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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

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als "die Bescheidenheit des wahren Wissens" gelehrt, und jetzt wurden die un¬
lösbaren Probleme von Jahrhunderten den verlegner Gelehrten aus den Händen
genommen und so summarisch und bestimmt entschieden und gelöst wie die Fragen
nach dem relativen Werte von Kürbissamen und Flintkorn.

Samuel Anderson hatte seinen Mais stets im Vollmond und seine Kar¬
toffeln im Neumond gepflanzt, hatte immer seine Schweine geschlachtet, wenn
der Mond "im Wachsen" war, damit das Fleisch sich nicht ganz und gar in
Fettdrüse verwandeln sollte, und er und seine Frau hatten sich sorgfältig ge¬
hütet, eine Hacke durchs Haus zu tragen, weil sie fürchtete", daß "daun jemand
sterben müsse." Jetzt machte die Predigt des Ältesten einen gewaltigen Eindruck
auf ihn. Sein Leben war immer nicht sowohl ein schlechtes als ein feiges ge¬
wesen, und durch sechs Monate Buße in den Himmel zu gelangen, schien ihm
ein gutes Geschäft zu sein. Außerdem erinnerte er sich, daß die Leute dort
oben nicht freiem und heirateten, und daß infolge dessen Abignil endlich kein
Recht mehr haben würde, ihn zu peinigen. Hnnkins würde ihn mit seinen
Zahlen nicht für den Millerismus gewonnen haben, hätte ihn seine Frau nicht
hineingetrieben, da er das bequemste Mittel war, von ihr geschieden zu werden.
Keine Verdammnis in der zukünftigen Welt hätte ihn: viel Beunruhigung machen
können, wenn sie nicht mit der Aussicht verbunden gewesen wäre, fernerhin den
Herrn und Meister Frau Abigails spielen zu müssen. Und was dieses arme
unterdrückte Weib anlangt, so hatte sie einfach Angst. Sie war gar nicht ge¬
willt, zuzulassen, daß das Ende der Welt sobald eintrete. Da sie etliche garstige
Rechnungen zu begleichen hatte, so hätte sie den Zahltag gern hinausgeschoben.
Frau Anderson konnte in Wahrheit ein Frauenzimmer genannt werden, das Gott
fürchtete -- sie hatte Ursache dazu.

Was August betrifft, so würde er sich aus dein jüngsten Tage nicht viel
gemacht haben, wenn es ihm uur geglückt wäre, von den Augen Juliens einen
Blick der Wiedererkennung zu erhaschen. Aber Julia wagte nicht aufzublicken.
Der Prozeß ihrer Einschüchterung hatte mit ihren Kinderjahren begonnen, und
jetzt stand sie unter einer wahren Schreckensherrschaft. Sie wußte bis jetzt uoch
nicht, daß sie ihrer Mutter Widerstand leisten konnte, und dann lebte sie in
tötlicher Furcht vor der Herzkrankheit ihrer Mutter. Wenn sie sie aufregte,
konnte sie sie töten. Diese Angst vor Muttermord hielt ihre Mutter allezeit bei ihr
wach. Umsonst wartete sie ans eine Gelegenheit, August einen Blick zukommen
zu lassen. Sie kam nicht. Einmal, als ihre Mutter deu Kopf abgewendet
hatte, blickte sie nach August hin. Aber er hörte in diesem Moment gerade
auf eine Bemerkung Jonas Harrisons oder versuch-te es wenigstens. Und Angust,
der die Verhältnisse nicht verstand, konnte sich Juliens scheinbare Kälte nur mit
der Theorie, die ihm Andrews allgemeiner Unglaube in Betreff der Frauen an
die Hand gegeben, oder mit der Vermutung erklären, daß sie sich verletzt gefühlt
hube, als sie begriffen, daß seine harmlose Bemerkung über Andrews Mißgeschick


als „die Bescheidenheit des wahren Wissens" gelehrt, und jetzt wurden die un¬
lösbaren Probleme von Jahrhunderten den verlegner Gelehrten aus den Händen
genommen und so summarisch und bestimmt entschieden und gelöst wie die Fragen
nach dem relativen Werte von Kürbissamen und Flintkorn.

Samuel Anderson hatte seinen Mais stets im Vollmond und seine Kar¬
toffeln im Neumond gepflanzt, hatte immer seine Schweine geschlachtet, wenn
der Mond „im Wachsen" war, damit das Fleisch sich nicht ganz und gar in
Fettdrüse verwandeln sollte, und er und seine Frau hatten sich sorgfältig ge¬
hütet, eine Hacke durchs Haus zu tragen, weil sie fürchtete», daß „daun jemand
sterben müsse." Jetzt machte die Predigt des Ältesten einen gewaltigen Eindruck
auf ihn. Sein Leben war immer nicht sowohl ein schlechtes als ein feiges ge¬
wesen, und durch sechs Monate Buße in den Himmel zu gelangen, schien ihm
ein gutes Geschäft zu sein. Außerdem erinnerte er sich, daß die Leute dort
oben nicht freiem und heirateten, und daß infolge dessen Abignil endlich kein
Recht mehr haben würde, ihn zu peinigen. Hnnkins würde ihn mit seinen
Zahlen nicht für den Millerismus gewonnen haben, hätte ihn seine Frau nicht
hineingetrieben, da er das bequemste Mittel war, von ihr geschieden zu werden.
Keine Verdammnis in der zukünftigen Welt hätte ihn: viel Beunruhigung machen
können, wenn sie nicht mit der Aussicht verbunden gewesen wäre, fernerhin den
Herrn und Meister Frau Abigails spielen zu müssen. Und was dieses arme
unterdrückte Weib anlangt, so hatte sie einfach Angst. Sie war gar nicht ge¬
willt, zuzulassen, daß das Ende der Welt sobald eintrete. Da sie etliche garstige
Rechnungen zu begleichen hatte, so hätte sie den Zahltag gern hinausgeschoben.
Frau Anderson konnte in Wahrheit ein Frauenzimmer genannt werden, das Gott
fürchtete — sie hatte Ursache dazu.

Was August betrifft, so würde er sich aus dein jüngsten Tage nicht viel
gemacht haben, wenn es ihm uur geglückt wäre, von den Augen Juliens einen
Blick der Wiedererkennung zu erhaschen. Aber Julia wagte nicht aufzublicken.
Der Prozeß ihrer Einschüchterung hatte mit ihren Kinderjahren begonnen, und
jetzt stand sie unter einer wahren Schreckensherrschaft. Sie wußte bis jetzt uoch
nicht, daß sie ihrer Mutter Widerstand leisten konnte, und dann lebte sie in
tötlicher Furcht vor der Herzkrankheit ihrer Mutter. Wenn sie sie aufregte,
konnte sie sie töten. Diese Angst vor Muttermord hielt ihre Mutter allezeit bei ihr
wach. Umsonst wartete sie ans eine Gelegenheit, August einen Blick zukommen
zu lassen. Sie kam nicht. Einmal, als ihre Mutter deu Kopf abgewendet
hatte, blickte sie nach August hin. Aber er hörte in diesem Moment gerade
auf eine Bemerkung Jonas Harrisons oder versuch-te es wenigstens. Und Angust,
der die Verhältnisse nicht verstand, konnte sich Juliens scheinbare Kälte nur mit
der Theorie, die ihm Andrews allgemeiner Unglaube in Betreff der Frauen an
die Hand gegeben, oder mit der Vermutung erklären, daß sie sich verletzt gefühlt
hube, als sie begriffen, daß seine harmlose Bemerkung über Andrews Mißgeschick


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[0333] als „die Bescheidenheit des wahren Wissens" gelehrt, und jetzt wurden die un¬ lösbaren Probleme von Jahrhunderten den verlegner Gelehrten aus den Händen genommen und so summarisch und bestimmt entschieden und gelöst wie die Fragen nach dem relativen Werte von Kürbissamen und Flintkorn. Samuel Anderson hatte seinen Mais stets im Vollmond und seine Kar¬ toffeln im Neumond gepflanzt, hatte immer seine Schweine geschlachtet, wenn der Mond „im Wachsen" war, damit das Fleisch sich nicht ganz und gar in Fettdrüse verwandeln sollte, und er und seine Frau hatten sich sorgfältig ge¬ hütet, eine Hacke durchs Haus zu tragen, weil sie fürchtete», daß „daun jemand sterben müsse." Jetzt machte die Predigt des Ältesten einen gewaltigen Eindruck auf ihn. Sein Leben war immer nicht sowohl ein schlechtes als ein feiges ge¬ wesen, und durch sechs Monate Buße in den Himmel zu gelangen, schien ihm ein gutes Geschäft zu sein. Außerdem erinnerte er sich, daß die Leute dort oben nicht freiem und heirateten, und daß infolge dessen Abignil endlich kein Recht mehr haben würde, ihn zu peinigen. Hnnkins würde ihn mit seinen Zahlen nicht für den Millerismus gewonnen haben, hätte ihn seine Frau nicht hineingetrieben, da er das bequemste Mittel war, von ihr geschieden zu werden. Keine Verdammnis in der zukünftigen Welt hätte ihn: viel Beunruhigung machen können, wenn sie nicht mit der Aussicht verbunden gewesen wäre, fernerhin den Herrn und Meister Frau Abigails spielen zu müssen. Und was dieses arme unterdrückte Weib anlangt, so hatte sie einfach Angst. Sie war gar nicht ge¬ willt, zuzulassen, daß das Ende der Welt sobald eintrete. Da sie etliche garstige Rechnungen zu begleichen hatte, so hätte sie den Zahltag gern hinausgeschoben. Frau Anderson konnte in Wahrheit ein Frauenzimmer genannt werden, das Gott fürchtete — sie hatte Ursache dazu. Was August betrifft, so würde er sich aus dein jüngsten Tage nicht viel gemacht haben, wenn es ihm uur geglückt wäre, von den Augen Juliens einen Blick der Wiedererkennung zu erhaschen. Aber Julia wagte nicht aufzublicken. Der Prozeß ihrer Einschüchterung hatte mit ihren Kinderjahren begonnen, und jetzt stand sie unter einer wahren Schreckensherrschaft. Sie wußte bis jetzt uoch nicht, daß sie ihrer Mutter Widerstand leisten konnte, und dann lebte sie in tötlicher Furcht vor der Herzkrankheit ihrer Mutter. Wenn sie sie aufregte, konnte sie sie töten. Diese Angst vor Muttermord hielt ihre Mutter allezeit bei ihr wach. Umsonst wartete sie ans eine Gelegenheit, August einen Blick zukommen zu lassen. Sie kam nicht. Einmal, als ihre Mutter deu Kopf abgewendet hatte, blickte sie nach August hin. Aber er hörte in diesem Moment gerade auf eine Bemerkung Jonas Harrisons oder versuch-te es wenigstens. Und Angust, der die Verhältnisse nicht verstand, konnte sich Juliens scheinbare Kälte nur mit der Theorie, die ihm Andrews allgemeiner Unglaube in Betreff der Frauen an die Hand gegeben, oder mit der Vermutung erklären, daß sie sich verletzt gefühlt hube, als sie begriffen, daß seine harmlose Bemerkung über Andrews Mißgeschick

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/333>, abgerufen am 22.07.2024.