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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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Avia und der Naturalismus auf dem Theater.

Wenn es aber eine Angemessenheit giebt, der sich die Naturwahrheit unter¬
zuordnen hat, durch was könnte sie wohl anders bestimmt werden, als durch
Natur und Wesen der Mittel und Zwecke der Kunst? Ist doch schon der Mensch
selbst in Wirklichkeit kein bloßes Product der Natur, sondern zugleich der Cultur;
ist doch die Kunst ebenfalls eines ihrer Erzeugnisse, eine von ihren Formen, Nicht
daß die Cultur etwas Unanfechtbares wäre, nicht als ob sie sich nicht ebenfalls
mißbrauchen ließe wie alles andere. Dies geschieht jedoch immer nur, wenn
sie von ihren eignen Zwecken abfällt, die jederzeit geistiger Art sind und denen
sie die Natur zu unterwerfen hat, soweit sie dieselbe nicht zu ihnen erhebt. Die
Sprache insbesondre ist ebenfalls schon ein Culturproduct, welches die Kunst
nur zu einem neuen Culturzweck ergreift, und sie sollte dabei nicht diesem Zwecke
gemäß behandelt und gestaltet werden dürfen? Der Franzose mag gut thun,
den Alexandriner im Drama ganz für die Prosa aufzugeben, nicht weil er ein
Vers, fondern weil er kein dramatischer Vers ist. Wir Deutschen werden aus
dem entgegengesetzten Grunde besser thun, an unserm dramatischen Verse soweit
festzuhalten, als er dem besondern dramatischen Zwecke entspricht. Nur würde es
eben so thöricht sein, die Prosa davon ausschließen zu wollen, weil die Sprache
der Bühne, selbst wo sie am volksthümlichsten erscheinen will, sich doch noch
von der des gemeinen Lebens zu unterscheiden hat. Selbst im Vers und im
Vortrag des Verses wird man die Natur aber durchklingen hören müssen, wird
man Wahrheit der Empfindung und des Ausdrucks verlangen können. Hiergegen
fehlt allerdings die Sprache der Bühne sehr oft. Ein affectirtes, gekünsteltes
Pathos tritt an die Stelle des echten, eine pedantische schulmeisterliche Aussprache
an die Stelle der natürlichen Reinheit und Schönheit, die musikalische Decla-
mation an die Stelle der Beredsamkeit der Empfindung. "Man ist -- sagt
Zola -- an das Falsche, an das Conventionelle der Bühne so gewöhnt, daß
das Publicum davon nicht mehr berührt wird. Alle falschen Effecte erregen
seine Bewunderung. Es zollt ihnen Beifall, indem es darin die Wahrheit sieht
und ist durch die Wahrheit beleidigt, die es als Uebertreibung verurtheilt. Das
Urtheil ist durch eine hundertjährige Gewöhnung verdorben; daher die Hart¬
näckigkeit, mit der man an dem Hergebrachten festhält."

Welches aber ist um das Drama, das Zola von den Dichtern der Gegen¬
wart und der Zukunft verlangt? Zunächst verwahrt sich derselbe dagegen, mit dem
Worte Naturalismus etwas ganz neues bezeichnen gewollt zu haben, als ob man die
Natur und die Wahrheit im Drama nicht schon früher gesucht hätte. "Gewiß
-- heißt es hier -- habe ich keine neue Religion in der Tasche. Ich will
nichts offenbaren, scholl weil ich an dergleichen Offenbarungen nicht glaube.
Ich erfinde nicht, weil ich es für nützlicher halte, den Impulsen zu folgen,
welche die Menschheit bewegen, der ununterbrochenen Evolution, die uns mit
sich fortreißt. Meine Aufgabe als Kritiker ist lediglich, zu untersuchen, woher
wir kommen und wo wir siud. Wenn ich es wage, auch noch voraussehen zu


Avia und der Naturalismus auf dem Theater.

Wenn es aber eine Angemessenheit giebt, der sich die Naturwahrheit unter¬
zuordnen hat, durch was könnte sie wohl anders bestimmt werden, als durch
Natur und Wesen der Mittel und Zwecke der Kunst? Ist doch schon der Mensch
selbst in Wirklichkeit kein bloßes Product der Natur, sondern zugleich der Cultur;
ist doch die Kunst ebenfalls eines ihrer Erzeugnisse, eine von ihren Formen, Nicht
daß die Cultur etwas Unanfechtbares wäre, nicht als ob sie sich nicht ebenfalls
mißbrauchen ließe wie alles andere. Dies geschieht jedoch immer nur, wenn
sie von ihren eignen Zwecken abfällt, die jederzeit geistiger Art sind und denen
sie die Natur zu unterwerfen hat, soweit sie dieselbe nicht zu ihnen erhebt. Die
Sprache insbesondre ist ebenfalls schon ein Culturproduct, welches die Kunst
nur zu einem neuen Culturzweck ergreift, und sie sollte dabei nicht diesem Zwecke
gemäß behandelt und gestaltet werden dürfen? Der Franzose mag gut thun,
den Alexandriner im Drama ganz für die Prosa aufzugeben, nicht weil er ein
Vers, fondern weil er kein dramatischer Vers ist. Wir Deutschen werden aus
dem entgegengesetzten Grunde besser thun, an unserm dramatischen Verse soweit
festzuhalten, als er dem besondern dramatischen Zwecke entspricht. Nur würde es
eben so thöricht sein, die Prosa davon ausschließen zu wollen, weil die Sprache
der Bühne, selbst wo sie am volksthümlichsten erscheinen will, sich doch noch
von der des gemeinen Lebens zu unterscheiden hat. Selbst im Vers und im
Vortrag des Verses wird man die Natur aber durchklingen hören müssen, wird
man Wahrheit der Empfindung und des Ausdrucks verlangen können. Hiergegen
fehlt allerdings die Sprache der Bühne sehr oft. Ein affectirtes, gekünsteltes
Pathos tritt an die Stelle des echten, eine pedantische schulmeisterliche Aussprache
an die Stelle der natürlichen Reinheit und Schönheit, die musikalische Decla-
mation an die Stelle der Beredsamkeit der Empfindung. „Man ist — sagt
Zola — an das Falsche, an das Conventionelle der Bühne so gewöhnt, daß
das Publicum davon nicht mehr berührt wird. Alle falschen Effecte erregen
seine Bewunderung. Es zollt ihnen Beifall, indem es darin die Wahrheit sieht
und ist durch die Wahrheit beleidigt, die es als Uebertreibung verurtheilt. Das
Urtheil ist durch eine hundertjährige Gewöhnung verdorben; daher die Hart¬
näckigkeit, mit der man an dem Hergebrachten festhält."

Welches aber ist um das Drama, das Zola von den Dichtern der Gegen¬
wart und der Zukunft verlangt? Zunächst verwahrt sich derselbe dagegen, mit dem
Worte Naturalismus etwas ganz neues bezeichnen gewollt zu haben, als ob man die
Natur und die Wahrheit im Drama nicht schon früher gesucht hätte. „Gewiß
— heißt es hier — habe ich keine neue Religion in der Tasche. Ich will
nichts offenbaren, scholl weil ich an dergleichen Offenbarungen nicht glaube.
Ich erfinde nicht, weil ich es für nützlicher halte, den Impulsen zu folgen,
welche die Menschheit bewegen, der ununterbrochenen Evolution, die uns mit
sich fortreißt. Meine Aufgabe als Kritiker ist lediglich, zu untersuchen, woher
wir kommen und wo wir siud. Wenn ich es wage, auch noch voraussehen zu


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[0319] Avia und der Naturalismus auf dem Theater. Wenn es aber eine Angemessenheit giebt, der sich die Naturwahrheit unter¬ zuordnen hat, durch was könnte sie wohl anders bestimmt werden, als durch Natur und Wesen der Mittel und Zwecke der Kunst? Ist doch schon der Mensch selbst in Wirklichkeit kein bloßes Product der Natur, sondern zugleich der Cultur; ist doch die Kunst ebenfalls eines ihrer Erzeugnisse, eine von ihren Formen, Nicht daß die Cultur etwas Unanfechtbares wäre, nicht als ob sie sich nicht ebenfalls mißbrauchen ließe wie alles andere. Dies geschieht jedoch immer nur, wenn sie von ihren eignen Zwecken abfällt, die jederzeit geistiger Art sind und denen sie die Natur zu unterwerfen hat, soweit sie dieselbe nicht zu ihnen erhebt. Die Sprache insbesondre ist ebenfalls schon ein Culturproduct, welches die Kunst nur zu einem neuen Culturzweck ergreift, und sie sollte dabei nicht diesem Zwecke gemäß behandelt und gestaltet werden dürfen? Der Franzose mag gut thun, den Alexandriner im Drama ganz für die Prosa aufzugeben, nicht weil er ein Vers, fondern weil er kein dramatischer Vers ist. Wir Deutschen werden aus dem entgegengesetzten Grunde besser thun, an unserm dramatischen Verse soweit festzuhalten, als er dem besondern dramatischen Zwecke entspricht. Nur würde es eben so thöricht sein, die Prosa davon ausschließen zu wollen, weil die Sprache der Bühne, selbst wo sie am volksthümlichsten erscheinen will, sich doch noch von der des gemeinen Lebens zu unterscheiden hat. Selbst im Vers und im Vortrag des Verses wird man die Natur aber durchklingen hören müssen, wird man Wahrheit der Empfindung und des Ausdrucks verlangen können. Hiergegen fehlt allerdings die Sprache der Bühne sehr oft. Ein affectirtes, gekünsteltes Pathos tritt an die Stelle des echten, eine pedantische schulmeisterliche Aussprache an die Stelle der natürlichen Reinheit und Schönheit, die musikalische Decla- mation an die Stelle der Beredsamkeit der Empfindung. „Man ist — sagt Zola — an das Falsche, an das Conventionelle der Bühne so gewöhnt, daß das Publicum davon nicht mehr berührt wird. Alle falschen Effecte erregen seine Bewunderung. Es zollt ihnen Beifall, indem es darin die Wahrheit sieht und ist durch die Wahrheit beleidigt, die es als Uebertreibung verurtheilt. Das Urtheil ist durch eine hundertjährige Gewöhnung verdorben; daher die Hart¬ näckigkeit, mit der man an dem Hergebrachten festhält." Welches aber ist um das Drama, das Zola von den Dichtern der Gegen¬ wart und der Zukunft verlangt? Zunächst verwahrt sich derselbe dagegen, mit dem Worte Naturalismus etwas ganz neues bezeichnen gewollt zu haben, als ob man die Natur und die Wahrheit im Drama nicht schon früher gesucht hätte. „Gewiß — heißt es hier — habe ich keine neue Religion in der Tasche. Ich will nichts offenbaren, scholl weil ich an dergleichen Offenbarungen nicht glaube. Ich erfinde nicht, weil ich es für nützlicher halte, den Impulsen zu folgen, welche die Menschheit bewegen, der ununterbrochenen Evolution, die uns mit sich fortreißt. Meine Aufgabe als Kritiker ist lediglich, zu untersuchen, woher wir kommen und wo wir siud. Wenn ich es wage, auch noch voraussehen zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/319>, abgerufen am 15.01.2025.