeutende Kapitalbetrüge in Frage kommen. Der zweite Berliner Fall, der Levcnsteinsche, bei dem es sich um Millionen handelt, unterscheidet sich von dem erstern nur dadurch, das der Betrüger als „Bankier" auftrat und durch fortgesetzte Reklamen in den Zeitungen, ^ l^ Vvßsche Katarrh¬ pillen, das Publikum anlockte. Dabei war er ein bösartiger Gründer und hatte alle» Ernstes vor, in die Reihen der „Großen," wie Landein u. Co., einzutreten, aber er hatte entweder zu wenig Geschick oder zu wenig Glück bei aller Unver¬ schämtheit, und jetzt wird er wegen Unterschlagung nud Betrug steckbrieflich verfolgt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/544>, abgerufen am 01.07.2024.