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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

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Der jüngste Tag.

Todesstunde an Ihnen hängen wird und dann noch getreu auf ewig die Ihrige
verbleibt. Amen.

Woher wissen Sie das, Jonas, sagte August, der nicht umhin konnte zu
lächeln.

Woher ich's weiß? Je nun, nach dem Zeugnis einer unbestochenen und
uninteressirten Zeugin, meine Herren Geschwornen, wenn es der verehrliche Ge¬
richtshof gütigst erlaubt. Was that Julchen Anderson letzte Nacht? Sie ver¬
wendete einige Zeit darauf, Cyuthy Ann eine höchst unzeitgemäße Visite abzu¬
statten. Und ich glaube, daß, wenn es irgend eine alte Jungfer in dieser Welt
unterm Monde giebt, welche die Wahrheit schnurstracks und ohne alles Brim¬
borium sagt, so ist es diese selbige individuelle, identische Cynthh Ann. Sie
lebt in der höchsten Angst, mit Trinken von kaltem Wasser oder Einathmen von
frischer Luft eine unverzeihliche Sünde zu begehen. Und die verfolgte junge
Taube, die sich für verlassen und verloren hielt, schoß diesen Morgen vor Tages¬
anbruch in Cyuthy Anns Boudoir hinein und erzählte ihr all ihr Herzeleid, und
wie Ihr Brief und daß Sie mit Vetsey Malcolm gingen -- hier ward August
verlegen --, sie beinahe dahin getrieben habe, mit den Strippen und Uhrpet¬
schaften davonzulaufen, um Sie und Vetsey und ihre treffliche und höchst lieb¬
reiche Mutter loszuwerden.

Aber sie sieht mich ja in der Kirche nicht an und schickte mir durch Hum-
Phreys beleidigende Botschaft.

Dieser Text, meine Brüder und Mitreisenden in die Ewigkeit, zerfüllt in
zwei Teile. Um das letzte Kapitel zuerst vorzunehmen, Geliebte, so ermahne
ich euch, keinem Gauner zu glauben, es wäre denn unter Umständen, wo er
sich in ungewöhnlichem und unwiderstehlichem Grade versucht fühlt, die Wahrheit
zu sagen. In diesem Falle rate ich euch nicht, aus die Tafel zu spucken und
es wegzuwischen. Zerbrecht die Schieferplatte und werft sie weg. Und zum
zweiten Artikel zu kommen, welcher bei meinem Texte der erste ist, wohl auf¬
merkende Gemeinde. Sie hat Sie in der Kirche uicht angesehen. Nun wissen
Sie vermutlich nichts von dem Herzfehler ihrer Mutter. Dieser Herzfehler ist
ein Trumpf, den Abigail Anderson bei jeder Gelegenheit ausspielt. Nun denken
Sie sich mal ein junges Mädel, die sich einbildet, wenn sie ihrem Liebsten im
Beisein ihrer Mutter einen Blick zuwirft, werde sie ihre unschätzbare Erzeugerin
durch einen Herzschlag umbringen. Ich für meinen Teil nehme ganz gewiß keine
Aktien darauf, daß Frau Abby Anderson jemals am Herzschläge das Zeitliche
gesegnet. Könnte mir ebensogut vorstellen, daß ein Walfisch am Brand an den
Füßen stirbt.

Nun denn, Jonas, sagte Andrew, welchen Rat geben Sie Ihrem jungen
Freunde? Mau kaun sich auf Ihre Klugheit verlassen.

Je nun, ich rate ihm, mit dem Engel seines Lebens von Angesicht zu Au¬
fsicht zu sprechen. Er mag heute Abend in meine Stube steigen. Verlassen


Ärenzbvleu 111. 1882, "0
Der jüngste Tag.

Todesstunde an Ihnen hängen wird und dann noch getreu auf ewig die Ihrige
verbleibt. Amen.

Woher wissen Sie das, Jonas, sagte August, der nicht umhin konnte zu
lächeln.

Woher ich's weiß? Je nun, nach dem Zeugnis einer unbestochenen und
uninteressirten Zeugin, meine Herren Geschwornen, wenn es der verehrliche Ge¬
richtshof gütigst erlaubt. Was that Julchen Anderson letzte Nacht? Sie ver¬
wendete einige Zeit darauf, Cyuthy Ann eine höchst unzeitgemäße Visite abzu¬
statten. Und ich glaube, daß, wenn es irgend eine alte Jungfer in dieser Welt
unterm Monde giebt, welche die Wahrheit schnurstracks und ohne alles Brim¬
borium sagt, so ist es diese selbige individuelle, identische Cynthh Ann. Sie
lebt in der höchsten Angst, mit Trinken von kaltem Wasser oder Einathmen von
frischer Luft eine unverzeihliche Sünde zu begehen. Und die verfolgte junge
Taube, die sich für verlassen und verloren hielt, schoß diesen Morgen vor Tages¬
anbruch in Cyuthy Anns Boudoir hinein und erzählte ihr all ihr Herzeleid, und
wie Ihr Brief und daß Sie mit Vetsey Malcolm gingen — hier ward August
verlegen —, sie beinahe dahin getrieben habe, mit den Strippen und Uhrpet¬
schaften davonzulaufen, um Sie und Vetsey und ihre treffliche und höchst lieb¬
reiche Mutter loszuwerden.

Aber sie sieht mich ja in der Kirche nicht an und schickte mir durch Hum-
Phreys beleidigende Botschaft.

Dieser Text, meine Brüder und Mitreisenden in die Ewigkeit, zerfüllt in
zwei Teile. Um das letzte Kapitel zuerst vorzunehmen, Geliebte, so ermahne
ich euch, keinem Gauner zu glauben, es wäre denn unter Umständen, wo er
sich in ungewöhnlichem und unwiderstehlichem Grade versucht fühlt, die Wahrheit
zu sagen. In diesem Falle rate ich euch nicht, aus die Tafel zu spucken und
es wegzuwischen. Zerbrecht die Schieferplatte und werft sie weg. Und zum
zweiten Artikel zu kommen, welcher bei meinem Texte der erste ist, wohl auf¬
merkende Gemeinde. Sie hat Sie in der Kirche uicht angesehen. Nun wissen
Sie vermutlich nichts von dem Herzfehler ihrer Mutter. Dieser Herzfehler ist
ein Trumpf, den Abigail Anderson bei jeder Gelegenheit ausspielt. Nun denken
Sie sich mal ein junges Mädel, die sich einbildet, wenn sie ihrem Liebsten im
Beisein ihrer Mutter einen Blick zuwirft, werde sie ihre unschätzbare Erzeugerin
durch einen Herzschlag umbringen. Ich für meinen Teil nehme ganz gewiß keine
Aktien darauf, daß Frau Abby Anderson jemals am Herzschläge das Zeitliche
gesegnet. Könnte mir ebensogut vorstellen, daß ein Walfisch am Brand an den
Füßen stirbt.

Nun denn, Jonas, sagte Andrew, welchen Rat geben Sie Ihrem jungen
Freunde? Mau kaun sich auf Ihre Klugheit verlassen.

Je nun, ich rate ihm, mit dem Engel seines Lebens von Angesicht zu Au¬
fsicht zu sprechen. Er mag heute Abend in meine Stube steigen. Verlassen


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[0481] Der jüngste Tag. Todesstunde an Ihnen hängen wird und dann noch getreu auf ewig die Ihrige verbleibt. Amen. Woher wissen Sie das, Jonas, sagte August, der nicht umhin konnte zu lächeln. Woher ich's weiß? Je nun, nach dem Zeugnis einer unbestochenen und uninteressirten Zeugin, meine Herren Geschwornen, wenn es der verehrliche Ge¬ richtshof gütigst erlaubt. Was that Julchen Anderson letzte Nacht? Sie ver¬ wendete einige Zeit darauf, Cyuthy Ann eine höchst unzeitgemäße Visite abzu¬ statten. Und ich glaube, daß, wenn es irgend eine alte Jungfer in dieser Welt unterm Monde giebt, welche die Wahrheit schnurstracks und ohne alles Brim¬ borium sagt, so ist es diese selbige individuelle, identische Cynthh Ann. Sie lebt in der höchsten Angst, mit Trinken von kaltem Wasser oder Einathmen von frischer Luft eine unverzeihliche Sünde zu begehen. Und die verfolgte junge Taube, die sich für verlassen und verloren hielt, schoß diesen Morgen vor Tages¬ anbruch in Cyuthy Anns Boudoir hinein und erzählte ihr all ihr Herzeleid, und wie Ihr Brief und daß Sie mit Vetsey Malcolm gingen — hier ward August verlegen —, sie beinahe dahin getrieben habe, mit den Strippen und Uhrpet¬ schaften davonzulaufen, um Sie und Vetsey und ihre treffliche und höchst lieb¬ reiche Mutter loszuwerden. Aber sie sieht mich ja in der Kirche nicht an und schickte mir durch Hum- Phreys beleidigende Botschaft. Dieser Text, meine Brüder und Mitreisenden in die Ewigkeit, zerfüllt in zwei Teile. Um das letzte Kapitel zuerst vorzunehmen, Geliebte, so ermahne ich euch, keinem Gauner zu glauben, es wäre denn unter Umständen, wo er sich in ungewöhnlichem und unwiderstehlichem Grade versucht fühlt, die Wahrheit zu sagen. In diesem Falle rate ich euch nicht, aus die Tafel zu spucken und es wegzuwischen. Zerbrecht die Schieferplatte und werft sie weg. Und zum zweiten Artikel zu kommen, welcher bei meinem Texte der erste ist, wohl auf¬ merkende Gemeinde. Sie hat Sie in der Kirche uicht angesehen. Nun wissen Sie vermutlich nichts von dem Herzfehler ihrer Mutter. Dieser Herzfehler ist ein Trumpf, den Abigail Anderson bei jeder Gelegenheit ausspielt. Nun denken Sie sich mal ein junges Mädel, die sich einbildet, wenn sie ihrem Liebsten im Beisein ihrer Mutter einen Blick zuwirft, werde sie ihre unschätzbare Erzeugerin durch einen Herzschlag umbringen. Ich für meinen Teil nehme ganz gewiß keine Aktien darauf, daß Frau Abby Anderson jemals am Herzschläge das Zeitliche gesegnet. Könnte mir ebensogut vorstellen, daß ein Walfisch am Brand an den Füßen stirbt. Nun denn, Jonas, sagte Andrew, welchen Rat geben Sie Ihrem jungen Freunde? Mau kaun sich auf Ihre Klugheit verlassen. Je nun, ich rate ihm, mit dem Engel seines Lebens von Angesicht zu Au¬ fsicht zu sprechen. Er mag heute Abend in meine Stube steigen. Verlassen Ärenzbvleu 111. 1882, «0

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/481>, abgerufen am 24.08.2024.