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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

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cLharlotte von Kalb und Jean Paul.

siedelte, wäre es beinahe Ernst damit geworden. Aber die Leidenschaft für
Schiller, deren letzte Wirkungen unerfreuliche Schatten in den Briefwechsel des
Dichters mit seiner Braut Charlotte von Lengefeld warfen, hatte der Frnn
von Kalb eine herbe und, wie wir fürchten, sehr tiefgehende Enttäuschung ge¬
bracht. Eine kaum minder harte, aber schwerer verständliche und -- schwerer
verzeihliche erwuchs ihr gegen den Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts ans
einer neuen Leidenschaft für Jean Paul.

Es ist kein Zweifel, daß der Dichter des "Siebenkäs" und des "Titan"
eine dämonische Anziehungskraft, einen außerordentlichen Zauber anf Frauen
ausübte, vurn c>r-"u> L-rli" etwa, wie in unsern Tagen hervorragende Musiker,
wie Mendelssohn oder Liszt. Charlotte von Kalb scheint durch den Umgang
mit Jean Paul, durch ihre Versenkung in seine Romane zu neuer Jugendlich¬
keit entflammt worden zu sein. Es kam zu leidenschaftlichen Szenen und Er¬
klärungen, Jean Paul schwankte einige stürmische Wochen und Monate, ob er
sich der Leidenschaft der nahezu vierzigjährigen Fran überlassen solle, die ihm
zwischen den Paroxysmen ihrer eignen Empfindung zu einer schlichtbürgerlichen
Ehe bald mit diesem, bald mit jenein Mädchen riet. Am letzten Ende riß er
sich los und vbjektivirte sich in seiner Weise Charlvttes Erscheinung, indem er
sie als "Titanide" Linda im Roman "Titan" darstellte.

Gleichwohl kam es nicht zu einem eigentlichen Bruch, Fran von Kalb, die
in den nächstfolgenden Unglücksjahren mehr und mehr verarmte und daneben
vereinsamte, hatte das Bedürfnis, von den alten Freunden festzuhalten, was
sich irgend festhalten ließ, und obschon es nicht an Empfindeleien, Verstimmungen
und langen Pansen fehlte, erstreckten sich Charlottes Briefe bis zum Jahre 1821,
wo sie, völlig erblindet, durch Vermittlung der Prinzeß Wilhelm von Preußen
Aufnahme und Zuflucht für ihre alten Tage im Berliner königlichen Schlosse
fand. Die Briefe wurden in spätern Jahren teilweise an Karoline Richter, Jean
Paris Gattin, geschrieben.

Es ist eine seltsame Natur und Unnatur, welche uns ans diesen Briefen
wiederum entgegentritt, eine Bildung, die im Guten und Bösen der Bildung
unsrer Tage so fremd wie nnr immer möglich ist. Die geistige Tiefe, der
lebendig leidenschaftliche Anteil an tausend Dingen, die Beweglichkeit und der
Schwung und daneben die formelle Unfertigkeit, die keine Sprache völlig be¬
herrscht, venter anf eine wunderliche Art der Erziehung hin. Charlotte von
Kalb sagt selbst in einem ihrer interessantesten Geständnisse: "Einige spotten
zwar über das gemeine mißbrauchte und vertändelte Leben der Frauen, aber
sie glauben nicht, daß mit einer echten Geisteskultur anch die praktische Thätig¬
keit an Einsicht, Reinheit, Zweckmäßigkeit und richtiger Würdigung der Dinge
nur allein gebildet werden kann. Ich hatte in diesem Betracht eine sonderbare
Lage in der Jugend: ein Buch in der Hand und lesend; in der Küche, Keller,
Boden, Kinderstube und nnr Krankenbette immer Beobachtung der Wirklichkeit;


cLharlotte von Kalb und Jean Paul.

siedelte, wäre es beinahe Ernst damit geworden. Aber die Leidenschaft für
Schiller, deren letzte Wirkungen unerfreuliche Schatten in den Briefwechsel des
Dichters mit seiner Braut Charlotte von Lengefeld warfen, hatte der Frnn
von Kalb eine herbe und, wie wir fürchten, sehr tiefgehende Enttäuschung ge¬
bracht. Eine kaum minder harte, aber schwerer verständliche und — schwerer
verzeihliche erwuchs ihr gegen den Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts ans
einer neuen Leidenschaft für Jean Paul.

Es ist kein Zweifel, daß der Dichter des „Siebenkäs" und des „Titan"
eine dämonische Anziehungskraft, einen außerordentlichen Zauber anf Frauen
ausübte, vurn c>r-«u> L-rli» etwa, wie in unsern Tagen hervorragende Musiker,
wie Mendelssohn oder Liszt. Charlotte von Kalb scheint durch den Umgang
mit Jean Paul, durch ihre Versenkung in seine Romane zu neuer Jugendlich¬
keit entflammt worden zu sein. Es kam zu leidenschaftlichen Szenen und Er¬
klärungen, Jean Paul schwankte einige stürmische Wochen und Monate, ob er
sich der Leidenschaft der nahezu vierzigjährigen Fran überlassen solle, die ihm
zwischen den Paroxysmen ihrer eignen Empfindung zu einer schlichtbürgerlichen
Ehe bald mit diesem, bald mit jenein Mädchen riet. Am letzten Ende riß er
sich los und vbjektivirte sich in seiner Weise Charlvttes Erscheinung, indem er
sie als „Titanide" Linda im Roman „Titan" darstellte.

Gleichwohl kam es nicht zu einem eigentlichen Bruch, Fran von Kalb, die
in den nächstfolgenden Unglücksjahren mehr und mehr verarmte und daneben
vereinsamte, hatte das Bedürfnis, von den alten Freunden festzuhalten, was
sich irgend festhalten ließ, und obschon es nicht an Empfindeleien, Verstimmungen
und langen Pansen fehlte, erstreckten sich Charlottes Briefe bis zum Jahre 1821,
wo sie, völlig erblindet, durch Vermittlung der Prinzeß Wilhelm von Preußen
Aufnahme und Zuflucht für ihre alten Tage im Berliner königlichen Schlosse
fand. Die Briefe wurden in spätern Jahren teilweise an Karoline Richter, Jean
Paris Gattin, geschrieben.

Es ist eine seltsame Natur und Unnatur, welche uns ans diesen Briefen
wiederum entgegentritt, eine Bildung, die im Guten und Bösen der Bildung
unsrer Tage so fremd wie nnr immer möglich ist. Die geistige Tiefe, der
lebendig leidenschaftliche Anteil an tausend Dingen, die Beweglichkeit und der
Schwung und daneben die formelle Unfertigkeit, die keine Sprache völlig be¬
herrscht, venter anf eine wunderliche Art der Erziehung hin. Charlotte von
Kalb sagt selbst in einem ihrer interessantesten Geständnisse: „Einige spotten
zwar über das gemeine mißbrauchte und vertändelte Leben der Frauen, aber
sie glauben nicht, daß mit einer echten Geisteskultur anch die praktische Thätig¬
keit an Einsicht, Reinheit, Zweckmäßigkeit und richtiger Würdigung der Dinge
nur allein gebildet werden kann. Ich hatte in diesem Betracht eine sonderbare
Lage in der Jugend: ein Buch in der Hand und lesend; in der Küche, Keller,
Boden, Kinderstube und nnr Krankenbette immer Beobachtung der Wirklichkeit;


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[0519] cLharlotte von Kalb und Jean Paul. siedelte, wäre es beinahe Ernst damit geworden. Aber die Leidenschaft für Schiller, deren letzte Wirkungen unerfreuliche Schatten in den Briefwechsel des Dichters mit seiner Braut Charlotte von Lengefeld warfen, hatte der Frnn von Kalb eine herbe und, wie wir fürchten, sehr tiefgehende Enttäuschung ge¬ bracht. Eine kaum minder harte, aber schwerer verständliche und — schwerer verzeihliche erwuchs ihr gegen den Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts ans einer neuen Leidenschaft für Jean Paul. Es ist kein Zweifel, daß der Dichter des „Siebenkäs" und des „Titan" eine dämonische Anziehungskraft, einen außerordentlichen Zauber anf Frauen ausübte, vurn c>r-«u> L-rli» etwa, wie in unsern Tagen hervorragende Musiker, wie Mendelssohn oder Liszt. Charlotte von Kalb scheint durch den Umgang mit Jean Paul, durch ihre Versenkung in seine Romane zu neuer Jugendlich¬ keit entflammt worden zu sein. Es kam zu leidenschaftlichen Szenen und Er¬ klärungen, Jean Paul schwankte einige stürmische Wochen und Monate, ob er sich der Leidenschaft der nahezu vierzigjährigen Fran überlassen solle, die ihm zwischen den Paroxysmen ihrer eignen Empfindung zu einer schlichtbürgerlichen Ehe bald mit diesem, bald mit jenein Mädchen riet. Am letzten Ende riß er sich los und vbjektivirte sich in seiner Weise Charlvttes Erscheinung, indem er sie als „Titanide" Linda im Roman „Titan" darstellte. Gleichwohl kam es nicht zu einem eigentlichen Bruch, Fran von Kalb, die in den nächstfolgenden Unglücksjahren mehr und mehr verarmte und daneben vereinsamte, hatte das Bedürfnis, von den alten Freunden festzuhalten, was sich irgend festhalten ließ, und obschon es nicht an Empfindeleien, Verstimmungen und langen Pansen fehlte, erstreckten sich Charlottes Briefe bis zum Jahre 1821, wo sie, völlig erblindet, durch Vermittlung der Prinzeß Wilhelm von Preußen Aufnahme und Zuflucht für ihre alten Tage im Berliner königlichen Schlosse fand. Die Briefe wurden in spätern Jahren teilweise an Karoline Richter, Jean Paris Gattin, geschrieben. Es ist eine seltsame Natur und Unnatur, welche uns ans diesen Briefen wiederum entgegentritt, eine Bildung, die im Guten und Bösen der Bildung unsrer Tage so fremd wie nnr immer möglich ist. Die geistige Tiefe, der lebendig leidenschaftliche Anteil an tausend Dingen, die Beweglichkeit und der Schwung und daneben die formelle Unfertigkeit, die keine Sprache völlig be¬ herrscht, venter anf eine wunderliche Art der Erziehung hin. Charlotte von Kalb sagt selbst in einem ihrer interessantesten Geständnisse: „Einige spotten zwar über das gemeine mißbrauchte und vertändelte Leben der Frauen, aber sie glauben nicht, daß mit einer echten Geisteskultur anch die praktische Thätig¬ keit an Einsicht, Reinheit, Zweckmäßigkeit und richtiger Würdigung der Dinge nur allein gebildet werden kann. Ich hatte in diesem Betracht eine sonderbare Lage in der Jugend: ein Buch in der Hand und lesend; in der Küche, Keller, Boden, Kinderstube und nnr Krankenbette immer Beobachtung der Wirklichkeit;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/519>, abgerufen am 23.07.2024.