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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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hat eingestehen müssen, daß es mit der unerschütterlichen Majestät der Zahlen
denn doch nicht so weit her ist, als man anfangs im Eifer der "exacten Forschung"
meinte. Zahlen sind gut und beweisend, wenn --.sie richtig sind, und bei der
Statistik kommt die andre Voraussetzung uoch hinzu: wenn sie richtig zusammen¬
gestellt werden. Indessen besitzt Rußland nun seit geraumer Zeit auch seine
Statistik, seine statistischen Provinzialbüreaus und seine central-staatlichen Publi-
cationen. Und wie man dort, trotz der Verehrung für das jeweilig allerneueste
in Europa doch mit den meisten grundlegenden Ideen der Staats- und andrer
Weisheit in der Praxis im Rückstände zu sein Pflegt, so ist man dort gegen¬
wärtig eben noch in der Periode des starken Glaubens an die statistische All-
weisheit. Man mag sich nnn diesem Glauben zweifelnd gegenüberstellen, man
mag sich dessen bewußt bleiben, was klar ist wie der Tag, daß von allerlei
staatlich-statistischen Material dasjenige des kais. russischen statistischen Central-
büreans ein möglichst mangelhaftes ist, so wird man dennoch anerkennen dürfen,
daß die statistischen Erhebungen dazu mitwirken, mancherlei Ahnungen, die in
der Gesellschaft umherschwirrtcn, zu Ueberzeugungen heranzureifen, und daß sie
die andern Forschungen unterstützen, welche grade jetzt auf manchen wirthschaftlichen
Gebieten des Landes im Gange sind. Insonderheit ist das der Fall mit den
Arbeiten der großen Commission, welche 1872 unter Vorsitz des Grafen Walujew
eingesetzt wurde, um die wirthschaftlichen, vorzugsweise die agraren Zustande zu
erforschen, wie sie sich nach den großen Agrarreformen der Bauernbefreiung und
der Landschaftsorganisation von 1861, bez. 1863 entwickelt haben. Diese Com¬
mission berief Notabeln aus allen Theilen des Reiches, legte ihnen Fragen
über die agraren Verhältnisse ihrer Gegend, über die Gründe der Mißstände,
über die Mittel der Abstellung vor, und zeichnete die Antworten auf. Das Er¬
gebniß ist ein umfassendes Druckmerk, welches durch die Unmittelbarkeit der darin
niedergelegten Zeugnisse einen weitaus großem Anspruch ans Beachtung verdient
als alle die zahllosen Berichte der Büreaukratie, welche von Jahr zu Jahr über
dieselben Gegenstände abgefaßt, an die Centralregierung eingesandt und dort un-
gelesen zu deu Acten gelegt werden.

Will man ernstlich wissen, woran die agraren Verhältnisse Rußlands gegen¬
wärtig kranken, so kann man aus diesen langen Reihen von Zeugnissen es ziemlich
genau erfahren. Wenigstens gewisse Krankheitsursachen sind nnr zu deutlich
darin zu lesen. Will man die Augen nicht gewaltsam verschließen gegenüber der
Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit, daß die agraren, besonders die bäuerlichen
Verhältnisse seit 1861 von Jahr zu Jahr rückwärts statt vorwärts gehen, daß
die Production nicht nur in letzter Zeit bedenklich ins Schwanken gerathen ist,
sondern auch die Productionskraft unzweifelhaft stetig abnimmt, so durchblättre


hat eingestehen müssen, daß es mit der unerschütterlichen Majestät der Zahlen
denn doch nicht so weit her ist, als man anfangs im Eifer der „exacten Forschung"
meinte. Zahlen sind gut und beweisend, wenn —.sie richtig sind, und bei der
Statistik kommt die andre Voraussetzung uoch hinzu: wenn sie richtig zusammen¬
gestellt werden. Indessen besitzt Rußland nun seit geraumer Zeit auch seine
Statistik, seine statistischen Provinzialbüreaus und seine central-staatlichen Publi-
cationen. Und wie man dort, trotz der Verehrung für das jeweilig allerneueste
in Europa doch mit den meisten grundlegenden Ideen der Staats- und andrer
Weisheit in der Praxis im Rückstände zu sein Pflegt, so ist man dort gegen¬
wärtig eben noch in der Periode des starken Glaubens an die statistische All-
weisheit. Man mag sich nnn diesem Glauben zweifelnd gegenüberstellen, man
mag sich dessen bewußt bleiben, was klar ist wie der Tag, daß von allerlei
staatlich-statistischen Material dasjenige des kais. russischen statistischen Central-
büreans ein möglichst mangelhaftes ist, so wird man dennoch anerkennen dürfen,
daß die statistischen Erhebungen dazu mitwirken, mancherlei Ahnungen, die in
der Gesellschaft umherschwirrtcn, zu Ueberzeugungen heranzureifen, und daß sie
die andern Forschungen unterstützen, welche grade jetzt auf manchen wirthschaftlichen
Gebieten des Landes im Gange sind. Insonderheit ist das der Fall mit den
Arbeiten der großen Commission, welche 1872 unter Vorsitz des Grafen Walujew
eingesetzt wurde, um die wirthschaftlichen, vorzugsweise die agraren Zustande zu
erforschen, wie sie sich nach den großen Agrarreformen der Bauernbefreiung und
der Landschaftsorganisation von 1861, bez. 1863 entwickelt haben. Diese Com¬
mission berief Notabeln aus allen Theilen des Reiches, legte ihnen Fragen
über die agraren Verhältnisse ihrer Gegend, über die Gründe der Mißstände,
über die Mittel der Abstellung vor, und zeichnete die Antworten auf. Das Er¬
gebniß ist ein umfassendes Druckmerk, welches durch die Unmittelbarkeit der darin
niedergelegten Zeugnisse einen weitaus großem Anspruch ans Beachtung verdient
als alle die zahllosen Berichte der Büreaukratie, welche von Jahr zu Jahr über
dieselben Gegenstände abgefaßt, an die Centralregierung eingesandt und dort un-
gelesen zu deu Acten gelegt werden.

Will man ernstlich wissen, woran die agraren Verhältnisse Rußlands gegen¬
wärtig kranken, so kann man aus diesen langen Reihen von Zeugnissen es ziemlich
genau erfahren. Wenigstens gewisse Krankheitsursachen sind nnr zu deutlich
darin zu lesen. Will man die Augen nicht gewaltsam verschließen gegenüber der
Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit, daß die agraren, besonders die bäuerlichen
Verhältnisse seit 1861 von Jahr zu Jahr rückwärts statt vorwärts gehen, daß
die Production nicht nur in letzter Zeit bedenklich ins Schwanken gerathen ist,
sondern auch die Productionskraft unzweifelhaft stetig abnimmt, so durchblättre


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/59>, abgerufen am 01.09.2024.