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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

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Bakchen und Thyrsosträger.

Was lernt er? Lernt er auch die Tugend?

Ich war bis jetzt der Überzeugung, daß er sie nicht lerne, sagte der Alte
nachdenklich, aber es könnte wohl sein, daß ich das letzte Wort noch nicht ge¬
hört hätte.

Ach! rief Ephraim seufzend, wer kennt die Geheimnisse der Gottheit? Wer
sind die Bakchen? Ich denke, dn irrst, wenn du meinst, das Tier lerne nicht.
Es lernt als Individuum, und nnr die Gattung bleibt dieselbe. Mit dein Menschen
ist es aber bis jetzt nicht anders gewesen. So lange unsre Organe dieselben
sind, so lange muß notwendigerweise unsre Gattung dieselbe bleiben. Auch sehe"
wir innerhalb der historischen Zeit nicht, daß das Menschengeschlecht sich in
sittlicher Hinsicht entwickelt hätte. Wenn wir gelernt hätten, so müßten doch
wohl die Vorschriften der großen Lehrer der Menschheit, eines Pythagoras, eines
Sokrates, eines Buddha, und in höchster entscheidender Instanz die Lehre Christi
selber jetzt veraltet sein. Wenn wir gelernt hätten, so müßten doch nun wohl
höhere Anforderungen an uns zu stellen sein. Aber im Gegenteil erscheint jene
Lehre noch immer als die höchste und als unerfüllbar. Wenn wir gelernt hätten,
so müßte doch wohl unsre Sprache reicher und ausgebildeter sein als die der
Alten. Und doch habe ich noch nie jemanden behaupten hören, die modernen
europäischen Sprachen seien der griechischen oder auch nur der lateinischen über¬
legen an Vielfältigkeit des Ausdrucks und Feinheit der Gliederung. Wenn wir
hente geistig höher stünden als vor zwei- oder dreitausend Jahren, so müßten
uns doch wohl die Gesänge Homers, die Dramen des Sophokles, die Oden des
Horaz, die Reden des Demosthenes als kindisches Geschwätz erscheinen. Aber
im Gegenteil erfreuen sich daran gerade unsre gebildetsten Geister. Soll ich dir
aber sagen, wie ich denke? Es steht mit dein Menschen folgendermaßen: Die
Vervollkommnung unsers Geschlechts muß mit Notwendigkeit erfolgen, denn die
Gottheit, welche sich selbst mit den Organen unsers Gehirns erkennt, bleibt auf
ihrem Wege nicht stehen. Unsre Organe werden sich veredeln, und darin wird
unsre Entwicklung liegen. Nur müssen wir nicht die Frucht pflücken wollen, ehe
der Baum, der sie tragen soll, Wurzel gefaßt hat. Wir müssen die Lehre unsers
Meisters ernsthaft nehmen. Christus, gleich allen großen Lehrern der Mensch¬
heit, die vor ihm kamen, machte den Gehorsam gegen die Gesetze unsrer Natur
zur Bedingung unsrer Seligkeit, und das haben wir, zweitausend Jahre fast
uachdeiu er es aussprach, noch nicht begriffen. Oder glaubst dn auch, daß sich
Gott durch ihn offenbarte, um sein eignes edelstes Werk auf Erden, die mensch¬
liche Vildnng, für ein seiner Natur nach verfehltes zu erklären? 'Denkst dn um,
daß es den Gesetzen unsrer Natur entspricht, uns von lebendigen Geschöpfen zu
nähren, die uus so ähnlich sind, daß es dir schwer fällt, einen durchgreifenden
Unterschied zwischen ihnen und uns festzustellen? Der scharfsinnige Schopen¬
hauer vermeinte seine Klarheit ans Kants Tiefe zu werfen, Kant selbst verglich
den göttlichen Platon mit einer Taube, die, des leichte" Flügelschlags in der


Bakchen und Thyrsosträger.

Was lernt er? Lernt er auch die Tugend?

Ich war bis jetzt der Überzeugung, daß er sie nicht lerne, sagte der Alte
nachdenklich, aber es könnte wohl sein, daß ich das letzte Wort noch nicht ge¬
hört hätte.

Ach! rief Ephraim seufzend, wer kennt die Geheimnisse der Gottheit? Wer
sind die Bakchen? Ich denke, dn irrst, wenn du meinst, das Tier lerne nicht.
Es lernt als Individuum, und nnr die Gattung bleibt dieselbe. Mit dein Menschen
ist es aber bis jetzt nicht anders gewesen. So lange unsre Organe dieselben
sind, so lange muß notwendigerweise unsre Gattung dieselbe bleiben. Auch sehe»
wir innerhalb der historischen Zeit nicht, daß das Menschengeschlecht sich in
sittlicher Hinsicht entwickelt hätte. Wenn wir gelernt hätten, so müßten doch
wohl die Vorschriften der großen Lehrer der Menschheit, eines Pythagoras, eines
Sokrates, eines Buddha, und in höchster entscheidender Instanz die Lehre Christi
selber jetzt veraltet sein. Wenn wir gelernt hätten, so müßten doch nun wohl
höhere Anforderungen an uns zu stellen sein. Aber im Gegenteil erscheint jene
Lehre noch immer als die höchste und als unerfüllbar. Wenn wir gelernt hätten,
so müßte doch wohl unsre Sprache reicher und ausgebildeter sein als die der
Alten. Und doch habe ich noch nie jemanden behaupten hören, die modernen
europäischen Sprachen seien der griechischen oder auch nur der lateinischen über¬
legen an Vielfältigkeit des Ausdrucks und Feinheit der Gliederung. Wenn wir
hente geistig höher stünden als vor zwei- oder dreitausend Jahren, so müßten
uns doch wohl die Gesänge Homers, die Dramen des Sophokles, die Oden des
Horaz, die Reden des Demosthenes als kindisches Geschwätz erscheinen. Aber
im Gegenteil erfreuen sich daran gerade unsre gebildetsten Geister. Soll ich dir
aber sagen, wie ich denke? Es steht mit dein Menschen folgendermaßen: Die
Vervollkommnung unsers Geschlechts muß mit Notwendigkeit erfolgen, denn die
Gottheit, welche sich selbst mit den Organen unsers Gehirns erkennt, bleibt auf
ihrem Wege nicht stehen. Unsre Organe werden sich veredeln, und darin wird
unsre Entwicklung liegen. Nur müssen wir nicht die Frucht pflücken wollen, ehe
der Baum, der sie tragen soll, Wurzel gefaßt hat. Wir müssen die Lehre unsers
Meisters ernsthaft nehmen. Christus, gleich allen großen Lehrern der Mensch¬
heit, die vor ihm kamen, machte den Gehorsam gegen die Gesetze unsrer Natur
zur Bedingung unsrer Seligkeit, und das haben wir, zweitausend Jahre fast
uachdeiu er es aussprach, noch nicht begriffen. Oder glaubst dn auch, daß sich
Gott durch ihn offenbarte, um sein eignes edelstes Werk auf Erden, die mensch¬
liche Vildnng, für ein seiner Natur nach verfehltes zu erklären? 'Denkst dn um,
daß es den Gesetzen unsrer Natur entspricht, uns von lebendigen Geschöpfen zu
nähren, die uus so ähnlich sind, daß es dir schwer fällt, einen durchgreifenden
Unterschied zwischen ihnen und uns festzustellen? Der scharfsinnige Schopen¬
hauer vermeinte seine Klarheit ans Kants Tiefe zu werfen, Kant selbst verglich
den göttlichen Platon mit einer Taube, die, des leichte» Flügelschlags in der


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[0148] Bakchen und Thyrsosträger. Was lernt er? Lernt er auch die Tugend? Ich war bis jetzt der Überzeugung, daß er sie nicht lerne, sagte der Alte nachdenklich, aber es könnte wohl sein, daß ich das letzte Wort noch nicht ge¬ hört hätte. Ach! rief Ephraim seufzend, wer kennt die Geheimnisse der Gottheit? Wer sind die Bakchen? Ich denke, dn irrst, wenn du meinst, das Tier lerne nicht. Es lernt als Individuum, und nnr die Gattung bleibt dieselbe. Mit dein Menschen ist es aber bis jetzt nicht anders gewesen. So lange unsre Organe dieselben sind, so lange muß notwendigerweise unsre Gattung dieselbe bleiben. Auch sehe» wir innerhalb der historischen Zeit nicht, daß das Menschengeschlecht sich in sittlicher Hinsicht entwickelt hätte. Wenn wir gelernt hätten, so müßten doch wohl die Vorschriften der großen Lehrer der Menschheit, eines Pythagoras, eines Sokrates, eines Buddha, und in höchster entscheidender Instanz die Lehre Christi selber jetzt veraltet sein. Wenn wir gelernt hätten, so müßten doch nun wohl höhere Anforderungen an uns zu stellen sein. Aber im Gegenteil erscheint jene Lehre noch immer als die höchste und als unerfüllbar. Wenn wir gelernt hätten, so müßte doch wohl unsre Sprache reicher und ausgebildeter sein als die der Alten. Und doch habe ich noch nie jemanden behaupten hören, die modernen europäischen Sprachen seien der griechischen oder auch nur der lateinischen über¬ legen an Vielfältigkeit des Ausdrucks und Feinheit der Gliederung. Wenn wir hente geistig höher stünden als vor zwei- oder dreitausend Jahren, so müßten uns doch wohl die Gesänge Homers, die Dramen des Sophokles, die Oden des Horaz, die Reden des Demosthenes als kindisches Geschwätz erscheinen. Aber im Gegenteil erfreuen sich daran gerade unsre gebildetsten Geister. Soll ich dir aber sagen, wie ich denke? Es steht mit dein Menschen folgendermaßen: Die Vervollkommnung unsers Geschlechts muß mit Notwendigkeit erfolgen, denn die Gottheit, welche sich selbst mit den Organen unsers Gehirns erkennt, bleibt auf ihrem Wege nicht stehen. Unsre Organe werden sich veredeln, und darin wird unsre Entwicklung liegen. Nur müssen wir nicht die Frucht pflücken wollen, ehe der Baum, der sie tragen soll, Wurzel gefaßt hat. Wir müssen die Lehre unsers Meisters ernsthaft nehmen. Christus, gleich allen großen Lehrern der Mensch¬ heit, die vor ihm kamen, machte den Gehorsam gegen die Gesetze unsrer Natur zur Bedingung unsrer Seligkeit, und das haben wir, zweitausend Jahre fast uachdeiu er es aussprach, noch nicht begriffen. Oder glaubst dn auch, daß sich Gott durch ihn offenbarte, um sein eignes edelstes Werk auf Erden, die mensch¬ liche Vildnng, für ein seiner Natur nach verfehltes zu erklären? 'Denkst dn um, daß es den Gesetzen unsrer Natur entspricht, uns von lebendigen Geschöpfen zu nähren, die uus so ähnlich sind, daß es dir schwer fällt, einen durchgreifenden Unterschied zwischen ihnen und uns festzustellen? Der scharfsinnige Schopen¬ hauer vermeinte seine Klarheit ans Kants Tiefe zu werfen, Kant selbst verglich den göttlichen Platon mit einer Taube, die, des leichte» Flügelschlags in der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/148>, abgerufen am 01.07.2024.