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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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Agitation nicht inzwischen den positiven Mitteln erlegen ist, welche die Regierung
vorgeschlagen hat. Der Rechenschaftsbericht des Ministers über die Handhabung
des Octobergesetzes von 1878 hat dargethan, daß die socialistische Bewegung
sich bis 1880 keineswegs erheblich vermindert hat. Die Nothwendigkeit einer
Fortdauer des Ausnahmezustandes war damit hinlänglich bewiesen, aber andrer¬
seits auch die Unmöglichkeit, mit polizeilichen Maßregeln allein die Bewegung
todt zu machen oder doch ihrer Gefährlichkeit zu entkleiden. Durch negative
Mittel wird der socialen Frage der Stachel nur für den Augenblick abgebrochen.
Eine wirkliche Ausgleichung oder Annäherung der Gegensätze ist lediglich durch
Positives Entgegenkommen zu erreichen.

Dies war schon bei den ersten Erörterungen der Sache im Reichstage
geltend gemacht worden. "Die nationalliberale Partei erkannte," wie unsre
Schrift berichtet, "an, daß die Socialdemokratie niemals solche Erfolge unter
den Arbeitern errungen hätte, wenn diese nicht unter der Last der Noth und
Hoffnungslosigkeit gegenüber dem herrschenden Systeme durchweg der schwersten
Verbitterung und theilweise schon glühendem Hasse verfallen gewesen wären.
Allein man konnte sich zunächst doch nur zu halben Maßregeln verstehen; denn
als etwas andres kann das Haftpflichtgesetz von 1871, um von dem Hilfscassen-
wesen und andern Palliativmitteln zu schweigen, nicht wohl bezeichnet werden.
Mit Bezug auf jenes Gesetz gestehen die Nationallibcralen jetzt selbst zu, daß
es völlig unzureichend gewesen sei. Die Belastung des Verletzten mit dem Be¬
weis eines Verschuldens der Unternehmer machte, wie man nachträglich einsah,
die Ansprüche der Arbeiter in der Regel hinfällig, und das Proeessiren erbitterte
nur noch mehr. Eine irgendwie wirksame Abhilfe war also nicht geschaffen
worden. Sie war nur dadurch zu schaffen, wenn das Gesetz an die Stelle der
Haftpflicht der Unternehmer eine allgemeine Unfallversicherung treten ließ."

Indem der Reichskanzler dies erkannte, legte er zunächst dem von ihm
geschaffenen preußischen Volkswirthschaftsrathe, dann dem Reichstage den Ent¬
wurf eines Gesetzes vor, welches bestimmte, daß alle in Bergwerken, Salinen,
Aufbereitungsanstalten, Brüchen und Gruben, auf Werften, bei der Ausführung
von Bauten und in Anlagen für Beinarbeiten, in Fabriken und Hüttenwerken
beschäftigten Arbeiter und Betriebsbeamten, deren jährlicher Arbeitsverdienst nicht
über 2000 Mark betrüge, bei einer vom Reiche zu errichtenden und für Rech¬
nung desselben zu verwaltenden Versicherungsanstalt gegen die Folgen der beim
Betrieb sich ereignenden Unfälle versichert sein sollten. Die Bedeutung dieses
Gesetzes war klar. Es entsprang dem Ideenkreise des Socialismus, soweit sie
berechtigt waren, und sollte durch die den Arbeitern vom Staate gebotene Unter¬
stützung dem letztern jene zu Freunden gewinnen. Hatten die Führer der Social-
demokraten den Arbeitern die Regierung als eine Macht dargestellt, die nur von
ihnen fordere, ihnen nichts gebe, die nur für die Beamten und die Capitalisten,
niemals für den kleinen Mann, den Armen sorge, so sollte dieses Gesetz dar-


Agitation nicht inzwischen den positiven Mitteln erlegen ist, welche die Regierung
vorgeschlagen hat. Der Rechenschaftsbericht des Ministers über die Handhabung
des Octobergesetzes von 1878 hat dargethan, daß die socialistische Bewegung
sich bis 1880 keineswegs erheblich vermindert hat. Die Nothwendigkeit einer
Fortdauer des Ausnahmezustandes war damit hinlänglich bewiesen, aber andrer¬
seits auch die Unmöglichkeit, mit polizeilichen Maßregeln allein die Bewegung
todt zu machen oder doch ihrer Gefährlichkeit zu entkleiden. Durch negative
Mittel wird der socialen Frage der Stachel nur für den Augenblick abgebrochen.
Eine wirkliche Ausgleichung oder Annäherung der Gegensätze ist lediglich durch
Positives Entgegenkommen zu erreichen.

Dies war schon bei den ersten Erörterungen der Sache im Reichstage
geltend gemacht worden. „Die nationalliberale Partei erkannte," wie unsre
Schrift berichtet, „an, daß die Socialdemokratie niemals solche Erfolge unter
den Arbeitern errungen hätte, wenn diese nicht unter der Last der Noth und
Hoffnungslosigkeit gegenüber dem herrschenden Systeme durchweg der schwersten
Verbitterung und theilweise schon glühendem Hasse verfallen gewesen wären.
Allein man konnte sich zunächst doch nur zu halben Maßregeln verstehen; denn
als etwas andres kann das Haftpflichtgesetz von 1871, um von dem Hilfscassen-
wesen und andern Palliativmitteln zu schweigen, nicht wohl bezeichnet werden.
Mit Bezug auf jenes Gesetz gestehen die Nationallibcralen jetzt selbst zu, daß
es völlig unzureichend gewesen sei. Die Belastung des Verletzten mit dem Be¬
weis eines Verschuldens der Unternehmer machte, wie man nachträglich einsah,
die Ansprüche der Arbeiter in der Regel hinfällig, und das Proeessiren erbitterte
nur noch mehr. Eine irgendwie wirksame Abhilfe war also nicht geschaffen
worden. Sie war nur dadurch zu schaffen, wenn das Gesetz an die Stelle der
Haftpflicht der Unternehmer eine allgemeine Unfallversicherung treten ließ."

Indem der Reichskanzler dies erkannte, legte er zunächst dem von ihm
geschaffenen preußischen Volkswirthschaftsrathe, dann dem Reichstage den Ent¬
wurf eines Gesetzes vor, welches bestimmte, daß alle in Bergwerken, Salinen,
Aufbereitungsanstalten, Brüchen und Gruben, auf Werften, bei der Ausführung
von Bauten und in Anlagen für Beinarbeiten, in Fabriken und Hüttenwerken
beschäftigten Arbeiter und Betriebsbeamten, deren jährlicher Arbeitsverdienst nicht
über 2000 Mark betrüge, bei einer vom Reiche zu errichtenden und für Rech¬
nung desselben zu verwaltenden Versicherungsanstalt gegen die Folgen der beim
Betrieb sich ereignenden Unfälle versichert sein sollten. Die Bedeutung dieses
Gesetzes war klar. Es entsprang dem Ideenkreise des Socialismus, soweit sie
berechtigt waren, und sollte durch die den Arbeitern vom Staate gebotene Unter¬
stützung dem letztern jene zu Freunden gewinnen. Hatten die Führer der Social-
demokraten den Arbeitern die Regierung als eine Macht dargestellt, die nur von
ihnen fordere, ihnen nichts gebe, die nur für die Beamten und die Capitalisten,
niemals für den kleinen Mann, den Armen sorge, so sollte dieses Gesetz dar-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/101>, abgerufen am 15.01.2025.