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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

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Lin russischer Gesellschaftsroinan.

Friedrichs des Großen leugneten und die Schlachten Napoleons für Lügen er¬
klärten, so darf es uns nicht Wunder nehmen, daß sich Leute finden, welche den
Nihilismus, die Verschwörungen, die Korruption, die hilflose Verzweiflung und
geschäftige Ratlosigkeit leugnen, die das Leben des heiligen Nußland in der
Gegenwart durchsetzen. Wohl aber darf es uns auffallen, wenn ein in seiner
Art bedeutender russischer Roman erscheint, der ein breites Stück Leben, und
zwar Leben der obern Stäude, darstellt und von dein drohenden Hintergrund
und bedenklichen Untergrund der ganzen Zustände des Zarenreiches nichts er¬
blicken und ahnen läßt. Es ist wahr, daß ein Vorbericht ausdrücklich hervor¬
hebt, Graf P. A. Walujew habe die Veröffentlichung seines Romans "Loriu"*)
erst ein Jahrzehnt nach seiner Niederschrift verstattet. Allein Iwan Turgenjews
meiste Romane und Erzählungen, Gogols Schriften sind eine geraume Frist
früher entstanden -- in ihnen allen ist eine Welt und Gesellschaft geschildert,
welche noch nichts von den unbarmherzigen Verschwörern und wilden Fanatikern
weiß, die heute Rußland erfüllen. Und doch verstehen wir den Menschenschil-
dernngcn der genannten beiden Dichter gegenüber nur zu gut, wie auf und aus
diesen: Boden alle die Dinge erwachsen konnten, die uus am heutigen Rußland
erschrecken und erschüttern. Umgekehrt legt uns Walnjews Roman die ernste
Frage nahe: Wenn die Zustünde der russischen Gesellschaft im allgemeinen so
günstige und vortreffliche sind, wie sie "Lorm" schildert, wenn diese Summe von
menschlicher Vortrefflichkeit, von ausgezeichneten Kräften und Eigenschaften, von
innerer Wahrheit, Charakterfestigkeit und ehrenhafter Zuverlässigkeit, ein paar
elende Bruchteile abgerechnet, in der That die Durchschnittssumme der mora¬
lischen Elemente im russischen Leben ist, warum ein so gesunder Körper uicht
mehr Kraft und Fähigkeit entwickelt, die schlechten Säfte auszuscheiden nud sich
zu neuer Kraft und Wirkung zu erheben?

Freilich könnte uus der Verfasser antworten, daß die Charaktere seines
"Lorm" nichts weniger als Typen sein sollen und daß der Roman vielmehr
aus dem tiefsten Bedürfnis heraus gedichtet sei, inmitten der allgemeinen Zer¬
rüttung und Zerstörung, der Korruption und Lüge die liebenswerten Gestalten,
die hie und da doch leben, die erfreulichen Einzelschicksale, die auch in einer so
gearteten Welt noch möglich sind, um sich zu sammeln, daß er sich und den
Leser über die Durchschnittseiudrücke der Gegenwart habe hinweghelfen wollen.
Der Verfasser unsrer deutscheu Robinsonade, der alten "Insel Felsenburg," wußte
sich keinen bessern Rat, dein deutschen Elend in der ersten Hälfte des achtzehnten
Jahrhunderts zu entrinnen, als daß er ein eignes seliges Eiland im fernsten,
unbefahrensten Westtcil des atlantischen Weltmeers erschuf, Bernardin de Snint
Pierre flüchtete mit seinen natürlichen Gestalten aus dem Treibe" von Paris



Lvriu. Rmann von Graf P, A. Walujew. Nom Verfasser auwrisirle deutsche
Ausgabe. Leipzig, F. ?l. Brockhaus, 1882. !j Bände.
Lin russischer Gesellschaftsroinan.

Friedrichs des Großen leugneten und die Schlachten Napoleons für Lügen er¬
klärten, so darf es uns nicht Wunder nehmen, daß sich Leute finden, welche den
Nihilismus, die Verschwörungen, die Korruption, die hilflose Verzweiflung und
geschäftige Ratlosigkeit leugnen, die das Leben des heiligen Nußland in der
Gegenwart durchsetzen. Wohl aber darf es uns auffallen, wenn ein in seiner
Art bedeutender russischer Roman erscheint, der ein breites Stück Leben, und
zwar Leben der obern Stäude, darstellt und von dein drohenden Hintergrund
und bedenklichen Untergrund der ganzen Zustände des Zarenreiches nichts er¬
blicken und ahnen läßt. Es ist wahr, daß ein Vorbericht ausdrücklich hervor¬
hebt, Graf P. A. Walujew habe die Veröffentlichung seines Romans „Loriu"*)
erst ein Jahrzehnt nach seiner Niederschrift verstattet. Allein Iwan Turgenjews
meiste Romane und Erzählungen, Gogols Schriften sind eine geraume Frist
früher entstanden — in ihnen allen ist eine Welt und Gesellschaft geschildert,
welche noch nichts von den unbarmherzigen Verschwörern und wilden Fanatikern
weiß, die heute Rußland erfüllen. Und doch verstehen wir den Menschenschil-
dernngcn der genannten beiden Dichter gegenüber nur zu gut, wie auf und aus
diesen: Boden alle die Dinge erwachsen konnten, die uus am heutigen Rußland
erschrecken und erschüttern. Umgekehrt legt uns Walnjews Roman die ernste
Frage nahe: Wenn die Zustünde der russischen Gesellschaft im allgemeinen so
günstige und vortreffliche sind, wie sie „Lorm" schildert, wenn diese Summe von
menschlicher Vortrefflichkeit, von ausgezeichneten Kräften und Eigenschaften, von
innerer Wahrheit, Charakterfestigkeit und ehrenhafter Zuverlässigkeit, ein paar
elende Bruchteile abgerechnet, in der That die Durchschnittssumme der mora¬
lischen Elemente im russischen Leben ist, warum ein so gesunder Körper uicht
mehr Kraft und Fähigkeit entwickelt, die schlechten Säfte auszuscheiden nud sich
zu neuer Kraft und Wirkung zu erheben?

Freilich könnte uus der Verfasser antworten, daß die Charaktere seines
„Lorm" nichts weniger als Typen sein sollen und daß der Roman vielmehr
aus dem tiefsten Bedürfnis heraus gedichtet sei, inmitten der allgemeinen Zer¬
rüttung und Zerstörung, der Korruption und Lüge die liebenswerten Gestalten,
die hie und da doch leben, die erfreulichen Einzelschicksale, die auch in einer so
gearteten Welt noch möglich sind, um sich zu sammeln, daß er sich und den
Leser über die Durchschnittseiudrücke der Gegenwart habe hinweghelfen wollen.
Der Verfasser unsrer deutscheu Robinsonade, der alten „Insel Felsenburg," wußte
sich keinen bessern Rat, dein deutschen Elend in der ersten Hälfte des achtzehnten
Jahrhunderts zu entrinnen, als daß er ein eignes seliges Eiland im fernsten,
unbefahrensten Westtcil des atlantischen Weltmeers erschuf, Bernardin de Snint
Pierre flüchtete mit seinen natürlichen Gestalten aus dem Treibe» von Paris



Lvriu. Rmann von Graf P, A. Walujew. Nom Verfasser auwrisirle deutsche
Ausgabe. Leipzig, F. ?l. Brockhaus, 1882. !j Bände.
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[0472] Lin russischer Gesellschaftsroinan. Friedrichs des Großen leugneten und die Schlachten Napoleons für Lügen er¬ klärten, so darf es uns nicht Wunder nehmen, daß sich Leute finden, welche den Nihilismus, die Verschwörungen, die Korruption, die hilflose Verzweiflung und geschäftige Ratlosigkeit leugnen, die das Leben des heiligen Nußland in der Gegenwart durchsetzen. Wohl aber darf es uns auffallen, wenn ein in seiner Art bedeutender russischer Roman erscheint, der ein breites Stück Leben, und zwar Leben der obern Stäude, darstellt und von dein drohenden Hintergrund und bedenklichen Untergrund der ganzen Zustände des Zarenreiches nichts er¬ blicken und ahnen läßt. Es ist wahr, daß ein Vorbericht ausdrücklich hervor¬ hebt, Graf P. A. Walujew habe die Veröffentlichung seines Romans „Loriu"*) erst ein Jahrzehnt nach seiner Niederschrift verstattet. Allein Iwan Turgenjews meiste Romane und Erzählungen, Gogols Schriften sind eine geraume Frist früher entstanden — in ihnen allen ist eine Welt und Gesellschaft geschildert, welche noch nichts von den unbarmherzigen Verschwörern und wilden Fanatikern weiß, die heute Rußland erfüllen. Und doch verstehen wir den Menschenschil- dernngcn der genannten beiden Dichter gegenüber nur zu gut, wie auf und aus diesen: Boden alle die Dinge erwachsen konnten, die uus am heutigen Rußland erschrecken und erschüttern. Umgekehrt legt uns Walnjews Roman die ernste Frage nahe: Wenn die Zustünde der russischen Gesellschaft im allgemeinen so günstige und vortreffliche sind, wie sie „Lorm" schildert, wenn diese Summe von menschlicher Vortrefflichkeit, von ausgezeichneten Kräften und Eigenschaften, von innerer Wahrheit, Charakterfestigkeit und ehrenhafter Zuverlässigkeit, ein paar elende Bruchteile abgerechnet, in der That die Durchschnittssumme der mora¬ lischen Elemente im russischen Leben ist, warum ein so gesunder Körper uicht mehr Kraft und Fähigkeit entwickelt, die schlechten Säfte auszuscheiden nud sich zu neuer Kraft und Wirkung zu erheben? Freilich könnte uus der Verfasser antworten, daß die Charaktere seines „Lorm" nichts weniger als Typen sein sollen und daß der Roman vielmehr aus dem tiefsten Bedürfnis heraus gedichtet sei, inmitten der allgemeinen Zer¬ rüttung und Zerstörung, der Korruption und Lüge die liebenswerten Gestalten, die hie und da doch leben, die erfreulichen Einzelschicksale, die auch in einer so gearteten Welt noch möglich sind, um sich zu sammeln, daß er sich und den Leser über die Durchschnittseiudrücke der Gegenwart habe hinweghelfen wollen. Der Verfasser unsrer deutscheu Robinsonade, der alten „Insel Felsenburg," wußte sich keinen bessern Rat, dein deutschen Elend in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts zu entrinnen, als daß er ein eignes seliges Eiland im fernsten, unbefahrensten Westtcil des atlantischen Weltmeers erschuf, Bernardin de Snint Pierre flüchtete mit seinen natürlichen Gestalten aus dem Treibe» von Paris Lvriu. Rmann von Graf P, A. Walujew. Nom Verfasser auwrisirle deutsche Ausgabe. Leipzig, F. ?l. Brockhaus, 1882. !j Bände.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/472>, abgerufen am 25.08.2024.