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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Russische Agrarzustände.

duckten Antriebe hie und da es unternommen haben, auf ihre Weise Politik zu
machen. Auch hat der junge Zar noch in andrer Form die Größe dieser Ge¬
fahr anerkannt, nämlich indem er die Regierung Ministern anvertraute, welche
der Moskaner flavistifchen Partei angehören. Das heißt so viel als von einem
Wege ablenken, den die russische" Zaren mit nur geringen Unterbrechungen seit
ungefähr zwei Jahrhunderten eingehalten haben, nämlich von dem Wege einer
Regierung im Sinne europäischer Cultur und durch Männer, welche dieser Cultur
ergeben waren. Die Moskaner Slavisten sind seit lange die einzige Gruppe,
welcher man allenfalls den Namen einer Partei zusprechen kann. Mit dem Grafen
Jgnatjcw und den hinter ihm stehenden Leuten kommen neue und wichtige An¬
schauungen auf, die von einer weniger durch Zahl als durch Energie und Cha¬
rakter sich auszeichnenden Verbindung von Russen gestützt werden, und die dem
allgemeinen Volksbewußtsein weit näher liegen als die Ideen und Bestrebungen
der bisher am Ruder befindlichen "Westler." Es tritt demnach nicht bloß die
revolutionäre Bewegung jetzt in weitern Volksschichten auf, sondern auch die
Regierung sucht ihren Widerstand dnrch volksthümliche Kräfte zu stärken. Sie
hat dies ausdrücklich erklärt durch die beiden wichtigen Kundgebungen: das zarische
Manifest vom 11. Mai und das Rundschreiben des Grafen Jgnatjew vom 18. Mai
d. Jahres, worin die Stände, vor allem der Adel gegen die revolutionären Ge¬
fahren aufgerufen und ausdrücklich als Quelle der Revolution allgemeine ge¬
sellschaftliche Schäden angeführt werden. Die Dinge spielen demnach immer
mehr ins Allgemeine oder doch in große Verhältnisse hinüber, und es wird immer
nöthiger, sich in diesen allgemeinen Zuständen umzusehen. Wenn jene hohen
Kundgebungen nun aber bloß auf die sittlichen Schäden weisen, an denen die
Gesellschaft krankt, so wird die Bedeutung der materiellen, der wirtschaftlichen
Gebrechen damit nicht gemindert. Vielmehr hat die Regierung selbst diese Be¬
deutung längst anerkannt, indem sie fortwährend bestrebt war und ist, die wirth¬
schaftlichen Zustände zu erforschen und die Quellen der Mißstände zu ergründen.
Und ich meine, daß diese Forschungen von nichts an praktischer Wichtigkeit für
das gesammte Volks- und Staatsleben übertroffen werden, weil die Unzufrieden¬
heit der Masse stets und gerade auch hier vorwiegend aus materiellem Mißbe¬
hagen entspringt. So hat es gerade jetzt, wo sich die Bewegung immer weiter
ausbreitet, einiges Interesse auf die materiellen Verhältnisse hinzublicken, wie sie
sich auf dem flachen Lande der nationalrussischen Gebiete nach den neuern For¬
schungen darstellen.

Die großartigen Monumente der Phantasie, welche man überall in Europa
auf dem Untergrunde der "neuen Wissenschaft", der Statistik, vor einigen Jahr¬
zehnten aufzubauen begann, sind seitdem ein wenig wackelig geworden. Man


Russische Agrarzustände.

duckten Antriebe hie und da es unternommen haben, auf ihre Weise Politik zu
machen. Auch hat der junge Zar noch in andrer Form die Größe dieser Ge¬
fahr anerkannt, nämlich indem er die Regierung Ministern anvertraute, welche
der Moskaner flavistifchen Partei angehören. Das heißt so viel als von einem
Wege ablenken, den die russische« Zaren mit nur geringen Unterbrechungen seit
ungefähr zwei Jahrhunderten eingehalten haben, nämlich von dem Wege einer
Regierung im Sinne europäischer Cultur und durch Männer, welche dieser Cultur
ergeben waren. Die Moskaner Slavisten sind seit lange die einzige Gruppe,
welcher man allenfalls den Namen einer Partei zusprechen kann. Mit dem Grafen
Jgnatjcw und den hinter ihm stehenden Leuten kommen neue und wichtige An¬
schauungen auf, die von einer weniger durch Zahl als durch Energie und Cha¬
rakter sich auszeichnenden Verbindung von Russen gestützt werden, und die dem
allgemeinen Volksbewußtsein weit näher liegen als die Ideen und Bestrebungen
der bisher am Ruder befindlichen „Westler." Es tritt demnach nicht bloß die
revolutionäre Bewegung jetzt in weitern Volksschichten auf, sondern auch die
Regierung sucht ihren Widerstand dnrch volksthümliche Kräfte zu stärken. Sie
hat dies ausdrücklich erklärt durch die beiden wichtigen Kundgebungen: das zarische
Manifest vom 11. Mai und das Rundschreiben des Grafen Jgnatjew vom 18. Mai
d. Jahres, worin die Stände, vor allem der Adel gegen die revolutionären Ge¬
fahren aufgerufen und ausdrücklich als Quelle der Revolution allgemeine ge¬
sellschaftliche Schäden angeführt werden. Die Dinge spielen demnach immer
mehr ins Allgemeine oder doch in große Verhältnisse hinüber, und es wird immer
nöthiger, sich in diesen allgemeinen Zuständen umzusehen. Wenn jene hohen
Kundgebungen nun aber bloß auf die sittlichen Schäden weisen, an denen die
Gesellschaft krankt, so wird die Bedeutung der materiellen, der wirtschaftlichen
Gebrechen damit nicht gemindert. Vielmehr hat die Regierung selbst diese Be¬
deutung längst anerkannt, indem sie fortwährend bestrebt war und ist, die wirth¬
schaftlichen Zustände zu erforschen und die Quellen der Mißstände zu ergründen.
Und ich meine, daß diese Forschungen von nichts an praktischer Wichtigkeit für
das gesammte Volks- und Staatsleben übertroffen werden, weil die Unzufrieden¬
heit der Masse stets und gerade auch hier vorwiegend aus materiellem Mißbe¬
hagen entspringt. So hat es gerade jetzt, wo sich die Bewegung immer weiter
ausbreitet, einiges Interesse auf die materiellen Verhältnisse hinzublicken, wie sie
sich auf dem flachen Lande der nationalrussischen Gebiete nach den neuern For¬
schungen darstellen.

Die großartigen Monumente der Phantasie, welche man überall in Europa
auf dem Untergrunde der „neuen Wissenschaft", der Statistik, vor einigen Jahr¬
zehnten aufzubauen begann, sind seitdem ein wenig wackelig geworden. Man


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/58>, abgerufen am 25.11.2024.