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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

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die Terminologie jener unter unerträglichem Drucke schinnchtenden Zeiten unnütz
im Munde führen, müßten dabei vor Scham vergehen, soweit sie dieser Empfin¬
dung noch fähig sind.

Aber brauchten sie dein, um hundert Jahre zurückzugreifen? Würden nicht
ihre eignen Lebenserinnerungen ausreichen? Und weil sie und ihr Anhang sich
wie blind und taub geberden, leugnen, was sie mit Händen greifen können,
darum will auch bei uns reine Freude an der Gegenwart sich nicht einstellen.
Unmöglich ist es zu behaupten: "Jene Zeiten sind dahin für immer!" Sie
tonnen wiederkehren. Angesichts der unfaßbarer Verblendung und Verstocktheit
vieler Dentschen gelangen ernste patriotische Männer bereits zu dein trostlosen
Glauben, daß unser Volk nicht geschaffen sei, eine Nation zu bilden. Zur Ab¬
wehr gemeinsamer Not vereinigt, sondern sich nach Überwindung der Gefahr
augenblicks wieder die Stämme, die Landsmannschaften, vergiften ihre gegen¬
seitigen Beziehungen durch Eifersucht und Scheelsucht, und jeder einzelne setzt
seinen Querkopf auf, verlangt auf seine ganze aparte Weise regiert zu werden,
lind schreit über Unterdrückung, weil das nicht geschieht. Früher hatte unus
beqnem, da wurde alle Schuld an den Mißgeschicken Deutschlands den Dynastien
aufgebürdet. Der liberale Bürger schmähte oder spottete über das Anklammern
der kleinen Fürsten an ihre Hoheitsrechte und über ihre Abneigung, sich einem
großen Gemeinwesen einzuordnen. "Wenn einmal das Volk selbst bestimmen
dürfte . . .!" Das ist nun abgethan. Bismarck bezeugt den Dynastien, daß
sie jetzt die Trüger des nationalen Gedankens seien; daß die Deutschen es nicht
sind, beweisen sie tagtäglich. Einem großen Reiche anzugehören, von der Welt-
stellung desselben, von dem Respekt des gestimmten Auslandes persönlich zu
profitiren, das lassen sie sich wohl gefallen, nur wenn sie ein Titelchen von
ihren Gewohnheiten dafür opfern sollen, dann ist es nichts mehr mit dem deut¬
schen Bruder. Diesem widerhaarigen Geschlechte ist keine Vernunft beizubringen.
Wenn es nach ihrem Willen ginge, würden sie morgen die Beute der slavischen
oder romanischen Nachbarn sein.

Stimmen dieser Art werden keinem Leser fremd sein. Und wer möchte
leugnen, daß das Raisonnement nur zu sehr sich auf Thatsachen stützt, und
daß unsre neueste Geschichte uus erst unsre Vergangenheit bis auf Armin,
Marbvd und Segest zurück verständlich macht. Können und dürfen wir hoffen,
daß der durch Jahrtausende konservirte Volkscharakter sich nun plötzlich ändern
werde? Gewiß uicht. Aber ebensowenig können und dürfen wir an der Zu-
kunft des Vaterlandes verzweifeln. Die zungenfertigen Führer der auf die
Schwächung des Reiches hiuarbeitenden Parteien beweisen eben, was sie durchaus
nicht beweisen wollen, nämlich, daß dieses deutsche Volk absolut ungeeignet ist,
nach französischer Schablone regiert zu werden; und wer das erkennt, der hat
die Pflicht, alle Kraft für das Dnrchsetzen von Institutionen aufzubieten, welche
unsrer Art entsprechen. Bei einem so starren Individualismus, bei diesem lin-


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die Terminologie jener unter unerträglichem Drucke schinnchtenden Zeiten unnütz
im Munde führen, müßten dabei vor Scham vergehen, soweit sie dieser Empfin¬
dung noch fähig sind.

Aber brauchten sie dein, um hundert Jahre zurückzugreifen? Würden nicht
ihre eignen Lebenserinnerungen ausreichen? Und weil sie und ihr Anhang sich
wie blind und taub geberden, leugnen, was sie mit Händen greifen können,
darum will auch bei uns reine Freude an der Gegenwart sich nicht einstellen.
Unmöglich ist es zu behaupten: „Jene Zeiten sind dahin für immer!" Sie
tonnen wiederkehren. Angesichts der unfaßbarer Verblendung und Verstocktheit
vieler Dentschen gelangen ernste patriotische Männer bereits zu dein trostlosen
Glauben, daß unser Volk nicht geschaffen sei, eine Nation zu bilden. Zur Ab¬
wehr gemeinsamer Not vereinigt, sondern sich nach Überwindung der Gefahr
augenblicks wieder die Stämme, die Landsmannschaften, vergiften ihre gegen¬
seitigen Beziehungen durch Eifersucht und Scheelsucht, und jeder einzelne setzt
seinen Querkopf auf, verlangt auf seine ganze aparte Weise regiert zu werden,
lind schreit über Unterdrückung, weil das nicht geschieht. Früher hatte unus
beqnem, da wurde alle Schuld an den Mißgeschicken Deutschlands den Dynastien
aufgebürdet. Der liberale Bürger schmähte oder spottete über das Anklammern
der kleinen Fürsten an ihre Hoheitsrechte und über ihre Abneigung, sich einem
großen Gemeinwesen einzuordnen. „Wenn einmal das Volk selbst bestimmen
dürfte . . .!" Das ist nun abgethan. Bismarck bezeugt den Dynastien, daß
sie jetzt die Trüger des nationalen Gedankens seien; daß die Deutschen es nicht
sind, beweisen sie tagtäglich. Einem großen Reiche anzugehören, von der Welt-
stellung desselben, von dem Respekt des gestimmten Auslandes persönlich zu
profitiren, das lassen sie sich wohl gefallen, nur wenn sie ein Titelchen von
ihren Gewohnheiten dafür opfern sollen, dann ist es nichts mehr mit dem deut¬
schen Bruder. Diesem widerhaarigen Geschlechte ist keine Vernunft beizubringen.
Wenn es nach ihrem Willen ginge, würden sie morgen die Beute der slavischen
oder romanischen Nachbarn sein.

Stimmen dieser Art werden keinem Leser fremd sein. Und wer möchte
leugnen, daß das Raisonnement nur zu sehr sich auf Thatsachen stützt, und
daß unsre neueste Geschichte uus erst unsre Vergangenheit bis auf Armin,
Marbvd und Segest zurück verständlich macht. Können und dürfen wir hoffen,
daß der durch Jahrtausende konservirte Volkscharakter sich nun plötzlich ändern
werde? Gewiß uicht. Aber ebensowenig können und dürfen wir an der Zu-
kunft des Vaterlandes verzweifeln. Die zungenfertigen Führer der auf die
Schwächung des Reiches hiuarbeitenden Parteien beweisen eben, was sie durchaus
nicht beweisen wollen, nämlich, daß dieses deutsche Volk absolut ungeeignet ist,
nach französischer Schablone regiert zu werden; und wer das erkennt, der hat
die Pflicht, alle Kraft für das Dnrchsetzen von Institutionen aufzubieten, welche
unsrer Art entsprechen. Bei einem so starren Individualismus, bei diesem lin-


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[0442] In i^r^nnos! die Terminologie jener unter unerträglichem Drucke schinnchtenden Zeiten unnütz im Munde führen, müßten dabei vor Scham vergehen, soweit sie dieser Empfin¬ dung noch fähig sind. Aber brauchten sie dein, um hundert Jahre zurückzugreifen? Würden nicht ihre eignen Lebenserinnerungen ausreichen? Und weil sie und ihr Anhang sich wie blind und taub geberden, leugnen, was sie mit Händen greifen können, darum will auch bei uns reine Freude an der Gegenwart sich nicht einstellen. Unmöglich ist es zu behaupten: „Jene Zeiten sind dahin für immer!" Sie tonnen wiederkehren. Angesichts der unfaßbarer Verblendung und Verstocktheit vieler Dentschen gelangen ernste patriotische Männer bereits zu dein trostlosen Glauben, daß unser Volk nicht geschaffen sei, eine Nation zu bilden. Zur Ab¬ wehr gemeinsamer Not vereinigt, sondern sich nach Überwindung der Gefahr augenblicks wieder die Stämme, die Landsmannschaften, vergiften ihre gegen¬ seitigen Beziehungen durch Eifersucht und Scheelsucht, und jeder einzelne setzt seinen Querkopf auf, verlangt auf seine ganze aparte Weise regiert zu werden, lind schreit über Unterdrückung, weil das nicht geschieht. Früher hatte unus beqnem, da wurde alle Schuld an den Mißgeschicken Deutschlands den Dynastien aufgebürdet. Der liberale Bürger schmähte oder spottete über das Anklammern der kleinen Fürsten an ihre Hoheitsrechte und über ihre Abneigung, sich einem großen Gemeinwesen einzuordnen. „Wenn einmal das Volk selbst bestimmen dürfte . . .!" Das ist nun abgethan. Bismarck bezeugt den Dynastien, daß sie jetzt die Trüger des nationalen Gedankens seien; daß die Deutschen es nicht sind, beweisen sie tagtäglich. Einem großen Reiche anzugehören, von der Welt- stellung desselben, von dem Respekt des gestimmten Auslandes persönlich zu profitiren, das lassen sie sich wohl gefallen, nur wenn sie ein Titelchen von ihren Gewohnheiten dafür opfern sollen, dann ist es nichts mehr mit dem deut¬ schen Bruder. Diesem widerhaarigen Geschlechte ist keine Vernunft beizubringen. Wenn es nach ihrem Willen ginge, würden sie morgen die Beute der slavischen oder romanischen Nachbarn sein. Stimmen dieser Art werden keinem Leser fremd sein. Und wer möchte leugnen, daß das Raisonnement nur zu sehr sich auf Thatsachen stützt, und daß unsre neueste Geschichte uus erst unsre Vergangenheit bis auf Armin, Marbvd und Segest zurück verständlich macht. Können und dürfen wir hoffen, daß der durch Jahrtausende konservirte Volkscharakter sich nun plötzlich ändern werde? Gewiß uicht. Aber ebensowenig können und dürfen wir an der Zu- kunft des Vaterlandes verzweifeln. Die zungenfertigen Führer der auf die Schwächung des Reiches hiuarbeitenden Parteien beweisen eben, was sie durchaus nicht beweisen wollen, nämlich, daß dieses deutsche Volk absolut ungeeignet ist, nach französischer Schablone regiert zu werden; und wer das erkennt, der hat die Pflicht, alle Kraft für das Dnrchsetzen von Institutionen aufzubieten, welche unsrer Art entsprechen. Bei einem so starren Individualismus, bei diesem lin-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/442>, abgerufen am 01.07.2024.