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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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Lin englisches Actenstück über den deutschen Schulgosang.

Jahren und weiter zurück über seinen schlechten Zustand? Ja, das ist leider
richtig. Er ist schon seit Jahrhunderten so gewesen, wie er heute ist. Indeß
hat es auch Zeiten gegeben, wo mehr auf ihn gehalten wurde. "Alle älteren
Schulordnungen -- sagt Forkel -- können dies beweisen." Am besten vielleicht
die Lübcckische vom Jahre 1531, welche den berühmten Joh. Bugenhcigc" zum
Verfasser hat. Um 12 Uhr alle Tage (heißt es darin) soll der Cantor alle
Jungen, große und kleine, singen lehren. . . Ihm sollen die vier Pädagogi,
die in den Kirchen singen müssen, wechselsweise nach Gelegenheit helfen.
"Daß also die Kinder in der Musik lustig und wohlgeübt werden, wodurch sie
auch wackere und geschickte Kinder werden, andere Künste") zu lernen." Gesetzt
aber auch, der Gesangunterricht wäre nie in einem bessern Zustande gewesen als
hente, so wäre dies kein Grund, ihn so zu lassen. Denn die Verhältnisse liegen
anders. Will man den Vergleich zwischen heute und früher richtig ziehen, so
darf man vor allen Dingen nicht die Surrenden und die Alumnenchöre vergessen,
welche die niedern und die höhern Schulen noch vor hundert, vor fünfzig, ja
vor fünfundzwanzig Jahren fast allenthalben in Deutschland der Kirche und der
Sitte der Zeit zu stellen hatten. Diese Gurrenden und Chorschüler in den
Dörfern und den kleinen Städten, diese Alnmnenchöre in den Gymnasien faßten
den musikalisch befähigtsten Theil der Jugend zusammen. Sie wurden vom
Cantor wacker und kunstgerecht in zahlreichen Extrastunden gedrillt. War dem¬
nach der Gesangunterricht für das Gros der SchuNasscn nicht besser und schlechter
als heute, so gab es doch bei jeder Schule noch eine musikalische Elite, die mehr
lernte, die häufig sehr vieles und gründliches lernte. Wenn'diese ehemaligen
Chorschüler dann ins bürgerliche Leben eintraten, brachten sie in die Familien
ein zuverlässiges und fruchttragendes musikalisches Element mit, und ihre Kinder
zogen sie auf in Liebe zu der herrlichen Kunst, welche Jahrhunderte lang dem
deutschen Volke zum besondern Ruhme gereicht hat. Bis in die Mitte des lau¬
fenden Jahrhunderts finden sich unter den besten Musikern viele, welche aus
solchen Schulchören hervorgegangen sind. Diese Schülerchöre sind hente bis auf
einzelne Reste verschwunden, und ans den Schulen giebt es außer dem allge¬
meinen Gesangunterricht keine besondern Stunden mehr für die musikalisch an¬
gelegten Geister. Der gefänglich und musikalisch besser geschulte Procentsatz,
welcher der frühern Zeit zur Verfügung stand, fehlt der Gegenwart. Schon aus
diesem Grunde sollte der allgemeine Gesangunterricht in den Schulen so gut als
möglich sein.

Unsre Zeit bietet also weniger an musikalischer Vorbildung der Jugend
während der Schulzeit. Im directen Widerspruch hierzu verlangt sie aber viel
mehr. Um das deutlich zu machen, sei nur daran erinnert, wie sich die Formen
der öffentlichen Musikpflege verändert haben, wie die neumodischen Concerte



*) Kunst, im alten Sinne, begreift hier alle Schnldisciplincn in sich.
Lin englisches Actenstück über den deutschen Schulgosang.

Jahren und weiter zurück über seinen schlechten Zustand? Ja, das ist leider
richtig. Er ist schon seit Jahrhunderten so gewesen, wie er heute ist. Indeß
hat es auch Zeiten gegeben, wo mehr auf ihn gehalten wurde. „Alle älteren
Schulordnungen — sagt Forkel — können dies beweisen." Am besten vielleicht
die Lübcckische vom Jahre 1531, welche den berühmten Joh. Bugenhcigc» zum
Verfasser hat. Um 12 Uhr alle Tage (heißt es darin) soll der Cantor alle
Jungen, große und kleine, singen lehren. . . Ihm sollen die vier Pädagogi,
die in den Kirchen singen müssen, wechselsweise nach Gelegenheit helfen.
„Daß also die Kinder in der Musik lustig und wohlgeübt werden, wodurch sie
auch wackere und geschickte Kinder werden, andere Künste") zu lernen." Gesetzt
aber auch, der Gesangunterricht wäre nie in einem bessern Zustande gewesen als
hente, so wäre dies kein Grund, ihn so zu lassen. Denn die Verhältnisse liegen
anders. Will man den Vergleich zwischen heute und früher richtig ziehen, so
darf man vor allen Dingen nicht die Surrenden und die Alumnenchöre vergessen,
welche die niedern und die höhern Schulen noch vor hundert, vor fünfzig, ja
vor fünfundzwanzig Jahren fast allenthalben in Deutschland der Kirche und der
Sitte der Zeit zu stellen hatten. Diese Gurrenden und Chorschüler in den
Dörfern und den kleinen Städten, diese Alnmnenchöre in den Gymnasien faßten
den musikalisch befähigtsten Theil der Jugend zusammen. Sie wurden vom
Cantor wacker und kunstgerecht in zahlreichen Extrastunden gedrillt. War dem¬
nach der Gesangunterricht für das Gros der SchuNasscn nicht besser und schlechter
als heute, so gab es doch bei jeder Schule noch eine musikalische Elite, die mehr
lernte, die häufig sehr vieles und gründliches lernte. Wenn'diese ehemaligen
Chorschüler dann ins bürgerliche Leben eintraten, brachten sie in die Familien
ein zuverlässiges und fruchttragendes musikalisches Element mit, und ihre Kinder
zogen sie auf in Liebe zu der herrlichen Kunst, welche Jahrhunderte lang dem
deutschen Volke zum besondern Ruhme gereicht hat. Bis in die Mitte des lau¬
fenden Jahrhunderts finden sich unter den besten Musikern viele, welche aus
solchen Schulchören hervorgegangen sind. Diese Schülerchöre sind hente bis auf
einzelne Reste verschwunden, und ans den Schulen giebt es außer dem allge¬
meinen Gesangunterricht keine besondern Stunden mehr für die musikalisch an¬
gelegten Geister. Der gefänglich und musikalisch besser geschulte Procentsatz,
welcher der frühern Zeit zur Verfügung stand, fehlt der Gegenwart. Schon aus
diesem Grunde sollte der allgemeine Gesangunterricht in den Schulen so gut als
möglich sein.

Unsre Zeit bietet also weniger an musikalischer Vorbildung der Jugend
während der Schulzeit. Im directen Widerspruch hierzu verlangt sie aber viel
mehr. Um das deutlich zu machen, sei nur daran erinnert, wie sich die Formen
der öffentlichen Musikpflege verändert haben, wie die neumodischen Concerte



*) Kunst, im alten Sinne, begreift hier alle Schnldisciplincn in sich.
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[0170] Lin englisches Actenstück über den deutschen Schulgosang. Jahren und weiter zurück über seinen schlechten Zustand? Ja, das ist leider richtig. Er ist schon seit Jahrhunderten so gewesen, wie er heute ist. Indeß hat es auch Zeiten gegeben, wo mehr auf ihn gehalten wurde. „Alle älteren Schulordnungen — sagt Forkel — können dies beweisen." Am besten vielleicht die Lübcckische vom Jahre 1531, welche den berühmten Joh. Bugenhcigc» zum Verfasser hat. Um 12 Uhr alle Tage (heißt es darin) soll der Cantor alle Jungen, große und kleine, singen lehren. . . Ihm sollen die vier Pädagogi, die in den Kirchen singen müssen, wechselsweise nach Gelegenheit helfen. „Daß also die Kinder in der Musik lustig und wohlgeübt werden, wodurch sie auch wackere und geschickte Kinder werden, andere Künste") zu lernen." Gesetzt aber auch, der Gesangunterricht wäre nie in einem bessern Zustande gewesen als hente, so wäre dies kein Grund, ihn so zu lassen. Denn die Verhältnisse liegen anders. Will man den Vergleich zwischen heute und früher richtig ziehen, so darf man vor allen Dingen nicht die Surrenden und die Alumnenchöre vergessen, welche die niedern und die höhern Schulen noch vor hundert, vor fünfzig, ja vor fünfundzwanzig Jahren fast allenthalben in Deutschland der Kirche und der Sitte der Zeit zu stellen hatten. Diese Gurrenden und Chorschüler in den Dörfern und den kleinen Städten, diese Alnmnenchöre in den Gymnasien faßten den musikalisch befähigtsten Theil der Jugend zusammen. Sie wurden vom Cantor wacker und kunstgerecht in zahlreichen Extrastunden gedrillt. War dem¬ nach der Gesangunterricht für das Gros der SchuNasscn nicht besser und schlechter als heute, so gab es doch bei jeder Schule noch eine musikalische Elite, die mehr lernte, die häufig sehr vieles und gründliches lernte. Wenn'diese ehemaligen Chorschüler dann ins bürgerliche Leben eintraten, brachten sie in die Familien ein zuverlässiges und fruchttragendes musikalisches Element mit, und ihre Kinder zogen sie auf in Liebe zu der herrlichen Kunst, welche Jahrhunderte lang dem deutschen Volke zum besondern Ruhme gereicht hat. Bis in die Mitte des lau¬ fenden Jahrhunderts finden sich unter den besten Musikern viele, welche aus solchen Schulchören hervorgegangen sind. Diese Schülerchöre sind hente bis auf einzelne Reste verschwunden, und ans den Schulen giebt es außer dem allge¬ meinen Gesangunterricht keine besondern Stunden mehr für die musikalisch an¬ gelegten Geister. Der gefänglich und musikalisch besser geschulte Procentsatz, welcher der frühern Zeit zur Verfügung stand, fehlt der Gegenwart. Schon aus diesem Grunde sollte der allgemeine Gesangunterricht in den Schulen so gut als möglich sein. Unsre Zeit bietet also weniger an musikalischer Vorbildung der Jugend während der Schulzeit. Im directen Widerspruch hierzu verlangt sie aber viel mehr. Um das deutlich zu machen, sei nur daran erinnert, wie sich die Formen der öffentlichen Musikpflege verändert haben, wie die neumodischen Concerte *) Kunst, im alten Sinne, begreift hier alle Schnldisciplincn in sich.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/170>, abgerufen am 15.01.2025.