Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Entwicklung des Rechts in Deutschland.

der Wissenschaft und der Theorie ein großer und wichtiger Dienst geleistet, aber
zugleich die Unmöglichkeit dauernder, praktischer Anwendbarkeit des römischen
Rechts auf das neunzehnte Jahrhundert deutlich und klar. Die Resultate der
Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts und die auf dem Naturrecht beruhenden
modernen Principien verwerfen die Tradition und die sklavische Anlehnung an
die Ergebnisse der historischen Schule. "Das Recht von heute ruht nicht im
OorML Mils, noch in der Wissenschaft, noch in den Gewohnheiten der Nation,
sondern in den Falten des Mantels unsrer Gesetzgeber und in unsrer gesetz¬
geberischen Intelligenz."

Wir haben also drei verschiedne Perioden in unsrer Rechtsgeschichte vor uns.
Die älteste ist die des urgermanischen Rechts, wie es in Cäsars und Tacitus'
Schilderungen, in den nordgermanischen Rechten, im friesischen, im angelsächsischen
Recht vor der normannischen Eroberung vorliegt. Die zweite Periode ist die
des fränkischen (salischen) Rechts in der Zeit vom sechsten bis zum sechzehnten
Jahrhundert. Dem fränkischen Rechte erliegen alle deutschen Stammesrechte;
auf ihm beruhen der Sachsenspiegel, der Schwabenspiegel und die übrigen mittel¬
alterlichen Rechtsbücher; aus ihm erklären sich die Uebereinstimmungen des
deutschen, französischem und englischen Rechts im Mittelalter, die alle auf dem¬
selben einen Stamm des salischen Frankenrechts erwachsen sind. Die dritte Periode
endlich ist die der Rcception des italienischen Rechts vom sechzehnten Jahrhundert
an. In dem Kampfe des fränkischen Rechts mit dem fremden Recht bildet sich
der Gegensatz des gemeinen Rechts und des deutschen Particularrechts. Jenes
hat seine Quellen in Italien, dieses, das Particularrecht, in den Resten des
fränkischen Rechts, soweit es nicht dem siegreichen römischen Rechte erlegen ist.

So hat Deutschland zweimal, im sechsten und im sechzehnten Jahrhundert,
fremde Rechte reeipirt; im sechsten Jahrhundert war es das salisch-fränkische,
d. h. französisches, im sechzehnten Jahrhundert italienisches Recht. Jenes, das
salisch-fränkische Recht, hatte einst die Weltherrschaft des römischen Rechts er¬
schüttert. Heutzutage wiederholt sich ein ähnlicher Vorgang. Wieder ist es fran¬
zösisches Recht, welches in Deutschland gegenwärtig an die Stelle des römischen
tritt. "Mit den Ideen von 1789 -- so schließt Sohm seine lehrreiche Abhandlung --
macht auch das neufranzösische Recht eine Reise um die Welt. Wir haben fran¬
zösische Staatsverfassung, französische Gerichtsverfassung, französisches Strafrecht,
französischen Proceß, wenn auch mit theilweiser Umbildung, durch unsre Gesetz¬
gebung recipirt, und das bevorstehende bürgerliche Gesetzbuch des deutschen Reichs
wird vermuthlich in mancher Hinsicht die Spuren des Loäs vivit an sich tragen.
Trotzdem ist die Reception von heute zugleich eine Rückkehr zu uns selbst. Wie
die französische Revolution, so ist auch das neusranzösische Recht aus dem ge¬
meinsamen Geistesleben der abendländischen Völker hervorgegangen. Es ist nicht
bloß fremdes, sondern auch von uns und unsern Vorfahren miterarbeitetes Recht.
Indem wir den modernen Rechtsstoff zu bewältigen streben, vollziehen wir auch


Die Entwicklung des Rechts in Deutschland.

der Wissenschaft und der Theorie ein großer und wichtiger Dienst geleistet, aber
zugleich die Unmöglichkeit dauernder, praktischer Anwendbarkeit des römischen
Rechts auf das neunzehnte Jahrhundert deutlich und klar. Die Resultate der
Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts und die auf dem Naturrecht beruhenden
modernen Principien verwerfen die Tradition und die sklavische Anlehnung an
die Ergebnisse der historischen Schule. „Das Recht von heute ruht nicht im
OorML Mils, noch in der Wissenschaft, noch in den Gewohnheiten der Nation,
sondern in den Falten des Mantels unsrer Gesetzgeber und in unsrer gesetz¬
geberischen Intelligenz."

Wir haben also drei verschiedne Perioden in unsrer Rechtsgeschichte vor uns.
Die älteste ist die des urgermanischen Rechts, wie es in Cäsars und Tacitus'
Schilderungen, in den nordgermanischen Rechten, im friesischen, im angelsächsischen
Recht vor der normannischen Eroberung vorliegt. Die zweite Periode ist die
des fränkischen (salischen) Rechts in der Zeit vom sechsten bis zum sechzehnten
Jahrhundert. Dem fränkischen Rechte erliegen alle deutschen Stammesrechte;
auf ihm beruhen der Sachsenspiegel, der Schwabenspiegel und die übrigen mittel¬
alterlichen Rechtsbücher; aus ihm erklären sich die Uebereinstimmungen des
deutschen, französischem und englischen Rechts im Mittelalter, die alle auf dem¬
selben einen Stamm des salischen Frankenrechts erwachsen sind. Die dritte Periode
endlich ist die der Rcception des italienischen Rechts vom sechzehnten Jahrhundert
an. In dem Kampfe des fränkischen Rechts mit dem fremden Recht bildet sich
der Gegensatz des gemeinen Rechts und des deutschen Particularrechts. Jenes
hat seine Quellen in Italien, dieses, das Particularrecht, in den Resten des
fränkischen Rechts, soweit es nicht dem siegreichen römischen Rechte erlegen ist.

So hat Deutschland zweimal, im sechsten und im sechzehnten Jahrhundert,
fremde Rechte reeipirt; im sechsten Jahrhundert war es das salisch-fränkische,
d. h. französisches, im sechzehnten Jahrhundert italienisches Recht. Jenes, das
salisch-fränkische Recht, hatte einst die Weltherrschaft des römischen Rechts er¬
schüttert. Heutzutage wiederholt sich ein ähnlicher Vorgang. Wieder ist es fran¬
zösisches Recht, welches in Deutschland gegenwärtig an die Stelle des römischen
tritt. „Mit den Ideen von 1789 — so schließt Sohm seine lehrreiche Abhandlung —
macht auch das neufranzösische Recht eine Reise um die Welt. Wir haben fran¬
zösische Staatsverfassung, französische Gerichtsverfassung, französisches Strafrecht,
französischen Proceß, wenn auch mit theilweiser Umbildung, durch unsre Gesetz¬
gebung recipirt, und das bevorstehende bürgerliche Gesetzbuch des deutschen Reichs
wird vermuthlich in mancher Hinsicht die Spuren des Loäs vivit an sich tragen.
Trotzdem ist die Reception von heute zugleich eine Rückkehr zu uns selbst. Wie
die französische Revolution, so ist auch das neusranzösische Recht aus dem ge¬
meinsamen Geistesleben der abendländischen Völker hervorgegangen. Es ist nicht
bloß fremdes, sondern auch von uns und unsern Vorfahren miterarbeitetes Recht.
Indem wir den modernen Rechtsstoff zu bewältigen streben, vollziehen wir auch


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0420" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/150570"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Entwicklung des Rechts in Deutschland.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1343" prev="#ID_1342"> der Wissenschaft und der Theorie ein großer und wichtiger Dienst geleistet, aber<lb/>
zugleich die Unmöglichkeit dauernder, praktischer Anwendbarkeit des römischen<lb/>
Rechts auf das neunzehnte Jahrhundert deutlich und klar. Die Resultate der<lb/>
Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts und die auf dem Naturrecht beruhenden<lb/>
modernen Principien verwerfen die Tradition und die sklavische Anlehnung an<lb/>
die Ergebnisse der historischen Schule. &#x201E;Das Recht von heute ruht nicht im<lb/>
OorML Mils, noch in der Wissenschaft, noch in den Gewohnheiten der Nation,<lb/>
sondern in den Falten des Mantels unsrer Gesetzgeber und in unsrer gesetz¬<lb/>
geberischen Intelligenz."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1344"> Wir haben also drei verschiedne Perioden in unsrer Rechtsgeschichte vor uns.<lb/>
Die älteste ist die des urgermanischen Rechts, wie es in Cäsars und Tacitus'<lb/>
Schilderungen, in den nordgermanischen Rechten, im friesischen, im angelsächsischen<lb/>
Recht vor der normannischen Eroberung vorliegt. Die zweite Periode ist die<lb/>
des fränkischen (salischen) Rechts in der Zeit vom sechsten bis zum sechzehnten<lb/>
Jahrhundert. Dem fränkischen Rechte erliegen alle deutschen Stammesrechte;<lb/>
auf ihm beruhen der Sachsenspiegel, der Schwabenspiegel und die übrigen mittel¬<lb/>
alterlichen Rechtsbücher; aus ihm erklären sich die Uebereinstimmungen des<lb/>
deutschen, französischem und englischen Rechts im Mittelalter, die alle auf dem¬<lb/>
selben einen Stamm des salischen Frankenrechts erwachsen sind. Die dritte Periode<lb/>
endlich ist die der Rcception des italienischen Rechts vom sechzehnten Jahrhundert<lb/>
an. In dem Kampfe des fränkischen Rechts mit dem fremden Recht bildet sich<lb/>
der Gegensatz des gemeinen Rechts und des deutschen Particularrechts. Jenes<lb/>
hat seine Quellen in Italien, dieses, das Particularrecht, in den Resten des<lb/>
fränkischen Rechts, soweit es nicht dem siegreichen römischen Rechte erlegen ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1345" next="#ID_1346"> So hat Deutschland zweimal, im sechsten und im sechzehnten Jahrhundert,<lb/>
fremde Rechte reeipirt; im sechsten Jahrhundert war es das salisch-fränkische,<lb/>
d. h. französisches, im sechzehnten Jahrhundert italienisches Recht. Jenes, das<lb/>
salisch-fränkische Recht, hatte einst die Weltherrschaft des römischen Rechts er¬<lb/>
schüttert. Heutzutage wiederholt sich ein ähnlicher Vorgang. Wieder ist es fran¬<lb/>
zösisches Recht, welches in Deutschland gegenwärtig an die Stelle des römischen<lb/>
tritt. &#x201E;Mit den Ideen von 1789 &#x2014; so schließt Sohm seine lehrreiche Abhandlung &#x2014;<lb/>
macht auch das neufranzösische Recht eine Reise um die Welt. Wir haben fran¬<lb/>
zösische Staatsverfassung, französische Gerichtsverfassung, französisches Strafrecht,<lb/>
französischen Proceß, wenn auch mit theilweiser Umbildung, durch unsre Gesetz¬<lb/>
gebung recipirt, und das bevorstehende bürgerliche Gesetzbuch des deutschen Reichs<lb/>
wird vermuthlich in mancher Hinsicht die Spuren des Loäs vivit an sich tragen.<lb/>
Trotzdem ist die Reception von heute zugleich eine Rückkehr zu uns selbst. Wie<lb/>
die französische Revolution, so ist auch das neusranzösische Recht aus dem ge¬<lb/>
meinsamen Geistesleben der abendländischen Völker hervorgegangen. Es ist nicht<lb/>
bloß fremdes, sondern auch von uns und unsern Vorfahren miterarbeitetes Recht.<lb/>
Indem wir den modernen Rechtsstoff zu bewältigen streben, vollziehen wir auch</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0420] Die Entwicklung des Rechts in Deutschland. der Wissenschaft und der Theorie ein großer und wichtiger Dienst geleistet, aber zugleich die Unmöglichkeit dauernder, praktischer Anwendbarkeit des römischen Rechts auf das neunzehnte Jahrhundert deutlich und klar. Die Resultate der Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts und die auf dem Naturrecht beruhenden modernen Principien verwerfen die Tradition und die sklavische Anlehnung an die Ergebnisse der historischen Schule. „Das Recht von heute ruht nicht im OorML Mils, noch in der Wissenschaft, noch in den Gewohnheiten der Nation, sondern in den Falten des Mantels unsrer Gesetzgeber und in unsrer gesetz¬ geberischen Intelligenz." Wir haben also drei verschiedne Perioden in unsrer Rechtsgeschichte vor uns. Die älteste ist die des urgermanischen Rechts, wie es in Cäsars und Tacitus' Schilderungen, in den nordgermanischen Rechten, im friesischen, im angelsächsischen Recht vor der normannischen Eroberung vorliegt. Die zweite Periode ist die des fränkischen (salischen) Rechts in der Zeit vom sechsten bis zum sechzehnten Jahrhundert. Dem fränkischen Rechte erliegen alle deutschen Stammesrechte; auf ihm beruhen der Sachsenspiegel, der Schwabenspiegel und die übrigen mittel¬ alterlichen Rechtsbücher; aus ihm erklären sich die Uebereinstimmungen des deutschen, französischem und englischen Rechts im Mittelalter, die alle auf dem¬ selben einen Stamm des salischen Frankenrechts erwachsen sind. Die dritte Periode endlich ist die der Rcception des italienischen Rechts vom sechzehnten Jahrhundert an. In dem Kampfe des fränkischen Rechts mit dem fremden Recht bildet sich der Gegensatz des gemeinen Rechts und des deutschen Particularrechts. Jenes hat seine Quellen in Italien, dieses, das Particularrecht, in den Resten des fränkischen Rechts, soweit es nicht dem siegreichen römischen Rechte erlegen ist. So hat Deutschland zweimal, im sechsten und im sechzehnten Jahrhundert, fremde Rechte reeipirt; im sechsten Jahrhundert war es das salisch-fränkische, d. h. französisches, im sechzehnten Jahrhundert italienisches Recht. Jenes, das salisch-fränkische Recht, hatte einst die Weltherrschaft des römischen Rechts er¬ schüttert. Heutzutage wiederholt sich ein ähnlicher Vorgang. Wieder ist es fran¬ zösisches Recht, welches in Deutschland gegenwärtig an die Stelle des römischen tritt. „Mit den Ideen von 1789 — so schließt Sohm seine lehrreiche Abhandlung — macht auch das neufranzösische Recht eine Reise um die Welt. Wir haben fran¬ zösische Staatsverfassung, französische Gerichtsverfassung, französisches Strafrecht, französischen Proceß, wenn auch mit theilweiser Umbildung, durch unsre Gesetz¬ gebung recipirt, und das bevorstehende bürgerliche Gesetzbuch des deutschen Reichs wird vermuthlich in mancher Hinsicht die Spuren des Loäs vivit an sich tragen. Trotzdem ist die Reception von heute zugleich eine Rückkehr zu uns selbst. Wie die französische Revolution, so ist auch das neusranzösische Recht aus dem ge¬ meinsamen Geistesleben der abendländischen Völker hervorgegangen. Es ist nicht bloß fremdes, sondern auch von uns und unsern Vorfahren miterarbeitetes Recht. Indem wir den modernen Rechtsstoff zu bewältigen streben, vollziehen wir auch

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/420
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/420>, abgerufen am 26.11.2024.