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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

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Der jüngste Tag.

wenig von der Furcht, von der sie besessen war. Nachdem sie ihre hysterische
Mutter infolge eines Streites mit ihrem Vater wochenlang bettlägerig gesehen,
schien es ihr, als ob sie, wenn sie August Wehte, dessen helle deutsche Stimme
bei deu Liedern alle rudern übertönte, auch nur einen einzigen Blick voll Liebe
und Sehnsucht zukommen lassen wollte, ihre Mutter so schnell töten würde, als
ob sie ihr ein Messer ins Herz stieße. Der Dnmpfdoktor, welcher bei Ander-
sons Hausarzt war, hatte sie und ihren Vater einzeln vor der Gefahr gewarnt,
die sie liefen, wenn sie die leicht erregbare Fran aufregten, und nun war Julia
die Sklavin der Krankheit ihrer Mutter. Diese glückliche Hysterie, welche der
Dampfdvkror sür eine schreckliche Herzkrankheit hielt, hatte Abigail zur unbedingten
Herrschaft über Gatten und Tochter verholfen, und sie begriff sofort ihren Vor¬
teil und bediente sich ihres Herzens in herzlosester Weise.

August konnte Julien uicht dafür tadeln, daß sie nicht schrieb; denn er
hatte die Blockade durch einen Brief zu brechen versucht, der durch Jonas und
Cynthy Anm an seine Adresse befördert werden sollte. Aber die letztere hatte
sich so wohl bewacht gesehen, daß das Billet ihr schwer auf der Seele lastete
und ihrem Gesichte zwei Wochen laug, ehe sie es aus der Tasche nahm, eine
Armesündermiene gab, und dann schob sie es unter das Kopfkissen vou Juliens Bett
und hatte Grund anzunehmen, daß Frau Anderson es binnen fünf Minuten
mit Beschlag belegt habe. Denn die Strenge des mütterliche" Regiments hatte
sich darauf sichtlich verstärkt, und Julia empfing wiederholt Ermahnungen wegen
ihrer Undankbarkeit und ihres Vorsatzes, ihre sich aufopfernde Mutter durch ihre
Hartnäckigkeit umzubringen.

Na, pflegte dann Frau Anderson zu sagen, 's ist mir ganz egal, ob die
Welt nnn untergeht oder nicht. Ich möchte wohl den Tag des Gerichts sehen.
Aber das werde ich nicht. Keine liebende Mutter kann eine Behandlung aus¬
halten, wie sie mir vou meiner eignen, leiblichen Tochter zu Teil wird. Wenn
doch Norman bei uns wäre!

Es ist hier am Platze, zu bemerken, daß Norman ihr Sohn war, an dem
sie großes Gefallen fand, wenn er nicht da war, und den sie dnrch Verhätsche¬
lung ganz und gar verzogen haben würde, wenn er nicht gleich so geboren ge¬
wesen wäre, daß er sich uicht verziehen ließ. Er war der einzige in der Fa¬
milie, gegen den sie nachsichtig war, und sie war hauptsächlich deshalb nachsichtig
gegen ihn, weil er so schwach an Willen war, daß seine Unterwerfung nicht viel
Ehre einbrachte, und weil ihre Nachsicht gegen ihn für die übrigen Glieder der
Familie eine Rute der Trübsal war.

Da sich durch Jonas und Cynthy Ann keine Mitteilung vermitteln ließ,
so befand sich August in einer verzweifelten Klemme, und mit der Ungeduld,
die allen jungen Leuten gemeinsam ist, nahm er unglücklicher Weise seine Zu¬
flucht zu Betsey Malcolm. Sie besuchte Julien häufig, und zweimal, als Julia
nicht in der Kirche war, ging er mit der schlauen Betsey nach Hause, die immer


Der jüngste Tag.

wenig von der Furcht, von der sie besessen war. Nachdem sie ihre hysterische
Mutter infolge eines Streites mit ihrem Vater wochenlang bettlägerig gesehen,
schien es ihr, als ob sie, wenn sie August Wehte, dessen helle deutsche Stimme
bei deu Liedern alle rudern übertönte, auch nur einen einzigen Blick voll Liebe
und Sehnsucht zukommen lassen wollte, ihre Mutter so schnell töten würde, als
ob sie ihr ein Messer ins Herz stieße. Der Dnmpfdoktor, welcher bei Ander-
sons Hausarzt war, hatte sie und ihren Vater einzeln vor der Gefahr gewarnt,
die sie liefen, wenn sie die leicht erregbare Fran aufregten, und nun war Julia
die Sklavin der Krankheit ihrer Mutter. Diese glückliche Hysterie, welche der
Dampfdvkror sür eine schreckliche Herzkrankheit hielt, hatte Abigail zur unbedingten
Herrschaft über Gatten und Tochter verholfen, und sie begriff sofort ihren Vor¬
teil und bediente sich ihres Herzens in herzlosester Weise.

August konnte Julien uicht dafür tadeln, daß sie nicht schrieb; denn er
hatte die Blockade durch einen Brief zu brechen versucht, der durch Jonas und
Cynthy Anm an seine Adresse befördert werden sollte. Aber die letztere hatte
sich so wohl bewacht gesehen, daß das Billet ihr schwer auf der Seele lastete
und ihrem Gesichte zwei Wochen laug, ehe sie es aus der Tasche nahm, eine
Armesündermiene gab, und dann schob sie es unter das Kopfkissen vou Juliens Bett
und hatte Grund anzunehmen, daß Frau Anderson es binnen fünf Minuten
mit Beschlag belegt habe. Denn die Strenge des mütterliche» Regiments hatte
sich darauf sichtlich verstärkt, und Julia empfing wiederholt Ermahnungen wegen
ihrer Undankbarkeit und ihres Vorsatzes, ihre sich aufopfernde Mutter durch ihre
Hartnäckigkeit umzubringen.

Na, pflegte dann Frau Anderson zu sagen, 's ist mir ganz egal, ob die
Welt nnn untergeht oder nicht. Ich möchte wohl den Tag des Gerichts sehen.
Aber das werde ich nicht. Keine liebende Mutter kann eine Behandlung aus¬
halten, wie sie mir vou meiner eignen, leiblichen Tochter zu Teil wird. Wenn
doch Norman bei uns wäre!

Es ist hier am Platze, zu bemerken, daß Norman ihr Sohn war, an dem
sie großes Gefallen fand, wenn er nicht da war, und den sie dnrch Verhätsche¬
lung ganz und gar verzogen haben würde, wenn er nicht gleich so geboren ge¬
wesen wäre, daß er sich uicht verziehen ließ. Er war der einzige in der Fa¬
milie, gegen den sie nachsichtig war, und sie war hauptsächlich deshalb nachsichtig
gegen ihn, weil er so schwach an Willen war, daß seine Unterwerfung nicht viel
Ehre einbrachte, und weil ihre Nachsicht gegen ihn für die übrigen Glieder der
Familie eine Rute der Trübsal war.

Da sich durch Jonas und Cynthy Ann keine Mitteilung vermitteln ließ,
so befand sich August in einer verzweifelten Klemme, und mit der Ungeduld,
die allen jungen Leuten gemeinsam ist, nahm er unglücklicher Weise seine Zu¬
flucht zu Betsey Malcolm. Sie besuchte Julien häufig, und zweimal, als Julia
nicht in der Kirche war, ging er mit der schlauen Betsey nach Hause, die immer


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[0384] Der jüngste Tag. wenig von der Furcht, von der sie besessen war. Nachdem sie ihre hysterische Mutter infolge eines Streites mit ihrem Vater wochenlang bettlägerig gesehen, schien es ihr, als ob sie, wenn sie August Wehte, dessen helle deutsche Stimme bei deu Liedern alle rudern übertönte, auch nur einen einzigen Blick voll Liebe und Sehnsucht zukommen lassen wollte, ihre Mutter so schnell töten würde, als ob sie ihr ein Messer ins Herz stieße. Der Dnmpfdoktor, welcher bei Ander- sons Hausarzt war, hatte sie und ihren Vater einzeln vor der Gefahr gewarnt, die sie liefen, wenn sie die leicht erregbare Fran aufregten, und nun war Julia die Sklavin der Krankheit ihrer Mutter. Diese glückliche Hysterie, welche der Dampfdvkror sür eine schreckliche Herzkrankheit hielt, hatte Abigail zur unbedingten Herrschaft über Gatten und Tochter verholfen, und sie begriff sofort ihren Vor¬ teil und bediente sich ihres Herzens in herzlosester Weise. August konnte Julien uicht dafür tadeln, daß sie nicht schrieb; denn er hatte die Blockade durch einen Brief zu brechen versucht, der durch Jonas und Cynthy Anm an seine Adresse befördert werden sollte. Aber die letztere hatte sich so wohl bewacht gesehen, daß das Billet ihr schwer auf der Seele lastete und ihrem Gesichte zwei Wochen laug, ehe sie es aus der Tasche nahm, eine Armesündermiene gab, und dann schob sie es unter das Kopfkissen vou Juliens Bett und hatte Grund anzunehmen, daß Frau Anderson es binnen fünf Minuten mit Beschlag belegt habe. Denn die Strenge des mütterliche» Regiments hatte sich darauf sichtlich verstärkt, und Julia empfing wiederholt Ermahnungen wegen ihrer Undankbarkeit und ihres Vorsatzes, ihre sich aufopfernde Mutter durch ihre Hartnäckigkeit umzubringen. Na, pflegte dann Frau Anderson zu sagen, 's ist mir ganz egal, ob die Welt nnn untergeht oder nicht. Ich möchte wohl den Tag des Gerichts sehen. Aber das werde ich nicht. Keine liebende Mutter kann eine Behandlung aus¬ halten, wie sie mir vou meiner eignen, leiblichen Tochter zu Teil wird. Wenn doch Norman bei uns wäre! Es ist hier am Platze, zu bemerken, daß Norman ihr Sohn war, an dem sie großes Gefallen fand, wenn er nicht da war, und den sie dnrch Verhätsche¬ lung ganz und gar verzogen haben würde, wenn er nicht gleich so geboren ge¬ wesen wäre, daß er sich uicht verziehen ließ. Er war der einzige in der Fa¬ milie, gegen den sie nachsichtig war, und sie war hauptsächlich deshalb nachsichtig gegen ihn, weil er so schwach an Willen war, daß seine Unterwerfung nicht viel Ehre einbrachte, und weil ihre Nachsicht gegen ihn für die übrigen Glieder der Familie eine Rute der Trübsal war. Da sich durch Jonas und Cynthy Ann keine Mitteilung vermitteln ließ, so befand sich August in einer verzweifelten Klemme, und mit der Ungeduld, die allen jungen Leuten gemeinsam ist, nahm er unglücklicher Weise seine Zu¬ flucht zu Betsey Malcolm. Sie besuchte Julien häufig, und zweimal, als Julia nicht in der Kirche war, ging er mit der schlauen Betsey nach Hause, die immer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/384>, abgerufen am 01.07.2024.