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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Glossen eines Deutschen im Auslande.

zu schaffen, da Kleinbürger, Pfahlbürger u> s. w. den erstern Begriff nicht völlig
decken. Wer sind denn die Wortführer des liberalen Bürgerthums? Advocaten,
Journalisten, Bureaukraten, Fabrikbesitzer, Personen, welche keine andre Beschäf¬
tigung haben, als "volksvertreten." Die reden unaufhörlich von dem Mittel¬
stände, dem Nährstande, dem arbeitenden, schaffenden, den Staat erhaltenden
Theile der Bevölkerung, verrathen aber ebenso oft, daß für das Wohl des
eigentlichen Bürgerstandes ihnen das Verständniß oder das Herz mangelt. Sie
werden durch das Wort Zunft in Wuth versetzt und benehmen sich doch wie
die echten rechten Zünftler, engherzig und kurzsichtig. Wie sie auch schaudern
vor dem drohenden Bilde des Communismus oder Nihilismus, oder wie man
die Erscheinung sonst benennen will: sie wissen keinen Rath gegen die Gefahr,
sie zittern um ihren Besitz, und sind doch zu geizig und zu feige, um durch ein
geringes Opfer denselben zu retten. Sie haben das unverdiente Glück, daß der
Kanzler, weiser als die Fürsten und Kanzler und Ritter und Bürger im Jahr¬
hundert der Bauernkriege, nicht bloß die giftigen Blüthen und Früchte vernichten,
sondern das Uebel an der Wurzel angreifen will, und wieder spielen die "Frei¬
sinnigen" die verstocktesten Reactionäre, als die hartnäckigsten Widersacher der
Reform. Was sie sich nur eigentlich denken mögen! Glauben sie wirklich, dem
vierten Stande seien seine Forderungen nur von einigen Agitatoren dictirt, und
mache man diese unschädlich, so werde der Arbeiter auf ein menschenwürdiges
Dasein Verzicht leisten? Oder meinen sie deu knurrenden Magen mit Parla¬
mentsreden zu befriedigen? Wollen sie geduldig warten, bis die sociale Revo¬
lution an ihre eignen Thüren pocht, ihnen die Fabriken und Villen niederbrennt
und endlich in einem Blutmeer ersäuft wird, um nach einem Menschenalter um
so furchtbarer, weil von Rachegefühlen geschürt, wieder auszubrechen? Sind sie
blind genug, das Berechtigte in dem Programm der Arbeiterpartei zu verkennen,
sie, die doch so erleuchtet über die Verblendung jener Mächte der Vergangenheit
abzuurtheilen wissen, welche den Ruf nach Gewissensfreiheit und nach Gleich¬
berechtigung mit Feuer und Schwert verstummen machen wollten? Es mag sein,
daß die Erfahrung die eine oder die andre Berechnung in dem Reformplan des
Kanzlers widerlegen, daß die eine oder die andre Maßregel den erwarteten Dienst
versagen wird: dem größten Denker begegnen Trugschlüsse, und der größte Feld¬
herr vermag nicht alle Zufälle vorauszusehen, welche seine Dispositionen durch¬
kreuzen können. Aber wenn auch! Die Entschlossenheit allein schon, mit welcher
Bismarck dem Gespenste zu Leibe geht, würde ihm unsterblichen Ruhm sichern,
hätte er sonst gar nichts gethan, und wer einen Funken von wahrem Patriotis¬
mus in sich hat, müßte mit Rath und That helfen und fördern, damit das
große Werk ganz und voll gelinge. Ja, wenn die Liberalen (Ao^fus wären
und nicht LourAsois!

Die schützbarsten Bekenntnisse in dieser Richtung lieferten die Verhandlungen
über die Institution des Volkswirthschaftsraths, vor allem die keineswegs nach


Glossen eines Deutschen im Auslande.

zu schaffen, da Kleinbürger, Pfahlbürger u> s. w. den erstern Begriff nicht völlig
decken. Wer sind denn die Wortführer des liberalen Bürgerthums? Advocaten,
Journalisten, Bureaukraten, Fabrikbesitzer, Personen, welche keine andre Beschäf¬
tigung haben, als „volksvertreten." Die reden unaufhörlich von dem Mittel¬
stände, dem Nährstande, dem arbeitenden, schaffenden, den Staat erhaltenden
Theile der Bevölkerung, verrathen aber ebenso oft, daß für das Wohl des
eigentlichen Bürgerstandes ihnen das Verständniß oder das Herz mangelt. Sie
werden durch das Wort Zunft in Wuth versetzt und benehmen sich doch wie
die echten rechten Zünftler, engherzig und kurzsichtig. Wie sie auch schaudern
vor dem drohenden Bilde des Communismus oder Nihilismus, oder wie man
die Erscheinung sonst benennen will: sie wissen keinen Rath gegen die Gefahr,
sie zittern um ihren Besitz, und sind doch zu geizig und zu feige, um durch ein
geringes Opfer denselben zu retten. Sie haben das unverdiente Glück, daß der
Kanzler, weiser als die Fürsten und Kanzler und Ritter und Bürger im Jahr¬
hundert der Bauernkriege, nicht bloß die giftigen Blüthen und Früchte vernichten,
sondern das Uebel an der Wurzel angreifen will, und wieder spielen die „Frei¬
sinnigen" die verstocktesten Reactionäre, als die hartnäckigsten Widersacher der
Reform. Was sie sich nur eigentlich denken mögen! Glauben sie wirklich, dem
vierten Stande seien seine Forderungen nur von einigen Agitatoren dictirt, und
mache man diese unschädlich, so werde der Arbeiter auf ein menschenwürdiges
Dasein Verzicht leisten? Oder meinen sie deu knurrenden Magen mit Parla¬
mentsreden zu befriedigen? Wollen sie geduldig warten, bis die sociale Revo¬
lution an ihre eignen Thüren pocht, ihnen die Fabriken und Villen niederbrennt
und endlich in einem Blutmeer ersäuft wird, um nach einem Menschenalter um
so furchtbarer, weil von Rachegefühlen geschürt, wieder auszubrechen? Sind sie
blind genug, das Berechtigte in dem Programm der Arbeiterpartei zu verkennen,
sie, die doch so erleuchtet über die Verblendung jener Mächte der Vergangenheit
abzuurtheilen wissen, welche den Ruf nach Gewissensfreiheit und nach Gleich¬
berechtigung mit Feuer und Schwert verstummen machen wollten? Es mag sein,
daß die Erfahrung die eine oder die andre Berechnung in dem Reformplan des
Kanzlers widerlegen, daß die eine oder die andre Maßregel den erwarteten Dienst
versagen wird: dem größten Denker begegnen Trugschlüsse, und der größte Feld¬
herr vermag nicht alle Zufälle vorauszusehen, welche seine Dispositionen durch¬
kreuzen können. Aber wenn auch! Die Entschlossenheit allein schon, mit welcher
Bismarck dem Gespenste zu Leibe geht, würde ihm unsterblichen Ruhm sichern,
hätte er sonst gar nichts gethan, und wer einen Funken von wahrem Patriotis¬
mus in sich hat, müßte mit Rath und That helfen und fördern, damit das
große Werk ganz und voll gelinge. Ja, wenn die Liberalen (Ao^fus wären
und nicht LourAsois!

Die schützbarsten Bekenntnisse in dieser Richtung lieferten die Verhandlungen
über die Institution des Volkswirthschaftsraths, vor allem die keineswegs nach


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[0448] Glossen eines Deutschen im Auslande. zu schaffen, da Kleinbürger, Pfahlbürger u> s. w. den erstern Begriff nicht völlig decken. Wer sind denn die Wortführer des liberalen Bürgerthums? Advocaten, Journalisten, Bureaukraten, Fabrikbesitzer, Personen, welche keine andre Beschäf¬ tigung haben, als „volksvertreten." Die reden unaufhörlich von dem Mittel¬ stände, dem Nährstande, dem arbeitenden, schaffenden, den Staat erhaltenden Theile der Bevölkerung, verrathen aber ebenso oft, daß für das Wohl des eigentlichen Bürgerstandes ihnen das Verständniß oder das Herz mangelt. Sie werden durch das Wort Zunft in Wuth versetzt und benehmen sich doch wie die echten rechten Zünftler, engherzig und kurzsichtig. Wie sie auch schaudern vor dem drohenden Bilde des Communismus oder Nihilismus, oder wie man die Erscheinung sonst benennen will: sie wissen keinen Rath gegen die Gefahr, sie zittern um ihren Besitz, und sind doch zu geizig und zu feige, um durch ein geringes Opfer denselben zu retten. Sie haben das unverdiente Glück, daß der Kanzler, weiser als die Fürsten und Kanzler und Ritter und Bürger im Jahr¬ hundert der Bauernkriege, nicht bloß die giftigen Blüthen und Früchte vernichten, sondern das Uebel an der Wurzel angreifen will, und wieder spielen die „Frei¬ sinnigen" die verstocktesten Reactionäre, als die hartnäckigsten Widersacher der Reform. Was sie sich nur eigentlich denken mögen! Glauben sie wirklich, dem vierten Stande seien seine Forderungen nur von einigen Agitatoren dictirt, und mache man diese unschädlich, so werde der Arbeiter auf ein menschenwürdiges Dasein Verzicht leisten? Oder meinen sie deu knurrenden Magen mit Parla¬ mentsreden zu befriedigen? Wollen sie geduldig warten, bis die sociale Revo¬ lution an ihre eignen Thüren pocht, ihnen die Fabriken und Villen niederbrennt und endlich in einem Blutmeer ersäuft wird, um nach einem Menschenalter um so furchtbarer, weil von Rachegefühlen geschürt, wieder auszubrechen? Sind sie blind genug, das Berechtigte in dem Programm der Arbeiterpartei zu verkennen, sie, die doch so erleuchtet über die Verblendung jener Mächte der Vergangenheit abzuurtheilen wissen, welche den Ruf nach Gewissensfreiheit und nach Gleich¬ berechtigung mit Feuer und Schwert verstummen machen wollten? Es mag sein, daß die Erfahrung die eine oder die andre Berechnung in dem Reformplan des Kanzlers widerlegen, daß die eine oder die andre Maßregel den erwarteten Dienst versagen wird: dem größten Denker begegnen Trugschlüsse, und der größte Feld¬ herr vermag nicht alle Zufälle vorauszusehen, welche seine Dispositionen durch¬ kreuzen können. Aber wenn auch! Die Entschlossenheit allein schon, mit welcher Bismarck dem Gespenste zu Leibe geht, würde ihm unsterblichen Ruhm sichern, hätte er sonst gar nichts gethan, und wer einen Funken von wahrem Patriotis¬ mus in sich hat, müßte mit Rath und That helfen und fördern, damit das große Werk ganz und voll gelinge. Ja, wenn die Liberalen (Ao^fus wären und nicht LourAsois! Die schützbarsten Bekenntnisse in dieser Richtung lieferten die Verhandlungen über die Institution des Volkswirthschaftsraths, vor allem die keineswegs nach

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/448>, abgerufen am 01.09.2024.