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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Dresdener Zustände in den Zcchren 1^31^5 bis 1^330.

Goethes, Holbergs oder Calderons, ein dramatisches Märchen oder eine neu ent¬
standene Novelle von sich selbst oder -- doch nur vor Männern -- ein Lustspiel
des Aristophanes zu recitiren. Dann sammelte sich in seiner Wohnung, wo
seine Gattin und die Gräfin Finkenstein die Honneurs machten, die ausgewählte
Gesellschaft. Sowie das Zeichen zum Anfang gegeben war, harrte sie stumm
und regungslos. In der Mitte des Zimmers befand sich ein Tischchen mit zwei
Leuchtern. Da saß, später von langjährigen Gichtschmerzen fast wie ein Knäuel
zusammengezogen, Tieck, mit dem großen bedeutsamen Kopfe, in dem ein paar
geiht- und seelenvolle Angen sprühten. Mit seinem klangvollen, biegsamen,
mvdulationsfähigcn Organe begann er, und er wußte so zu individualisiren, daß
die störende Nennung der Personen des Dramas ganz überflüssig erschien.
Freilich verlangte er auch die ungetheilteste Aufmerksamkeit, das tiefste Schweigen;
Frauen durften sich mit keiner weiblichen Arbeit beschäftigen, das Aus- und
Eingehen während der Vorlesung war streng untersagt, und ein Fenster durfte
auch bei der unerträglichsten Hitze eines Sommerabends nicht geöffnet werden.
So kam es, daß wenn er auch auf den größten Theil seiner Zuhörer einen
unwiderstehlichen Zauber ausübte, doch auch manche erlahmten. Darum rieth
der Baron von Miltitz allen, starken schwarzen Kaffee vorher zu trinken. "Mir
hat, Pflegte er scherzhaft zu sagen, der Kaffee bei Tieck schon manchmal durch-
geholfen." Amalie Wolf, welche bei ihrem Gastspiel in Dresden Tieck hörte,
fand eine Tantalusqual darin, in dieser Backofenhitze drei Stunden lang wie
eine ägyptische Sphinx dasitzen zu müssen vor diesen beiden müden Wachslichtern,
sich nicht rühren, nicht zucken, nicht rciuspern, nicht gähnen, nicht schlafen zu
dürfen. Bisweilen übermannte doch der Schlaf den einen oder andern Zuhörer,
und als z. B. die Schauspielerin Sophie Müller mit ihrem Vater eine Vor¬
lesung des "Macbeth" beiwohnte, war der Vater bald glücklich entschlummert;
am Ende aber, aufgeschreckt durch das Stuhlrücken, klatschte er überlaut in die
Hände und rief zum Erstaunen der Versammelten mit Stentorstimme: "Bravo,
bravo, köstlicher Humor!" Wehe aber dem Gaste, dem so etwas begegnet wär
und dessen Verstoß gegen den bei diesen Vorlesungen eingeführten Cultus etwa
von der Gräfin Finkenstein unter ihrem grünen Augenschirme hervor bemerkt
worden war! Sie, die den Meister dreißig Jahre lang lesen hörte und in ihrer
Verehrung für ihn nie eingeschlummert war, verbannte dann den Uebelthäter
für alle Zeiten. Besonders traf ihr Zorn die Dichterin Helmine von Chezy,
die mit ihrer Unruhe, mit ihrem ganzen genialen Wesen so wenig in diese an¬
dächtige Gesellschaft paßte und bald auch keine Einladung mehr erhielt.

Wer sich ein paar Stunden in die alte Zeit, "in die Matthisson-Hölthsche
Seufzer- und Mvndscheinpoesie" versetzen wollte, für den öffnete sich abends
6 Uhr in der Neustadt das Haus an der Elbe, wo Elise von der Recke
mit Tiedge wohnte. Von den Einheimischen gingen dort ans und ein beinahe
alle Mitglieder des "Liederkreises," vor allen Minister v. Nvstitz, Graf Loben,


Dresdener Zustände in den Zcchren 1^31^5 bis 1^330.

Goethes, Holbergs oder Calderons, ein dramatisches Märchen oder eine neu ent¬
standene Novelle von sich selbst oder — doch nur vor Männern — ein Lustspiel
des Aristophanes zu recitiren. Dann sammelte sich in seiner Wohnung, wo
seine Gattin und die Gräfin Finkenstein die Honneurs machten, die ausgewählte
Gesellschaft. Sowie das Zeichen zum Anfang gegeben war, harrte sie stumm
und regungslos. In der Mitte des Zimmers befand sich ein Tischchen mit zwei
Leuchtern. Da saß, später von langjährigen Gichtschmerzen fast wie ein Knäuel
zusammengezogen, Tieck, mit dem großen bedeutsamen Kopfe, in dem ein paar
geiht- und seelenvolle Angen sprühten. Mit seinem klangvollen, biegsamen,
mvdulationsfähigcn Organe begann er, und er wußte so zu individualisiren, daß
die störende Nennung der Personen des Dramas ganz überflüssig erschien.
Freilich verlangte er auch die ungetheilteste Aufmerksamkeit, das tiefste Schweigen;
Frauen durften sich mit keiner weiblichen Arbeit beschäftigen, das Aus- und
Eingehen während der Vorlesung war streng untersagt, und ein Fenster durfte
auch bei der unerträglichsten Hitze eines Sommerabends nicht geöffnet werden.
So kam es, daß wenn er auch auf den größten Theil seiner Zuhörer einen
unwiderstehlichen Zauber ausübte, doch auch manche erlahmten. Darum rieth
der Baron von Miltitz allen, starken schwarzen Kaffee vorher zu trinken. „Mir
hat, Pflegte er scherzhaft zu sagen, der Kaffee bei Tieck schon manchmal durch-
geholfen." Amalie Wolf, welche bei ihrem Gastspiel in Dresden Tieck hörte,
fand eine Tantalusqual darin, in dieser Backofenhitze drei Stunden lang wie
eine ägyptische Sphinx dasitzen zu müssen vor diesen beiden müden Wachslichtern,
sich nicht rühren, nicht zucken, nicht rciuspern, nicht gähnen, nicht schlafen zu
dürfen. Bisweilen übermannte doch der Schlaf den einen oder andern Zuhörer,
und als z. B. die Schauspielerin Sophie Müller mit ihrem Vater eine Vor¬
lesung des „Macbeth" beiwohnte, war der Vater bald glücklich entschlummert;
am Ende aber, aufgeschreckt durch das Stuhlrücken, klatschte er überlaut in die
Hände und rief zum Erstaunen der Versammelten mit Stentorstimme: „Bravo,
bravo, köstlicher Humor!" Wehe aber dem Gaste, dem so etwas begegnet wär
und dessen Verstoß gegen den bei diesen Vorlesungen eingeführten Cultus etwa
von der Gräfin Finkenstein unter ihrem grünen Augenschirme hervor bemerkt
worden war! Sie, die den Meister dreißig Jahre lang lesen hörte und in ihrer
Verehrung für ihn nie eingeschlummert war, verbannte dann den Uebelthäter
für alle Zeiten. Besonders traf ihr Zorn die Dichterin Helmine von Chezy,
die mit ihrer Unruhe, mit ihrem ganzen genialen Wesen so wenig in diese an¬
dächtige Gesellschaft paßte und bald auch keine Einladung mehr erhielt.

Wer sich ein paar Stunden in die alte Zeit, „in die Matthisson-Hölthsche
Seufzer- und Mvndscheinpoesie" versetzen wollte, für den öffnete sich abends
6 Uhr in der Neustadt das Haus an der Elbe, wo Elise von der Recke
mit Tiedge wohnte. Von den Einheimischen gingen dort ans und ein beinahe
alle Mitglieder des „Liederkreises," vor allen Minister v. Nvstitz, Graf Loben,


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[0460] Dresdener Zustände in den Zcchren 1^31^5 bis 1^330. Goethes, Holbergs oder Calderons, ein dramatisches Märchen oder eine neu ent¬ standene Novelle von sich selbst oder — doch nur vor Männern — ein Lustspiel des Aristophanes zu recitiren. Dann sammelte sich in seiner Wohnung, wo seine Gattin und die Gräfin Finkenstein die Honneurs machten, die ausgewählte Gesellschaft. Sowie das Zeichen zum Anfang gegeben war, harrte sie stumm und regungslos. In der Mitte des Zimmers befand sich ein Tischchen mit zwei Leuchtern. Da saß, später von langjährigen Gichtschmerzen fast wie ein Knäuel zusammengezogen, Tieck, mit dem großen bedeutsamen Kopfe, in dem ein paar geiht- und seelenvolle Angen sprühten. Mit seinem klangvollen, biegsamen, mvdulationsfähigcn Organe begann er, und er wußte so zu individualisiren, daß die störende Nennung der Personen des Dramas ganz überflüssig erschien. Freilich verlangte er auch die ungetheilteste Aufmerksamkeit, das tiefste Schweigen; Frauen durften sich mit keiner weiblichen Arbeit beschäftigen, das Aus- und Eingehen während der Vorlesung war streng untersagt, und ein Fenster durfte auch bei der unerträglichsten Hitze eines Sommerabends nicht geöffnet werden. So kam es, daß wenn er auch auf den größten Theil seiner Zuhörer einen unwiderstehlichen Zauber ausübte, doch auch manche erlahmten. Darum rieth der Baron von Miltitz allen, starken schwarzen Kaffee vorher zu trinken. „Mir hat, Pflegte er scherzhaft zu sagen, der Kaffee bei Tieck schon manchmal durch- geholfen." Amalie Wolf, welche bei ihrem Gastspiel in Dresden Tieck hörte, fand eine Tantalusqual darin, in dieser Backofenhitze drei Stunden lang wie eine ägyptische Sphinx dasitzen zu müssen vor diesen beiden müden Wachslichtern, sich nicht rühren, nicht zucken, nicht rciuspern, nicht gähnen, nicht schlafen zu dürfen. Bisweilen übermannte doch der Schlaf den einen oder andern Zuhörer, und als z. B. die Schauspielerin Sophie Müller mit ihrem Vater eine Vor¬ lesung des „Macbeth" beiwohnte, war der Vater bald glücklich entschlummert; am Ende aber, aufgeschreckt durch das Stuhlrücken, klatschte er überlaut in die Hände und rief zum Erstaunen der Versammelten mit Stentorstimme: „Bravo, bravo, köstlicher Humor!" Wehe aber dem Gaste, dem so etwas begegnet wär und dessen Verstoß gegen den bei diesen Vorlesungen eingeführten Cultus etwa von der Gräfin Finkenstein unter ihrem grünen Augenschirme hervor bemerkt worden war! Sie, die den Meister dreißig Jahre lang lesen hörte und in ihrer Verehrung für ihn nie eingeschlummert war, verbannte dann den Uebelthäter für alle Zeiten. Besonders traf ihr Zorn die Dichterin Helmine von Chezy, die mit ihrer Unruhe, mit ihrem ganzen genialen Wesen so wenig in diese an¬ dächtige Gesellschaft paßte und bald auch keine Einladung mehr erhielt. Wer sich ein paar Stunden in die alte Zeit, „in die Matthisson-Hölthsche Seufzer- und Mvndscheinpoesie" versetzen wollte, für den öffnete sich abends 6 Uhr in der Neustadt das Haus an der Elbe, wo Elise von der Recke mit Tiedge wohnte. Von den Einheimischen gingen dort ans und ein beinahe alle Mitglieder des „Liederkreises," vor allen Minister v. Nvstitz, Graf Loben,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/460>, abgerufen am 01.09.2024.