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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

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Der jüngste Tag.

schaffenden hatte der Krankheit widerstanden, die sie bedrohte, ihr fieberischer
Zustand hatte sich mit dem Kopfweh verloren. Sie empfand jetzt nur ein Ver¬
langen: sie mußte eine Freundin haben. Aber die herbe Frömmigkeit, die sich
in Cynthy Anus Zügen ausprägte, hatte nie ihre Neigung auf diese gelenkt. Es
war ihr stets erschienen, als ob Cynthy ihre Liebe ganz ebenso mißbilligte als
ihre Mutter. Cynthys Gesicht trug in der That das Gepräge chronischer Mi߬
billigung. Ein nervöser junger Diener am Evangelium sagte, immer beenge und
bedrücke es ihn, wenn Cynthy Ann seiner Predigt beiwohne. Es käme ihm vor,
als ob sie wider alles, was er sage, etwas hätte.

Aber jetzt empfand Julia, daß es für sie nur eine Aussicht ans Rat und
Hilfe gebe. Hatte sie nicht in ihrem Traume Cynthy Ann mit einem Besen
gesehen? Sie wollte sich bei Cynthy Ann Hilfe erbitten. Unter ihrer harten
Schale mußte ein Herz sein.

Aber wie an sie gelangen? Die liebreiche Wachsamkeit ihrer Mutter ließ
sie mit Cynthy niemals allein. Vielleicht war es gerade die stete vorsichtige
Bewachung, die Julia auf deu Gedanken gebracht hatte, daß Cynthy Anm mög-
licherweise ihre Verbündete werden könnte. Sie mußte versuchen, eine Unter¬
redung unter vier Augen mit ihr zu haben. Aber wie? Es gab nnr euren
einzigen Weg. schwarzäugige Leute kennen keinen Aufschub. Recht oder unrecht,
Julia handelte in jener Nacht mit rascher Entschiedenheit. Ehe sie sich noch
einen genauen Plan gemacht hatte, wie sie zu verfahren habe, war sie aufge¬
standen und in ein Kattunkleid gefahren. Aber es gab ein Bedenken. Herr
Humphreys pflegte lange wach zu bleiben, und er konnte in der Vvrderveranda
sein. Sie konnte ihm auf dein Gange begegnen, und das erschien ihr schlimmer
als die Aussicht, einer Bande von Indianern in den Weg zu kommen. Sie lauschte
und sah zum Fenster hinaus; aber sie konnte nichts entdecken. Sie entschloß
sich, es zu wagen. Mit leisem Fuß und klopfendem Herzen eilte sie den Gang
entlang bis an die Hintere Veranda am obern Stockwerke, denn in jener Zeit
waren die Hänser im Westen so gebaut, daß sie sowohl oben wie unten und
vorn und hinten eine Veranda hatten. Einmal ans die Hintere Veranda gelangt,
wandte sie sich zur Rechten und stand vor Cynthy Anns Thür. Aber jetzt ergriff
sie eine neue Furcht. Wie, wenn Cynthy erschrak und laut aufschrie?

Cyuthy! Cynthy Ann! sagte sie, neben dem Bette in der kleinen, schmuck¬
losen Stube stehend, in der Cynthy Ann seit fünf Jahren hauste, in welche einen
Schein von Behaglichkeit oder eine Spur von Anmut zu bringen sie aber niemals
versucht hatte.

Cynthy! Cynthy Ann!

Hätte Cynthy Ann irgendwo anders als in diesem Teil des Hauses geschlafen,
so würde ihr Aufschrei - welches Frauenzimmer könnte einen leisen Aufschrei
unterdrücken, wenn sie plötzlich geweckt wird -- die Familie alarmirt und auf
die Beine gebracht haben. Dies geschah indeß nicht.


Der jüngste Tag.

schaffenden hatte der Krankheit widerstanden, die sie bedrohte, ihr fieberischer
Zustand hatte sich mit dem Kopfweh verloren. Sie empfand jetzt nur ein Ver¬
langen: sie mußte eine Freundin haben. Aber die herbe Frömmigkeit, die sich
in Cynthy Anus Zügen ausprägte, hatte nie ihre Neigung auf diese gelenkt. Es
war ihr stets erschienen, als ob Cynthy ihre Liebe ganz ebenso mißbilligte als
ihre Mutter. Cynthys Gesicht trug in der That das Gepräge chronischer Mi߬
billigung. Ein nervöser junger Diener am Evangelium sagte, immer beenge und
bedrücke es ihn, wenn Cynthy Ann seiner Predigt beiwohne. Es käme ihm vor,
als ob sie wider alles, was er sage, etwas hätte.

Aber jetzt empfand Julia, daß es für sie nur eine Aussicht ans Rat und
Hilfe gebe. Hatte sie nicht in ihrem Traume Cynthy Ann mit einem Besen
gesehen? Sie wollte sich bei Cynthy Ann Hilfe erbitten. Unter ihrer harten
Schale mußte ein Herz sein.

Aber wie an sie gelangen? Die liebreiche Wachsamkeit ihrer Mutter ließ
sie mit Cynthy niemals allein. Vielleicht war es gerade die stete vorsichtige
Bewachung, die Julia auf deu Gedanken gebracht hatte, daß Cynthy Anm mög-
licherweise ihre Verbündete werden könnte. Sie mußte versuchen, eine Unter¬
redung unter vier Augen mit ihr zu haben. Aber wie? Es gab nnr euren
einzigen Weg. schwarzäugige Leute kennen keinen Aufschub. Recht oder unrecht,
Julia handelte in jener Nacht mit rascher Entschiedenheit. Ehe sie sich noch
einen genauen Plan gemacht hatte, wie sie zu verfahren habe, war sie aufge¬
standen und in ein Kattunkleid gefahren. Aber es gab ein Bedenken. Herr
Humphreys pflegte lange wach zu bleiben, und er konnte in der Vvrderveranda
sein. Sie konnte ihm auf dein Gange begegnen, und das erschien ihr schlimmer
als die Aussicht, einer Bande von Indianern in den Weg zu kommen. Sie lauschte
und sah zum Fenster hinaus; aber sie konnte nichts entdecken. Sie entschloß
sich, es zu wagen. Mit leisem Fuß und klopfendem Herzen eilte sie den Gang
entlang bis an die Hintere Veranda am obern Stockwerke, denn in jener Zeit
waren die Hänser im Westen so gebaut, daß sie sowohl oben wie unten und
vorn und hinten eine Veranda hatten. Einmal ans die Hintere Veranda gelangt,
wandte sie sich zur Rechten und stand vor Cynthy Anns Thür. Aber jetzt ergriff
sie eine neue Furcht. Wie, wenn Cynthy erschrak und laut aufschrie?

Cyuthy! Cynthy Ann! sagte sie, neben dem Bette in der kleinen, schmuck¬
losen Stube stehend, in der Cynthy Ann seit fünf Jahren hauste, in welche einen
Schein von Behaglichkeit oder eine Spur von Anmut zu bringen sie aber niemals
versucht hatte.

Cynthy! Cynthy Ann!

Hätte Cynthy Ann irgendwo anders als in diesem Teil des Hauses geschlafen,
so würde ihr Aufschrei - welches Frauenzimmer könnte einen leisen Aufschrei
unterdrücken, wenn sie plötzlich geweckt wird — die Familie alarmirt und auf
die Beine gebracht haben. Dies geschah indeß nicht.


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[0438] Der jüngste Tag. schaffenden hatte der Krankheit widerstanden, die sie bedrohte, ihr fieberischer Zustand hatte sich mit dem Kopfweh verloren. Sie empfand jetzt nur ein Ver¬ langen: sie mußte eine Freundin haben. Aber die herbe Frömmigkeit, die sich in Cynthy Anus Zügen ausprägte, hatte nie ihre Neigung auf diese gelenkt. Es war ihr stets erschienen, als ob Cynthy ihre Liebe ganz ebenso mißbilligte als ihre Mutter. Cynthys Gesicht trug in der That das Gepräge chronischer Mi߬ billigung. Ein nervöser junger Diener am Evangelium sagte, immer beenge und bedrücke es ihn, wenn Cynthy Ann seiner Predigt beiwohne. Es käme ihm vor, als ob sie wider alles, was er sage, etwas hätte. Aber jetzt empfand Julia, daß es für sie nur eine Aussicht ans Rat und Hilfe gebe. Hatte sie nicht in ihrem Traume Cynthy Ann mit einem Besen gesehen? Sie wollte sich bei Cynthy Ann Hilfe erbitten. Unter ihrer harten Schale mußte ein Herz sein. Aber wie an sie gelangen? Die liebreiche Wachsamkeit ihrer Mutter ließ sie mit Cynthy niemals allein. Vielleicht war es gerade die stete vorsichtige Bewachung, die Julia auf deu Gedanken gebracht hatte, daß Cynthy Anm mög- licherweise ihre Verbündete werden könnte. Sie mußte versuchen, eine Unter¬ redung unter vier Augen mit ihr zu haben. Aber wie? Es gab nnr euren einzigen Weg. schwarzäugige Leute kennen keinen Aufschub. Recht oder unrecht, Julia handelte in jener Nacht mit rascher Entschiedenheit. Ehe sie sich noch einen genauen Plan gemacht hatte, wie sie zu verfahren habe, war sie aufge¬ standen und in ein Kattunkleid gefahren. Aber es gab ein Bedenken. Herr Humphreys pflegte lange wach zu bleiben, und er konnte in der Vvrderveranda sein. Sie konnte ihm auf dein Gange begegnen, und das erschien ihr schlimmer als die Aussicht, einer Bande von Indianern in den Weg zu kommen. Sie lauschte und sah zum Fenster hinaus; aber sie konnte nichts entdecken. Sie entschloß sich, es zu wagen. Mit leisem Fuß und klopfendem Herzen eilte sie den Gang entlang bis an die Hintere Veranda am obern Stockwerke, denn in jener Zeit waren die Hänser im Westen so gebaut, daß sie sowohl oben wie unten und vorn und hinten eine Veranda hatten. Einmal ans die Hintere Veranda gelangt, wandte sie sich zur Rechten und stand vor Cynthy Anns Thür. Aber jetzt ergriff sie eine neue Furcht. Wie, wenn Cynthy erschrak und laut aufschrie? Cyuthy! Cynthy Ann! sagte sie, neben dem Bette in der kleinen, schmuck¬ losen Stube stehend, in der Cynthy Ann seit fünf Jahren hauste, in welche einen Schein von Behaglichkeit oder eine Spur von Anmut zu bringen sie aber niemals versucht hatte. Cynthy! Cynthy Ann! Hätte Cynthy Ann irgendwo anders als in diesem Teil des Hauses geschlafen, so würde ihr Aufschrei - welches Frauenzimmer könnte einen leisen Aufschrei unterdrücken, wenn sie plötzlich geweckt wird — die Familie alarmirt und auf die Beine gebracht haben. Dies geschah indeß nicht.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/438>, abgerufen am 01.07.2024.