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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

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Ohne Ideale.

gcmgenheit dieser Dame, auf die mehrfach angespielt wird, über die sich der Leser
aber mit diesen Andentungen begnügen muß, das alles bedürfte näherer Dar¬
legung. Dagegen schenkten Nur dem Dichter trotz der unverkennbaren Lebens¬
wahrheit der Schilderung gern die Schützerin des Musikers Arscikoff, eine zweifel¬
hafte und durchaus reizlose Dame, deren Herrschaft über den widerstrebenden
Schützling uicht recht begründet und begreiflich erscheint.

Laßt so die Komposition im ganzen das rechte Ebenmaß und die volle
Abrundung vermissen, so sind doch die einzelnen Abschnitte sehr schön ausge¬
arbeitet und manche von ihnen geradezu glänzend geschrieben. So vor allein
die Schilderung des Schachteinbrnchs und der Rettuugsarbeiteu. Hier sind bei
genauer Beachtung der durch deu besondern Beruf gebotenen Nebenumstände und
bei einer, die Bedingungen der Wirklichkeit nie außer Acht lassenden Darstellung
doch die Anforderungen kunstvoller Dichtung nirgends unerfüllt geblieben; kein
Kleben an Äußerlichkeiten langweilt, keine breite Ausmalung überflüssiger Kleinig¬
keiten ermüdet den Leser, und doch ist der ganze thatsächliche Hintergrund mit
voller Bestimmtheit und Anschaulichkeit geschildert, und mit äußerster Spannung
folgt man der fein begründeten psychologischen Entwicklung der Charaktere in
dieser Zeit schwerer Prüfung. Auch andere Partien sind wirklich hervorragende
Leistungen anschaulicher, lebendiger und farbenreicher Darstellung.

Hoher aber steht noch ein andrer Vorzug des Romans. Es spiegelt sich
in ihm, in seinen Gestalten und deren Reden eine geistig hochstehende, mit um¬
fassender Bildung und vielseitigem Interesse ausgestattete Persönlichkeit wieder.
Stern besitzt jene Beweglichkeit und Empfänglichkeit des Geistes, die es ihm er¬
möglicht, den Gestalten, die ihm vorschweben, bis zu einem gewissen Grade nach¬
zuempfinden, und damit den Punkt zu treffen, aus dem heraus sie lebendig zu
machen siud. An manchen Stellen bewirkt zwar diese Angleichung, diese Ver¬
schmelzung der eignen Persönlichkeit des Dichters mit der seiner Geschöpfe auch
eine gewisse Gleichheit ihrer Ausdrucksweise, besonders in den Gesprächen, in
denen die philosophischen Grundlagen des Romans erörtert werden; aber sonst liegt
gerade in diesem feinen nachspüren, dem verständnisvollen Versenken des Dich¬
ters in fremdes Seelenleben ein Hauptreiz, und manche finnige Betrach¬
tung, manche scharfsinnige Bemerkung, mancher ungewöhnlicher Gedanke fesselt
und giebt dem Leser Stoff zu eigenem Nachdenken. Das Ganze ist ein Buch,
das weit über den Durchschnitt hervorragt, uicht selten sogar an das Höchste
hinanreicht, eine fesselnde und bedeutende Schöpfung, deren Genuß noch wesent¬
lich erhöht wird durch die Sprache Sterns, welche durchgehends eine schöne und
durchgebildete ist. Wer einen wirklich gute" Roman lesen will, der lese Sterns
"Ohne Ideale."




Ohne Ideale.

gcmgenheit dieser Dame, auf die mehrfach angespielt wird, über die sich der Leser
aber mit diesen Andentungen begnügen muß, das alles bedürfte näherer Dar¬
legung. Dagegen schenkten Nur dem Dichter trotz der unverkennbaren Lebens¬
wahrheit der Schilderung gern die Schützerin des Musikers Arscikoff, eine zweifel¬
hafte und durchaus reizlose Dame, deren Herrschaft über den widerstrebenden
Schützling uicht recht begründet und begreiflich erscheint.

Laßt so die Komposition im ganzen das rechte Ebenmaß und die volle
Abrundung vermissen, so sind doch die einzelnen Abschnitte sehr schön ausge¬
arbeitet und manche von ihnen geradezu glänzend geschrieben. So vor allein
die Schilderung des Schachteinbrnchs und der Rettuugsarbeiteu. Hier sind bei
genauer Beachtung der durch deu besondern Beruf gebotenen Nebenumstände und
bei einer, die Bedingungen der Wirklichkeit nie außer Acht lassenden Darstellung
doch die Anforderungen kunstvoller Dichtung nirgends unerfüllt geblieben; kein
Kleben an Äußerlichkeiten langweilt, keine breite Ausmalung überflüssiger Kleinig¬
keiten ermüdet den Leser, und doch ist der ganze thatsächliche Hintergrund mit
voller Bestimmtheit und Anschaulichkeit geschildert, und mit äußerster Spannung
folgt man der fein begründeten psychologischen Entwicklung der Charaktere in
dieser Zeit schwerer Prüfung. Auch andere Partien sind wirklich hervorragende
Leistungen anschaulicher, lebendiger und farbenreicher Darstellung.

Hoher aber steht noch ein andrer Vorzug des Romans. Es spiegelt sich
in ihm, in seinen Gestalten und deren Reden eine geistig hochstehende, mit um¬
fassender Bildung und vielseitigem Interesse ausgestattete Persönlichkeit wieder.
Stern besitzt jene Beweglichkeit und Empfänglichkeit des Geistes, die es ihm er¬
möglicht, den Gestalten, die ihm vorschweben, bis zu einem gewissen Grade nach¬
zuempfinden, und damit den Punkt zu treffen, aus dem heraus sie lebendig zu
machen siud. An manchen Stellen bewirkt zwar diese Angleichung, diese Ver¬
schmelzung der eignen Persönlichkeit des Dichters mit der seiner Geschöpfe auch
eine gewisse Gleichheit ihrer Ausdrucksweise, besonders in den Gesprächen, in
denen die philosophischen Grundlagen des Romans erörtert werden; aber sonst liegt
gerade in diesem feinen nachspüren, dem verständnisvollen Versenken des Dich¬
ters in fremdes Seelenleben ein Hauptreiz, und manche finnige Betrach¬
tung, manche scharfsinnige Bemerkung, mancher ungewöhnlicher Gedanke fesselt
und giebt dem Leser Stoff zu eigenem Nachdenken. Das Ganze ist ein Buch,
das weit über den Durchschnitt hervorragt, uicht selten sogar an das Höchste
hinanreicht, eine fesselnde und bedeutende Schöpfung, deren Genuß noch wesent¬
lich erhöht wird durch die Sprache Sterns, welche durchgehends eine schöne und
durchgebildete ist. Wer einen wirklich gute» Roman lesen will, der lese Sterns
„Ohne Ideale."




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/35>, abgerufen am 01.07.2024.