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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

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Hero und Leander.

Ich erkenn' euch, ernste Mächte,
Strenge treibt ihr eure Rechte,
Furchtbar, unerbittlich ein.
Früh schon ist mein Lauf beschlossen,
Doch das Glück hab' ich genossen,
Und das schönste Loos war mein.
Lebend hab' ich deinem Tempel
Mich geweiht als Priesterin,
Dir ein freudig Opfer sterb' ich,
Venus, große Königin!

Darauf schwingt sie sich von des Thurmes Rande in die Meeresflut hinab und
findet in ihr mit Leander ein gemeinsames Grab.

Schiller fand den Stoff bei den alten Klassikern vor. Vergil z. B. spielt
im dritten Buch der Georgica, wo er von der Macht der Liebeswut spricht,
zwar nur in wenigen Versen auf unsre Erzählung an (Vers 263--63); aber ab¬
gesehen von den Namen, welche nicht genannt find, konnten diese Verse sehr
wohl als Motiv für die Schillersche Dichtung angesehen werden. Die beiden
Episteln des Ovid, welche dieser Dichter in seinen Herolden die beiden Liebenden
sich schreiben läßt, enthalten stofflich nichts besondres und können nicht als eine
geeignete Bearbeitung der Erzählung bezeichnet werden. Dagegen haben wir
dieselbe in dem Gedichte des Musäos von Hero und Leander aus dem Alter¬
tume als selbständiges Ganze in Form eines erotischen Epos überliefert, welches
oft ins Deutsche übertragen worden und kürzlich in einer neuen Übersetzung von
Hermann Oelschläger*) den Freunden des Altertums zugänglich gemacht
worden ist.

Dieser Übersetzung ist eine Einleitung vorausgeschickt, aus der wir über
die Bearbeitung des Textes, die Übersetzungen und die Urteile der Gelehrten
über den Wert des Gedichtes unterrichtet werden. Die Textkritik des Musäos
ist lange vernachlässigt worden, bis dieselbe in neuester Zeit dnrch die Arbeiten
Köchlys, Diltheys, Pcchigs wesentlich gefördert, endlich durch die feinen und ge¬
lehrten Untersuchungen Ludwig Schwabes das Mögliche erreicht worden ist, sodaß
die Textausgabe des letzteren als abschließend und für lange Zeit ausreichend ange¬
sehen werden muß. Die Beurteilungen, welche das Gedicht gefunden hat, legen, so
sehr sie auch im einzelnen auseinandergehen, doch im ganzen Zeugnis von dem hohen
Werte desselben ab. Der große Philolog Julius Cäsar Scaliger (1484--1558),
der den Musäos bei dem gänzlichen Mangel an Nachrichten über das Leben
des Dichters der Zeit nach vor Homer setzte, identifiziren ihn mit dem uralte"
Sänger der attischen Mysterien und stellte ihn seinem innern Werte nach über
Homer. Dieses Urteil bezeichnete schon sein größerer Sohn Joseph Scaliger mit



*) Des Musäos Gedicht von Hero und Leander. Eingeleitet und übersetzt von
Hermann Oelschläger, Leipzig, B. G. Teubner, 1332, 43 S. Preis 1 Mark.
Hero und Leander.

Ich erkenn' euch, ernste Mächte,
Strenge treibt ihr eure Rechte,
Furchtbar, unerbittlich ein.
Früh schon ist mein Lauf beschlossen,
Doch das Glück hab' ich genossen,
Und das schönste Loos war mein.
Lebend hab' ich deinem Tempel
Mich geweiht als Priesterin,
Dir ein freudig Opfer sterb' ich,
Venus, große Königin!

Darauf schwingt sie sich von des Thurmes Rande in die Meeresflut hinab und
findet in ihr mit Leander ein gemeinsames Grab.

Schiller fand den Stoff bei den alten Klassikern vor. Vergil z. B. spielt
im dritten Buch der Georgica, wo er von der Macht der Liebeswut spricht,
zwar nur in wenigen Versen auf unsre Erzählung an (Vers 263—63); aber ab¬
gesehen von den Namen, welche nicht genannt find, konnten diese Verse sehr
wohl als Motiv für die Schillersche Dichtung angesehen werden. Die beiden
Episteln des Ovid, welche dieser Dichter in seinen Herolden die beiden Liebenden
sich schreiben läßt, enthalten stofflich nichts besondres und können nicht als eine
geeignete Bearbeitung der Erzählung bezeichnet werden. Dagegen haben wir
dieselbe in dem Gedichte des Musäos von Hero und Leander aus dem Alter¬
tume als selbständiges Ganze in Form eines erotischen Epos überliefert, welches
oft ins Deutsche übertragen worden und kürzlich in einer neuen Übersetzung von
Hermann Oelschläger*) den Freunden des Altertums zugänglich gemacht
worden ist.

Dieser Übersetzung ist eine Einleitung vorausgeschickt, aus der wir über
die Bearbeitung des Textes, die Übersetzungen und die Urteile der Gelehrten
über den Wert des Gedichtes unterrichtet werden. Die Textkritik des Musäos
ist lange vernachlässigt worden, bis dieselbe in neuester Zeit dnrch die Arbeiten
Köchlys, Diltheys, Pcchigs wesentlich gefördert, endlich durch die feinen und ge¬
lehrten Untersuchungen Ludwig Schwabes das Mögliche erreicht worden ist, sodaß
die Textausgabe des letzteren als abschließend und für lange Zeit ausreichend ange¬
sehen werden muß. Die Beurteilungen, welche das Gedicht gefunden hat, legen, so
sehr sie auch im einzelnen auseinandergehen, doch im ganzen Zeugnis von dem hohen
Werte desselben ab. Der große Philolog Julius Cäsar Scaliger (1484—1558),
der den Musäos bei dem gänzlichen Mangel an Nachrichten über das Leben
des Dichters der Zeit nach vor Homer setzte, identifiziren ihn mit dem uralte»
Sänger der attischen Mysterien und stellte ihn seinem innern Werte nach über
Homer. Dieses Urteil bezeichnete schon sein größerer Sohn Joseph Scaliger mit



*) Des Musäos Gedicht von Hero und Leander. Eingeleitet und übersetzt von
Hermann Oelschläger, Leipzig, B. G. Teubner, 1332, 43 S. Preis 1 Mark.
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[0422] Hero und Leander. Ich erkenn' euch, ernste Mächte, Strenge treibt ihr eure Rechte, Furchtbar, unerbittlich ein. Früh schon ist mein Lauf beschlossen, Doch das Glück hab' ich genossen, Und das schönste Loos war mein. Lebend hab' ich deinem Tempel Mich geweiht als Priesterin, Dir ein freudig Opfer sterb' ich, Venus, große Königin! Darauf schwingt sie sich von des Thurmes Rande in die Meeresflut hinab und findet in ihr mit Leander ein gemeinsames Grab. Schiller fand den Stoff bei den alten Klassikern vor. Vergil z. B. spielt im dritten Buch der Georgica, wo er von der Macht der Liebeswut spricht, zwar nur in wenigen Versen auf unsre Erzählung an (Vers 263—63); aber ab¬ gesehen von den Namen, welche nicht genannt find, konnten diese Verse sehr wohl als Motiv für die Schillersche Dichtung angesehen werden. Die beiden Episteln des Ovid, welche dieser Dichter in seinen Herolden die beiden Liebenden sich schreiben läßt, enthalten stofflich nichts besondres und können nicht als eine geeignete Bearbeitung der Erzählung bezeichnet werden. Dagegen haben wir dieselbe in dem Gedichte des Musäos von Hero und Leander aus dem Alter¬ tume als selbständiges Ganze in Form eines erotischen Epos überliefert, welches oft ins Deutsche übertragen worden und kürzlich in einer neuen Übersetzung von Hermann Oelschläger*) den Freunden des Altertums zugänglich gemacht worden ist. Dieser Übersetzung ist eine Einleitung vorausgeschickt, aus der wir über die Bearbeitung des Textes, die Übersetzungen und die Urteile der Gelehrten über den Wert des Gedichtes unterrichtet werden. Die Textkritik des Musäos ist lange vernachlässigt worden, bis dieselbe in neuester Zeit dnrch die Arbeiten Köchlys, Diltheys, Pcchigs wesentlich gefördert, endlich durch die feinen und ge¬ lehrten Untersuchungen Ludwig Schwabes das Mögliche erreicht worden ist, sodaß die Textausgabe des letzteren als abschließend und für lange Zeit ausreichend ange¬ sehen werden muß. Die Beurteilungen, welche das Gedicht gefunden hat, legen, so sehr sie auch im einzelnen auseinandergehen, doch im ganzen Zeugnis von dem hohen Werte desselben ab. Der große Philolog Julius Cäsar Scaliger (1484—1558), der den Musäos bei dem gänzlichen Mangel an Nachrichten über das Leben des Dichters der Zeit nach vor Homer setzte, identifiziren ihn mit dem uralte» Sänger der attischen Mysterien und stellte ihn seinem innern Werte nach über Homer. Dieses Urteil bezeichnete schon sein größerer Sohn Joseph Scaliger mit *) Des Musäos Gedicht von Hero und Leander. Eingeleitet und übersetzt von Hermann Oelschläger, Leipzig, B. G. Teubner, 1332, 43 S. Preis 1 Mark.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/422>, abgerufen am 03.07.2024.