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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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schmackvoller, wie die Kenntnisse gründlicher und solider sind, aber wir sprechen
wie Tell: "Ein Jeder wird besteuert much Vermögen", und für die feinere Aus-
führung dieser Dinge sagen wir höchstens "schönen Dank!", vermögen aber in
derselben keine Rechtfertigung von literarischen Bestrebungen zu erblicken, die in
allen Hauptsachen nur unerquickliche Resultate haben und haben können.

Wir haben wohl nicht nöthig, hier eine Reihe von Gemeinplätzen über das
Verhältniß des producirenden Dichters zur wissenschaftlichen Bildung seiner Zeit
und eine andre Reihe über das gute Recht des historischen Romans, Dramas,
Gedichts, der historischen Novelle u, s. w, vorauszuschicken. Die Furcht, daß
eine umfassende wissenschaftliche Bildung den echten Dichter und die Unmittelbar¬
keit der Production gefährden könne, hegt im Ernste wohl nur noch eine ge¬
wisse Art von Schriftstellern, die sich aus schlechten Comödianten in schlechtere
Feuilletonisten verwandelt haben. Ein hervorragender Dichter der Gegenwart
pflegte in solchem Falle Spottlied zu sagen: "Ruch der größte Physiolog zeugt
seine Kinder im Traum, wenn er solche zeugen kann" und drückt damit das
wahre Verhältniß aus. Daß der historische Roman unter gewissen Voraus¬
setzungen volles, unmittelbares Leben enthalte", einzelne poetische Intentionen stärker
und deutlicher verwirklichen, bestimmte Empfindungen ergreifender und einfacher
ausdrücken kann als selbst der im Leben der Gegenwart spielende, bestreiten wir
nicht. Aber -- auf die Prämissen kommts an! Sind es rein poetische Ab¬
sichten, welche der Dichter mit seiner Darstellung alten Lebens verbunden hat,
oder haben sich ihm ^ sei es gewollt, sei es unwillkürlich -- die wissenschaftlichen
und die poetischen Aufgaben vermischt? Im erster" Falle können noch immer
die Farben zu dick aufgetragen sein, ist noch immer ein Mißverhältniß zwischen der
lebendigen Gestaltung und dem Hilfsapparat (den Decorationen und der Com-
parserie würde man auf dem Theater sagen) möglich. Und wer wollte leugnen,
daß dies Mißverhältniß manchmal selbst bei Dichtern wie Wilibnld Nlexis und
I. V. Scheffel merkbar wird? Nur daß die Totalwirknng über den Mangel im
einzelnen hinweghebt. Im andern Falle dagegen vermag auch die "nahrhafte
Begabung des Autors, die tief oder fein empfundne poetische Einzelheit nicht
über die leblose Gcsannutanlage hinaufzuhelfen. Das Verwerflichste ist wohl der
Vorsatz, die poetische Seite einer Darstellung, die sich doch für poetisch giebt,
nebensächlich und antheilslos zu behandeln, das Verderblichste jedoch die Täuschung
des Dichters, der noch eine völlig poetische Absicht zu haben glaubt, während er
der unpoetischen Jnseenirnng von allerhand Lectüre und der kaum mehr poetischen
Reproduction von Situationen und Dnrstellungsmotiven aus andern historisch
gewordnen Autoren verfallen ist.

Die "Byzantinischen Novellen" Linggs geben einen Aufschluß, wie dergleichen
möglich ist. Der Irrthum beginnt bei einer gewisse" an sich noch nicht unbe¬
rechtigten Stimmung des Dichters: beim Ekel an der Gegenwart, bei der geistigen
Flucht vor den, umgebenden Leben. Indem sich der Dichter in irgend eine Ver-


Ärenzboleil III. 1W1, 6

schmackvoller, wie die Kenntnisse gründlicher und solider sind, aber wir sprechen
wie Tell: „Ein Jeder wird besteuert much Vermögen", und für die feinere Aus-
führung dieser Dinge sagen wir höchstens „schönen Dank!", vermögen aber in
derselben keine Rechtfertigung von literarischen Bestrebungen zu erblicken, die in
allen Hauptsachen nur unerquickliche Resultate haben und haben können.

Wir haben wohl nicht nöthig, hier eine Reihe von Gemeinplätzen über das
Verhältniß des producirenden Dichters zur wissenschaftlichen Bildung seiner Zeit
und eine andre Reihe über das gute Recht des historischen Romans, Dramas,
Gedichts, der historischen Novelle u, s. w, vorauszuschicken. Die Furcht, daß
eine umfassende wissenschaftliche Bildung den echten Dichter und die Unmittelbar¬
keit der Production gefährden könne, hegt im Ernste wohl nur noch eine ge¬
wisse Art von Schriftstellern, die sich aus schlechten Comödianten in schlechtere
Feuilletonisten verwandelt haben. Ein hervorragender Dichter der Gegenwart
pflegte in solchem Falle Spottlied zu sagen: „Ruch der größte Physiolog zeugt
seine Kinder im Traum, wenn er solche zeugen kann" und drückt damit das
wahre Verhältniß aus. Daß der historische Roman unter gewissen Voraus¬
setzungen volles, unmittelbares Leben enthalte», einzelne poetische Intentionen stärker
und deutlicher verwirklichen, bestimmte Empfindungen ergreifender und einfacher
ausdrücken kann als selbst der im Leben der Gegenwart spielende, bestreiten wir
nicht. Aber — auf die Prämissen kommts an! Sind es rein poetische Ab¬
sichten, welche der Dichter mit seiner Darstellung alten Lebens verbunden hat,
oder haben sich ihm ^ sei es gewollt, sei es unwillkürlich — die wissenschaftlichen
und die poetischen Aufgaben vermischt? Im erster» Falle können noch immer
die Farben zu dick aufgetragen sein, ist noch immer ein Mißverhältniß zwischen der
lebendigen Gestaltung und dem Hilfsapparat (den Decorationen und der Com-
parserie würde man auf dem Theater sagen) möglich. Und wer wollte leugnen,
daß dies Mißverhältniß manchmal selbst bei Dichtern wie Wilibnld Nlexis und
I. V. Scheffel merkbar wird? Nur daß die Totalwirknng über den Mangel im
einzelnen hinweghebt. Im andern Falle dagegen vermag auch die »nahrhafte
Begabung des Autors, die tief oder fein empfundne poetische Einzelheit nicht
über die leblose Gcsannutanlage hinaufzuhelfen. Das Verwerflichste ist wohl der
Vorsatz, die poetische Seite einer Darstellung, die sich doch für poetisch giebt,
nebensächlich und antheilslos zu behandeln, das Verderblichste jedoch die Täuschung
des Dichters, der noch eine völlig poetische Absicht zu haben glaubt, während er
der unpoetischen Jnseenirnng von allerhand Lectüre und der kaum mehr poetischen
Reproduction von Situationen und Dnrstellungsmotiven aus andern historisch
gewordnen Autoren verfallen ist.

Die „Byzantinischen Novellen" Linggs geben einen Aufschluß, wie dergleichen
möglich ist. Der Irrthum beginnt bei einer gewisse» an sich noch nicht unbe¬
rechtigten Stimmung des Dichters: beim Ekel an der Gegenwart, bei der geistigen
Flucht vor den, umgebenden Leben. Indem sich der Dichter in irgend eine Ver-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/49>, abgerufen am 01.09.2024.