Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

ganz zu würdigenden Erzeugnisse würde eine bunte Reihe aufführen: vom blutigen
Jagd- und Schlachtabenteuer in den Urwäldern Amerikas und den haarstrnnbendeu
nächtlichen Erlebnissen in einsamen Eisenbahnwagen, über die rührsame Spekn-
lations- und Uuterschleifgeschichte mit einem unglaublich tugendsamen Liebespaare
und die lüstern freche Ehebrnchstragödie oder Posse zu den langen, mutwillig
verwickelten "Sensativnsromanen," die alles, was eine folgsame Phantasie gern
und widerwillig hergiebt, unausgeglichen neben einander klotzen. Jedem werden
ähnliche Beispiele aus seiner eigenen, oft notgedrungenen Lektüre einfallen, denn
der Deutsche liest ja soviel schlechtes Zeug, daß er für das gute keine Zeit mehr
übrig hat. Es leuchtet ein, daß diese "Kunst" nicht innerliche Vertiefung der
dargestellten menschlichen Zustände, sondern äußerliche Spannung, bunten Wechsel
der Ereignisse und starke, vielgestaltige Bilder für die schwelgende Phantasie
aufsucht, Sie ist das Gegenspiel aller wahren Kunst, welche Gestalten nur als
Ausdruck entsprechender Gefühlswerte giebt. Der wahrhaft menschliche innere
Gehalt auch der besseren Werke dieser Art, die wenigstens äußerlich die üblichen
Handgriffe seelischer Gestaltung nachahmen, ist erschreckend gering; quälende Ge¬
fühle, vielleicht auch über die unwürdige Vergeudung achtnngswerter, bisweilen
nicht wertloser Kräfte, verdrießliche Abspannung und wüste Leerheit bleiben nach
solchen "Genüssen" im Gemüt zurück; vom wirklich fördernden, das einzig den
Gehalt dichterischer Werke ausmachen sollte, findet sich keine Spur. Es ist eine Kunst
der bloßen Kontraste, die in unvermittelter Schroffheit aneinandergerückt, nahezu
physische Wirkungen hervorbringen. Äußerste Spannung und wollüstige Er¬
mattung, Schauriges Entsetzen und schwelgerische Süßlichkeit reihen diese klugen
"Künstler" hintereinander, um des Effekts willen. Effekte aber nutzen sich ab,
und um so schneller, je mehr sie gehäuft sind. So sieht sich diese Afterkunst
gezwungen, ihre Mittel fortwährend zu steigern, neue Mischungen zu erfinden,
immer klotziger, roher drein zu fahren, um die Ansprüche ihrer verzognen Leser
zu befriedigen, und da sehen wir, wie die raffinirteste Künstelei in die scheu߬
lichste Rohheit umschlügt. Hier finden sich Dinge, von denen Schlegel, dessen
Stufenleiter des Häßlichen wir früher anführten, doch noch keine Ahnung hatte.
Zwischen dem Schreiber und dem Publikum findet da ein fvrtlvährender stiller
Wettstreit statt, den ein geistvoller Franzose ungefähr so schildert: Der Autor
brant immer unverdaulichere Sachen zusammen, und fürchtet fast, das würden
sie nicht mehr vertragen; aber das Publikum denkt: habe ich so viel ruhig hin-
genommen, so werde ich mich auch davor uicht fürchten, und schluckt geduldig und
ohne Würgen die widrige Pille hinunter. Endlich, meinen wir, muß doch ein¬
mal das Erbrechen folgen.

Es liegt um Tage, daß solche Werke, die obendrein in den einzelnen Zeituugs-
blättern zerstückelt verzehrt werden, auch uicht als ein Ganzes gedacht und entworfen
werden. Der Feuilleton Roman zerfällt in zerstückte Einzelteile so gut wie das
Feuilleton. Auch sein Bestreben ist Effekt im einzelnen. Eine Wirkung des


ganz zu würdigenden Erzeugnisse würde eine bunte Reihe aufführen: vom blutigen
Jagd- und Schlachtabenteuer in den Urwäldern Amerikas und den haarstrnnbendeu
nächtlichen Erlebnissen in einsamen Eisenbahnwagen, über die rührsame Spekn-
lations- und Uuterschleifgeschichte mit einem unglaublich tugendsamen Liebespaare
und die lüstern freche Ehebrnchstragödie oder Posse zu den langen, mutwillig
verwickelten „Sensativnsromanen," die alles, was eine folgsame Phantasie gern
und widerwillig hergiebt, unausgeglichen neben einander klotzen. Jedem werden
ähnliche Beispiele aus seiner eigenen, oft notgedrungenen Lektüre einfallen, denn
der Deutsche liest ja soviel schlechtes Zeug, daß er für das gute keine Zeit mehr
übrig hat. Es leuchtet ein, daß diese „Kunst" nicht innerliche Vertiefung der
dargestellten menschlichen Zustände, sondern äußerliche Spannung, bunten Wechsel
der Ereignisse und starke, vielgestaltige Bilder für die schwelgende Phantasie
aufsucht, Sie ist das Gegenspiel aller wahren Kunst, welche Gestalten nur als
Ausdruck entsprechender Gefühlswerte giebt. Der wahrhaft menschliche innere
Gehalt auch der besseren Werke dieser Art, die wenigstens äußerlich die üblichen
Handgriffe seelischer Gestaltung nachahmen, ist erschreckend gering; quälende Ge¬
fühle, vielleicht auch über die unwürdige Vergeudung achtnngswerter, bisweilen
nicht wertloser Kräfte, verdrießliche Abspannung und wüste Leerheit bleiben nach
solchen „Genüssen" im Gemüt zurück; vom wirklich fördernden, das einzig den
Gehalt dichterischer Werke ausmachen sollte, findet sich keine Spur. Es ist eine Kunst
der bloßen Kontraste, die in unvermittelter Schroffheit aneinandergerückt, nahezu
physische Wirkungen hervorbringen. Äußerste Spannung und wollüstige Er¬
mattung, Schauriges Entsetzen und schwelgerische Süßlichkeit reihen diese klugen
„Künstler" hintereinander, um des Effekts willen. Effekte aber nutzen sich ab,
und um so schneller, je mehr sie gehäuft sind. So sieht sich diese Afterkunst
gezwungen, ihre Mittel fortwährend zu steigern, neue Mischungen zu erfinden,
immer klotziger, roher drein zu fahren, um die Ansprüche ihrer verzognen Leser
zu befriedigen, und da sehen wir, wie die raffinirteste Künstelei in die scheu߬
lichste Rohheit umschlügt. Hier finden sich Dinge, von denen Schlegel, dessen
Stufenleiter des Häßlichen wir früher anführten, doch noch keine Ahnung hatte.
Zwischen dem Schreiber und dem Publikum findet da ein fvrtlvährender stiller
Wettstreit statt, den ein geistvoller Franzose ungefähr so schildert: Der Autor
brant immer unverdaulichere Sachen zusammen, und fürchtet fast, das würden
sie nicht mehr vertragen; aber das Publikum denkt: habe ich so viel ruhig hin-
genommen, so werde ich mich auch davor uicht fürchten, und schluckt geduldig und
ohne Würgen die widrige Pille hinunter. Endlich, meinen wir, muß doch ein¬
mal das Erbrechen folgen.

Es liegt um Tage, daß solche Werke, die obendrein in den einzelnen Zeituugs-
blättern zerstückelt verzehrt werden, auch uicht als ein Ganzes gedacht und entworfen
werden. Der Feuilleton Roman zerfällt in zerstückte Einzelteile so gut wie das
Feuilleton. Auch sein Bestreben ist Effekt im einzelnen. Eine Wirkung des


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0364" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/193705"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1198" prev="#ID_1197"> ganz zu würdigenden Erzeugnisse würde eine bunte Reihe aufführen: vom blutigen<lb/>
Jagd- und Schlachtabenteuer in den Urwäldern Amerikas und den haarstrnnbendeu<lb/>
nächtlichen Erlebnissen in einsamen Eisenbahnwagen, über die rührsame Spekn-<lb/>
lations- und Uuterschleifgeschichte mit einem unglaublich tugendsamen Liebespaare<lb/>
und die lüstern freche Ehebrnchstragödie oder Posse zu den langen, mutwillig<lb/>
verwickelten &#x201E;Sensativnsromanen," die alles, was eine folgsame Phantasie gern<lb/>
und widerwillig hergiebt, unausgeglichen neben einander klotzen. Jedem werden<lb/>
ähnliche Beispiele aus seiner eigenen, oft notgedrungenen Lektüre einfallen, denn<lb/>
der Deutsche liest ja soviel schlechtes Zeug, daß er für das gute keine Zeit mehr<lb/>
übrig hat. Es leuchtet ein, daß diese &#x201E;Kunst" nicht innerliche Vertiefung der<lb/>
dargestellten menschlichen Zustände, sondern äußerliche Spannung, bunten Wechsel<lb/>
der Ereignisse und starke, vielgestaltige Bilder für die schwelgende Phantasie<lb/>
aufsucht, Sie ist das Gegenspiel aller wahren Kunst, welche Gestalten nur als<lb/>
Ausdruck entsprechender Gefühlswerte giebt. Der wahrhaft menschliche innere<lb/>
Gehalt auch der besseren Werke dieser Art, die wenigstens äußerlich die üblichen<lb/>
Handgriffe seelischer Gestaltung nachahmen, ist erschreckend gering; quälende Ge¬<lb/>
fühle, vielleicht auch über die unwürdige Vergeudung achtnngswerter, bisweilen<lb/>
nicht wertloser Kräfte, verdrießliche Abspannung und wüste Leerheit bleiben nach<lb/>
solchen &#x201E;Genüssen" im Gemüt zurück; vom wirklich fördernden, das einzig den<lb/>
Gehalt dichterischer Werke ausmachen sollte, findet sich keine Spur. Es ist eine Kunst<lb/>
der bloßen Kontraste, die in unvermittelter Schroffheit aneinandergerückt, nahezu<lb/>
physische Wirkungen hervorbringen. Äußerste Spannung und wollüstige Er¬<lb/>
mattung, Schauriges Entsetzen und schwelgerische Süßlichkeit reihen diese klugen<lb/>
&#x201E;Künstler" hintereinander, um des Effekts willen. Effekte aber nutzen sich ab,<lb/>
und um so schneller, je mehr sie gehäuft sind. So sieht sich diese Afterkunst<lb/>
gezwungen, ihre Mittel fortwährend zu steigern, neue Mischungen zu erfinden,<lb/>
immer klotziger, roher drein zu fahren, um die Ansprüche ihrer verzognen Leser<lb/>
zu befriedigen, und da sehen wir, wie die raffinirteste Künstelei in die scheu߬<lb/>
lichste Rohheit umschlügt. Hier finden sich Dinge, von denen Schlegel, dessen<lb/>
Stufenleiter des Häßlichen wir früher anführten, doch noch keine Ahnung hatte.<lb/>
Zwischen dem Schreiber und dem Publikum findet da ein fvrtlvährender stiller<lb/>
Wettstreit statt, den ein geistvoller Franzose ungefähr so schildert: Der Autor<lb/>
brant immer unverdaulichere Sachen zusammen, und fürchtet fast, das würden<lb/>
sie nicht mehr vertragen; aber das Publikum denkt: habe ich so viel ruhig hin-<lb/>
genommen, so werde ich mich auch davor uicht fürchten, und schluckt geduldig und<lb/>
ohne Würgen die widrige Pille hinunter. Endlich, meinen wir, muß doch ein¬<lb/>
mal das Erbrechen folgen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1199" next="#ID_1200"> Es liegt um Tage, daß solche Werke, die obendrein in den einzelnen Zeituugs-<lb/>
blättern zerstückelt verzehrt werden, auch uicht als ein Ganzes gedacht und entworfen<lb/>
werden. Der Feuilleton Roman zerfällt in zerstückte Einzelteile so gut wie das<lb/>
Feuilleton.  Auch sein Bestreben ist Effekt im einzelnen.  Eine Wirkung des</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0364] ganz zu würdigenden Erzeugnisse würde eine bunte Reihe aufführen: vom blutigen Jagd- und Schlachtabenteuer in den Urwäldern Amerikas und den haarstrnnbendeu nächtlichen Erlebnissen in einsamen Eisenbahnwagen, über die rührsame Spekn- lations- und Uuterschleifgeschichte mit einem unglaublich tugendsamen Liebespaare und die lüstern freche Ehebrnchstragödie oder Posse zu den langen, mutwillig verwickelten „Sensativnsromanen," die alles, was eine folgsame Phantasie gern und widerwillig hergiebt, unausgeglichen neben einander klotzen. Jedem werden ähnliche Beispiele aus seiner eigenen, oft notgedrungenen Lektüre einfallen, denn der Deutsche liest ja soviel schlechtes Zeug, daß er für das gute keine Zeit mehr übrig hat. Es leuchtet ein, daß diese „Kunst" nicht innerliche Vertiefung der dargestellten menschlichen Zustände, sondern äußerliche Spannung, bunten Wechsel der Ereignisse und starke, vielgestaltige Bilder für die schwelgende Phantasie aufsucht, Sie ist das Gegenspiel aller wahren Kunst, welche Gestalten nur als Ausdruck entsprechender Gefühlswerte giebt. Der wahrhaft menschliche innere Gehalt auch der besseren Werke dieser Art, die wenigstens äußerlich die üblichen Handgriffe seelischer Gestaltung nachahmen, ist erschreckend gering; quälende Ge¬ fühle, vielleicht auch über die unwürdige Vergeudung achtnngswerter, bisweilen nicht wertloser Kräfte, verdrießliche Abspannung und wüste Leerheit bleiben nach solchen „Genüssen" im Gemüt zurück; vom wirklich fördernden, das einzig den Gehalt dichterischer Werke ausmachen sollte, findet sich keine Spur. Es ist eine Kunst der bloßen Kontraste, die in unvermittelter Schroffheit aneinandergerückt, nahezu physische Wirkungen hervorbringen. Äußerste Spannung und wollüstige Er¬ mattung, Schauriges Entsetzen und schwelgerische Süßlichkeit reihen diese klugen „Künstler" hintereinander, um des Effekts willen. Effekte aber nutzen sich ab, und um so schneller, je mehr sie gehäuft sind. So sieht sich diese Afterkunst gezwungen, ihre Mittel fortwährend zu steigern, neue Mischungen zu erfinden, immer klotziger, roher drein zu fahren, um die Ansprüche ihrer verzognen Leser zu befriedigen, und da sehen wir, wie die raffinirteste Künstelei in die scheu߬ lichste Rohheit umschlügt. Hier finden sich Dinge, von denen Schlegel, dessen Stufenleiter des Häßlichen wir früher anführten, doch noch keine Ahnung hatte. Zwischen dem Schreiber und dem Publikum findet da ein fvrtlvährender stiller Wettstreit statt, den ein geistvoller Franzose ungefähr so schildert: Der Autor brant immer unverdaulichere Sachen zusammen, und fürchtet fast, das würden sie nicht mehr vertragen; aber das Publikum denkt: habe ich so viel ruhig hin- genommen, so werde ich mich auch davor uicht fürchten, und schluckt geduldig und ohne Würgen die widrige Pille hinunter. Endlich, meinen wir, muß doch ein¬ mal das Erbrechen folgen. Es liegt um Tage, daß solche Werke, die obendrein in den einzelnen Zeituugs- blättern zerstückelt verzehrt werden, auch uicht als ein Ganzes gedacht und entworfen werden. Der Feuilleton Roman zerfällt in zerstückte Einzelteile so gut wie das Feuilleton. Auch sein Bestreben ist Effekt im einzelnen. Eine Wirkung des

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/364
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/364>, abgerufen am 01.07.2024.