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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

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Amerikanilche Sekten.

Umschwung herbeigeführt, als seit 1869 eine freie Meinungsäußerung über das
Mormonentnm in der Salzseestadt selbst möglich und dem Despotismus Aouugs
ein Ziel gesteckt wurde. Es entstanden Spaltungen innerhalb der "Heiligen."
Aber immer noch hat der Präsident oder "Prophet," gegenwärtig John Taylor,
die Zentralgewalt, und es ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß diejenigen
Berichte, welche von dem nahen Verfall des Mormonentums erzählen, von den
innerhalb wie außerhalb Utahs deu Mormonen feindlichen Elementen ausgegangen
sind. Was endlich das Aufhören der Propaganda in England betrifft, so ist
es eine auffallende Erscheinung, daß gleichzeitig mit den Berichten hierüber auch
Berichte über die enorme Zunahme der "Armee der Seligmncher" eintreffen.
Man las vor kurzem von der Eröffnung einer "Kaserne" der Seligmncher in
London, die etwa 25 000 Pf. Sterl. gekostet hatte, und erfuhr bei dieser Ge¬
legenheit, daß die "Armee" etwa 16 000 "Offiziere" zähle, und daß, wenn es
so fortginge, bald ganz England zu den Seligmachern gehören würde. Die
Seligmacher aber haben, wenn sie auch nicht geradezu Missionäre der Mor¬
monen sein mögen, doch in ihrer Lehre und in ihrem Wesen große Ähnlichkeit mit
der eigentümlichen Schwärmerei, die durch den Mormonismus geht, und sie
stellen jedenfalls eine Ausstrahlung des in allen amerikanischen Sekten zu Tage
tretenden, gegen den Materialismus der alten Welt reagirenden Geistes dar,
eines Geistes, der in wunderlicher Weise aus Mystizismus, Spiritismus und
höchst praktischen Lebensanschauungen gemischt ist und zum Nachdenken, unter
anderm auch über die Resultate der Mischung von drei Rassen, der schwarzen,
roten und weißen Bevölkerung Amerikas, anregt. Berücksichtigt man diesen
durch das ganze Nenamerika fühlbaren Geist, so möchte man wohl der richtigen
Beurteilung des Mormonismus um nächsten kommen, und man möchte dann
einsehen, daß die Mormonen nicht eine vereinzelt stehende Sekte sind, sondern
daß sie nur in besonders prägnanter Form eine Tendenz zum Ausdruck bringen,
die in Millionen von Bewohnern des nördlichen Teiles von Amerika, bald in
dieser, bald in jener Gestalt, mehr oder weniger lebendig ist.

Man erhält bei Beobachtung der in den Selten und im Spiritismus Ame¬
rikas zu Tage tretenden Erscheinungen den Eindruck, als entstünde hier eine
neue Religion, die zwar echt und ganz ursprünglich christlich sein wolle, aber
mit der in Europa für Christentum angesehenen Religion nur noch wenig Ähn¬
lichkeit habe, während sie verschiedene Anschauungen von den Philosophen und
Religionslehrern des alten Indiens und Persiens entlehne. Zwei Momente sind
besonders hervorstechend: einmal das Verwischen der Grenze zwischen Himmel
und Erde und zweitens die religiöse Kultur des Boden. Besonders der letztere
Punkt tritt mächtig in die Erscheinung, und im Gefolge beider ist das verän¬
derte eheliche Verhältnis zu erblicken.

In den Mitteilungen über die verschiedenartigen und oft höchst wunder¬
lichen Sekten in den Vereinigten Staaten wird ein Punkt bei allen übereinstim-


Amerikanilche Sekten.

Umschwung herbeigeführt, als seit 1869 eine freie Meinungsäußerung über das
Mormonentnm in der Salzseestadt selbst möglich und dem Despotismus Aouugs
ein Ziel gesteckt wurde. Es entstanden Spaltungen innerhalb der „Heiligen."
Aber immer noch hat der Präsident oder „Prophet," gegenwärtig John Taylor,
die Zentralgewalt, und es ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß diejenigen
Berichte, welche von dem nahen Verfall des Mormonentums erzählen, von den
innerhalb wie außerhalb Utahs deu Mormonen feindlichen Elementen ausgegangen
sind. Was endlich das Aufhören der Propaganda in England betrifft, so ist
es eine auffallende Erscheinung, daß gleichzeitig mit den Berichten hierüber auch
Berichte über die enorme Zunahme der „Armee der Seligmncher" eintreffen.
Man las vor kurzem von der Eröffnung einer „Kaserne" der Seligmncher in
London, die etwa 25 000 Pf. Sterl. gekostet hatte, und erfuhr bei dieser Ge¬
legenheit, daß die „Armee" etwa 16 000 „Offiziere" zähle, und daß, wenn es
so fortginge, bald ganz England zu den Seligmachern gehören würde. Die
Seligmacher aber haben, wenn sie auch nicht geradezu Missionäre der Mor¬
monen sein mögen, doch in ihrer Lehre und in ihrem Wesen große Ähnlichkeit mit
der eigentümlichen Schwärmerei, die durch den Mormonismus geht, und sie
stellen jedenfalls eine Ausstrahlung des in allen amerikanischen Sekten zu Tage
tretenden, gegen den Materialismus der alten Welt reagirenden Geistes dar,
eines Geistes, der in wunderlicher Weise aus Mystizismus, Spiritismus und
höchst praktischen Lebensanschauungen gemischt ist und zum Nachdenken, unter
anderm auch über die Resultate der Mischung von drei Rassen, der schwarzen,
roten und weißen Bevölkerung Amerikas, anregt. Berücksichtigt man diesen
durch das ganze Nenamerika fühlbaren Geist, so möchte man wohl der richtigen
Beurteilung des Mormonismus um nächsten kommen, und man möchte dann
einsehen, daß die Mormonen nicht eine vereinzelt stehende Sekte sind, sondern
daß sie nur in besonders prägnanter Form eine Tendenz zum Ausdruck bringen,
die in Millionen von Bewohnern des nördlichen Teiles von Amerika, bald in
dieser, bald in jener Gestalt, mehr oder weniger lebendig ist.

Man erhält bei Beobachtung der in den Selten und im Spiritismus Ame¬
rikas zu Tage tretenden Erscheinungen den Eindruck, als entstünde hier eine
neue Religion, die zwar echt und ganz ursprünglich christlich sein wolle, aber
mit der in Europa für Christentum angesehenen Religion nur noch wenig Ähn¬
lichkeit habe, während sie verschiedene Anschauungen von den Philosophen und
Religionslehrern des alten Indiens und Persiens entlehne. Zwei Momente sind
besonders hervorstechend: einmal das Verwischen der Grenze zwischen Himmel
und Erde und zweitens die religiöse Kultur des Boden. Besonders der letztere
Punkt tritt mächtig in die Erscheinung, und im Gefolge beider ist das verän¬
derte eheliche Verhältnis zu erblicken.

In den Mitteilungen über die verschiedenartigen und oft höchst wunder¬
lichen Sekten in den Vereinigten Staaten wird ein Punkt bei allen übereinstim-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/19>, abgerufen am 03.07.2024.