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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Politische Rückblicke und Ausblicke.

zu Ende, ein paar Jahre noch, und er wird nicht mehr mitzählen. Das sieht
wie eine gewagte Prophezeiung aus, denn die Legitimisten haben ein halbes
Jahrhundert fortgelebt, ohne die Süßigkeit des Machtbesitzes zu kosten, ja, ab¬
gesehen von der kurzen für sie einigermaßen lichten Periode von 1872 und
1873, ohne von bestimmter Hoffnung bei Kräften erhalten zu werden. Dennoch
war ihr Leben nur ein Vegetiren, ein Träumen von Romantikern, die in
ihren halbreligiöseu Illusionen nur einer Diät von Liliensalat bedurften, zu dem
ihr verbannter Roh sein Salböl gespendet hatte. Mit den Bonapartisten ver¬
hält sichs anders. Auch sie hatten zwar ihre Tradition, ihre Legende und ihre
Gefühle. Aber sie lebten, namentlich als sedem der Wirkung dieser Legende
und des an sie sich knüpfenden Aberglaubens ein Ende gemacht hatte, von so¬
liderer Kost, von der Erinnerung an das materielle Gedeihen, welches das zweite
Kaiserreich über das Volk im ganzen ausgegossen, und an die reichen Gaben,
mit dem es getreue Anhänger höhern Ranges verschwenderisch bedacht hatte.
Seit 187V ist ihre Partei von der immer wiederkehrenden Hoffnung zusammen¬
gehalten worden, die Republik werde sich in Anarchie auflösen und Frankreich
dann wieder nach einem Napoleon als Wiederhersteller der Ordnung und Retter
der Gesellschaft vor den Rothen verlangen. In allen diesen Vorstellungen über¬
wogen reelle Vortheile das Gefühl, und jetzt, wo die Hoffnung auf solche fast
auf deu Nullpunkt gesunken ist, wo die Aufschüttung der Wahlurnen gezeigt
hat, daß von einem Plebiscit, der einzigen Quelle eines gesetzmäßigen Imperia¬
lismus, vor der Hand und wohl auch in Zukunft nichts zu erwarten ist, wird
der kleine Rest einer Partei, die einst die große Mehrheit der Bevölkerung
Frankreichs einschloß, über kurz oder lang begreifen müssen, daß es sich empfiehlt,
andre Wege einzuschlagen als die bisherigen. Einige, wie Cassagnac, werden
dann Conservative mit klerikaler Färbung werden, andre sich der von den letzten
Volksabstimmungen sanctionirten Republik anschließen.

Nun sind zwar die Republikaner aus dein Wahlkampfe mit einer gewal¬
tigen Majorität hervorgegangen, die keine Vereinigung der Opposition auf der
äußersten Rechten mit der auf der äußersten Linken zu fürchten hat. Dennoch
ist nicht zu verkennen, daß Gambetta, der gegebne oberste Führer der Partei,
einigermaßen an Boden verloren hat. Der Ausfall der Wahlen in Belleville,
wo der eine Wahlkörper ihn nur mit geringer Majorität wählte, der andre sich
für einen Jntrcmsigenten entschied, hat ihn in das Lager der Gemäßigten ge¬
trieben, und damit ist ihm die Stellung verloren gegangen, die er bis vor kurzem
inne hatte. In vielen von seinen Ansichten conservativ, dem Socialismus feindlich
gesinnt, und doch mit seinem gewandten Laviren auch bei den Radicalen ange¬
sehen und beliebt, erfreute er sich einer gewissen Herrschaft mich über die rothen
Demokraten jenes "vorgeschrittensten" Stadttheils von Paris. Aus Grund dessen
hoffte er aller Wahrscheinlichkeit nach Minister zu werden und doch in gewissem
Maße Demagog bleiben, Regierender, Gewalthaber und zugleich Vvlksführer


Politische Rückblicke und Ausblicke.

zu Ende, ein paar Jahre noch, und er wird nicht mehr mitzählen. Das sieht
wie eine gewagte Prophezeiung aus, denn die Legitimisten haben ein halbes
Jahrhundert fortgelebt, ohne die Süßigkeit des Machtbesitzes zu kosten, ja, ab¬
gesehen von der kurzen für sie einigermaßen lichten Periode von 1872 und
1873, ohne von bestimmter Hoffnung bei Kräften erhalten zu werden. Dennoch
war ihr Leben nur ein Vegetiren, ein Träumen von Romantikern, die in
ihren halbreligiöseu Illusionen nur einer Diät von Liliensalat bedurften, zu dem
ihr verbannter Roh sein Salböl gespendet hatte. Mit den Bonapartisten ver¬
hält sichs anders. Auch sie hatten zwar ihre Tradition, ihre Legende und ihre
Gefühle. Aber sie lebten, namentlich als sedem der Wirkung dieser Legende
und des an sie sich knüpfenden Aberglaubens ein Ende gemacht hatte, von so¬
liderer Kost, von der Erinnerung an das materielle Gedeihen, welches das zweite
Kaiserreich über das Volk im ganzen ausgegossen, und an die reichen Gaben,
mit dem es getreue Anhänger höhern Ranges verschwenderisch bedacht hatte.
Seit 187V ist ihre Partei von der immer wiederkehrenden Hoffnung zusammen¬
gehalten worden, die Republik werde sich in Anarchie auflösen und Frankreich
dann wieder nach einem Napoleon als Wiederhersteller der Ordnung und Retter
der Gesellschaft vor den Rothen verlangen. In allen diesen Vorstellungen über¬
wogen reelle Vortheile das Gefühl, und jetzt, wo die Hoffnung auf solche fast
auf deu Nullpunkt gesunken ist, wo die Aufschüttung der Wahlurnen gezeigt
hat, daß von einem Plebiscit, der einzigen Quelle eines gesetzmäßigen Imperia¬
lismus, vor der Hand und wohl auch in Zukunft nichts zu erwarten ist, wird
der kleine Rest einer Partei, die einst die große Mehrheit der Bevölkerung
Frankreichs einschloß, über kurz oder lang begreifen müssen, daß es sich empfiehlt,
andre Wege einzuschlagen als die bisherigen. Einige, wie Cassagnac, werden
dann Conservative mit klerikaler Färbung werden, andre sich der von den letzten
Volksabstimmungen sanctionirten Republik anschließen.

Nun sind zwar die Republikaner aus dein Wahlkampfe mit einer gewal¬
tigen Majorität hervorgegangen, die keine Vereinigung der Opposition auf der
äußersten Rechten mit der auf der äußersten Linken zu fürchten hat. Dennoch
ist nicht zu verkennen, daß Gambetta, der gegebne oberste Führer der Partei,
einigermaßen an Boden verloren hat. Der Ausfall der Wahlen in Belleville,
wo der eine Wahlkörper ihn nur mit geringer Majorität wählte, der andre sich
für einen Jntrcmsigenten entschied, hat ihn in das Lager der Gemäßigten ge¬
trieben, und damit ist ihm die Stellung verloren gegangen, die er bis vor kurzem
inne hatte. In vielen von seinen Ansichten conservativ, dem Socialismus feindlich
gesinnt, und doch mit seinem gewandten Laviren auch bei den Radicalen ange¬
sehen und beliebt, erfreute er sich einer gewissen Herrschaft mich über die rothen
Demokraten jenes „vorgeschrittensten" Stadttheils von Paris. Aus Grund dessen
hoffte er aller Wahrscheinlichkeit nach Minister zu werden und doch in gewissem
Maße Demagog bleiben, Regierender, Gewalthaber und zugleich Vvlksführer


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/490>, abgerufen am 01.09.2024.