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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

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Der jüngste Tag.

sich aus ihre Mutter bezogen. Und so hatte August, während die andern sich
stritten, ob die Welt untergehen werde oder nicht, das trostlose Gefühl, daß sie
für ihn bereits untergegangen sei. Und dieses Gefühl wurde nicht besser, als
Wilhelmine ihn, zuflüsterte: O, wie hübsch sie doch ist, dieses Mttdchen von
Andersvns! Nicht wahr, August?




Neuntes Kapitel.
Der neue Gesanglehrer.

Er singt wie eine Euligall.

Jonas Harrison lehnte sich gegen den Vrunnenschwengel und unterhielt sich
und Chnthy Ann. Er war unten im Kramladen von Brayville gewesen, wie er"
sagte, und hatte zugehört, wie die Leute über den Millerismns diskntirten, und
einen neuen Gesanglehrer dort gesehen. Konnte er gut singen? fragte Cynthy,
mehr um die Unterhaltung zu verlängern als um sich über deu genannten zu
belehren.

Glaube, singt wie 'ne Euligall. Hat mehr Petschafte an seiner Uhrkette
hängen als ich in meinem Leben gesehen. Sitzt ihm ein Schnurrbnrt an der
ersten Etage über dem Muri, ein Ding, wie ein Büschel Gras auf dem Dache
eines alten Küchenschnppens. Hübsch, nicht? Er ist der hübscheste Kerl, den ich
jemals gesehen. Aber er ist kein Gesanglehrer -- wenigstens nicht, wenn ich
was von Rüben und Rüben verstehe. Der ist nicht dazu geboren, seiner Zeit
und seinem Vaterlande mit der Stimmgabel zu dienen. Ich denke, er hat die
Absicht, hier herum ein bischen im Trüben zu fischen, und spielt bloß den Sing-
lehrer. Will ein Pferd darauf verwelken, daß er mehr als eine Fiedel spielen
kann. Sagt, er wäre hierher gekommen von wegen seiner Gesundheit, und ich
glaube, das ist richtig. Denke, wenn er geblieben wäre, wo er war, so hätte
er 'ne Weile die Stube hüten müssen, und diese Stube wäre aM Ende viel¬
leicht nnr neun Fuß lang und fünf breit gewesen, düster beleuchtet und ärmlich
möblirt, mit einer eisernen Thür und Gitter vor deu Fenstern und nicht viel
Aussicht auf Bewegung in der frischen Luft.

Sei doch kein solcher Unchrist, Jonas, ich bitte dich. Wir sind alle arme
Sünder, glaub ich, und du weißt, daß christliche Liebe sich nichts böses denkt.
Der Mann kann ganz gut sein, auch wenn er Haare auf der Lippe trägt. Die
christliche Liebe deckt eine Menge von Sünden zu.

Ja, aber die christliche Liebe bedeckt keinen Wolf mit Lämmerwolle. Und
wenn er nicht ein Wolf in Wolle ist, so giebts keine Schlangen in Jersey, wie
Rotkäppchen sagte, als ihr Grvßmütterchen ihr den Kopf abzubeißen versuchte.
Ich bin höllisch eingenommen für christliche Nächstenliebe und gedenke ihr bei
jeder Wahl meine Stimme zu geben, aber Scheuklappen lasse ich mir von ihr


Der jüngste Tag.

sich aus ihre Mutter bezogen. Und so hatte August, während die andern sich
stritten, ob die Welt untergehen werde oder nicht, das trostlose Gefühl, daß sie
für ihn bereits untergegangen sei. Und dieses Gefühl wurde nicht besser, als
Wilhelmine ihn, zuflüsterte: O, wie hübsch sie doch ist, dieses Mttdchen von
Andersvns! Nicht wahr, August?




Neuntes Kapitel.
Der neue Gesanglehrer.

Er singt wie eine Euligall.

Jonas Harrison lehnte sich gegen den Vrunnenschwengel und unterhielt sich
und Chnthy Ann. Er war unten im Kramladen von Brayville gewesen, wie er"
sagte, und hatte zugehört, wie die Leute über den Millerismns diskntirten, und
einen neuen Gesanglehrer dort gesehen. Konnte er gut singen? fragte Cynthy,
mehr um die Unterhaltung zu verlängern als um sich über deu genannten zu
belehren.

Glaube, singt wie 'ne Euligall. Hat mehr Petschafte an seiner Uhrkette
hängen als ich in meinem Leben gesehen. Sitzt ihm ein Schnurrbnrt an der
ersten Etage über dem Muri, ein Ding, wie ein Büschel Gras auf dem Dache
eines alten Küchenschnppens. Hübsch, nicht? Er ist der hübscheste Kerl, den ich
jemals gesehen. Aber er ist kein Gesanglehrer — wenigstens nicht, wenn ich
was von Rüben und Rüben verstehe. Der ist nicht dazu geboren, seiner Zeit
und seinem Vaterlande mit der Stimmgabel zu dienen. Ich denke, er hat die
Absicht, hier herum ein bischen im Trüben zu fischen, und spielt bloß den Sing-
lehrer. Will ein Pferd darauf verwelken, daß er mehr als eine Fiedel spielen
kann. Sagt, er wäre hierher gekommen von wegen seiner Gesundheit, und ich
glaube, das ist richtig. Denke, wenn er geblieben wäre, wo er war, so hätte
er 'ne Weile die Stube hüten müssen, und diese Stube wäre aM Ende viel¬
leicht nnr neun Fuß lang und fünf breit gewesen, düster beleuchtet und ärmlich
möblirt, mit einer eisernen Thür und Gitter vor deu Fenstern und nicht viel
Aussicht auf Bewegung in der frischen Luft.

Sei doch kein solcher Unchrist, Jonas, ich bitte dich. Wir sind alle arme
Sünder, glaub ich, und du weißt, daß christliche Liebe sich nichts böses denkt.
Der Mann kann ganz gut sein, auch wenn er Haare auf der Lippe trägt. Die
christliche Liebe deckt eine Menge von Sünden zu.

Ja, aber die christliche Liebe bedeckt keinen Wolf mit Lämmerwolle. Und
wenn er nicht ein Wolf in Wolle ist, so giebts keine Schlangen in Jersey, wie
Rotkäppchen sagte, als ihr Grvßmütterchen ihr den Kopf abzubeißen versuchte.
Ich bin höllisch eingenommen für christliche Nächstenliebe und gedenke ihr bei
jeder Wahl meine Stimme zu geben, aber Scheuklappen lasse ich mir von ihr


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[0334] Der jüngste Tag. sich aus ihre Mutter bezogen. Und so hatte August, während die andern sich stritten, ob die Welt untergehen werde oder nicht, das trostlose Gefühl, daß sie für ihn bereits untergegangen sei. Und dieses Gefühl wurde nicht besser, als Wilhelmine ihn, zuflüsterte: O, wie hübsch sie doch ist, dieses Mttdchen von Andersvns! Nicht wahr, August? Neuntes Kapitel. Der neue Gesanglehrer. Er singt wie eine Euligall. Jonas Harrison lehnte sich gegen den Vrunnenschwengel und unterhielt sich und Chnthy Ann. Er war unten im Kramladen von Brayville gewesen, wie er" sagte, und hatte zugehört, wie die Leute über den Millerismns diskntirten, und einen neuen Gesanglehrer dort gesehen. Konnte er gut singen? fragte Cynthy, mehr um die Unterhaltung zu verlängern als um sich über deu genannten zu belehren. Glaube, singt wie 'ne Euligall. Hat mehr Petschafte an seiner Uhrkette hängen als ich in meinem Leben gesehen. Sitzt ihm ein Schnurrbnrt an der ersten Etage über dem Muri, ein Ding, wie ein Büschel Gras auf dem Dache eines alten Küchenschnppens. Hübsch, nicht? Er ist der hübscheste Kerl, den ich jemals gesehen. Aber er ist kein Gesanglehrer — wenigstens nicht, wenn ich was von Rüben und Rüben verstehe. Der ist nicht dazu geboren, seiner Zeit und seinem Vaterlande mit der Stimmgabel zu dienen. Ich denke, er hat die Absicht, hier herum ein bischen im Trüben zu fischen, und spielt bloß den Sing- lehrer. Will ein Pferd darauf verwelken, daß er mehr als eine Fiedel spielen kann. Sagt, er wäre hierher gekommen von wegen seiner Gesundheit, und ich glaube, das ist richtig. Denke, wenn er geblieben wäre, wo er war, so hätte er 'ne Weile die Stube hüten müssen, und diese Stube wäre aM Ende viel¬ leicht nnr neun Fuß lang und fünf breit gewesen, düster beleuchtet und ärmlich möblirt, mit einer eisernen Thür und Gitter vor deu Fenstern und nicht viel Aussicht auf Bewegung in der frischen Luft. Sei doch kein solcher Unchrist, Jonas, ich bitte dich. Wir sind alle arme Sünder, glaub ich, und du weißt, daß christliche Liebe sich nichts böses denkt. Der Mann kann ganz gut sein, auch wenn er Haare auf der Lippe trägt. Die christliche Liebe deckt eine Menge von Sünden zu. Ja, aber die christliche Liebe bedeckt keinen Wolf mit Lämmerwolle. Und wenn er nicht ein Wolf in Wolle ist, so giebts keine Schlangen in Jersey, wie Rotkäppchen sagte, als ihr Grvßmütterchen ihr den Kopf abzubeißen versuchte. Ich bin höllisch eingenommen für christliche Nächstenliebe und gedenke ihr bei jeder Wahl meine Stimme zu geben, aber Scheuklappen lasse ich mir von ihr

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/334>, abgerufen am 22.07.2024.