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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Shakespeare in Frankreich.

flamme" oder nach seinem Wunsche beschwichtigen mag. Wohl sind wir nicht
selten betroffen, uns so plötzlich von ihm gerührt zu finden, wenn wir aber über
den Gcgeustcuid nachdenken, über deu er uns weinen macht, so müssen wir uns
gestehen, daß es noch wunderbarer gewesen sein würde, wenn wir diese Thränen
nicht vergossen hätten. Nicht minder außerordentlich aber ist, daß dieser selbe
Mensch auch über eine ganz entgegengesetzte Art der Erregungen gebietet. Die
verschiedensten Arten des Lächerlichen erhalten durch seinen Pinsel ebenso feine
und heitere Züge, als die Tugend und das Laster majestätische und furchtbare
erhalten. Er zeichnet sich nicht weniger in der Kälte der Reflexion und der
Beweisführung als durch das Feuer der Leidenschaft aus. Seine Maximen
und seine Empfindungen sind nicht nur den Gegenständen, die er behandelt, aufs
genaueste angemessen, sondern er trifft auch durch die Feinheit seiner Urtheile, die
ihm ganz eigenthümlich sind, immer das Richtige und den einzigen Punkt, welcher
die sich darbietende Schwierigkeit beleuchtet und löst. Dieses letzte Talent ist
an einem Manne, ohne die Welterfahrung, ohne die genaue Kenntniß der großen
Schauplätze des menschlichen Lebens, die fortgesetzt den Stoff seiner Betrach-
wngen bilden, bewundernswerther als alles andre. Mit einem Worte: er scheint
die Welt durch eine Art Inspiration gekannt zu haben. Ihm hat schon ein Blick
genügt, die Natur zu entschleiern. Man erkennt, indem man seine Werke liest,
daß er nicht minder ein großer Philosoph als ein großer Dichter war."

Nach alledem glaubt La Place seinen Landsleuten rathen zu sollen, heute
nicht das zu verdammen, dem vielleicht eines Tages unsre Enkel schon Beifall
zurufen dürften. Er findet, daß wenn Herr v. Voltaire gesagt, das Verdienst
dieses Dichters habe das englische Theater zu Grunde gerichtet, er den Begriffen
gnnäß geurtheilt habe, die mau sich in Frankreich von einer guten Tragödie
gebildet, "vorüber niemand mehr Recht zu sprechen hatte als er. Die Engländer
aber dächten hierüber anders. Nie wird ein Franzose, welchen Grad der Achtung
°r sich bei ihnen auch erworben haben möchte, die Ehrfurcht und Dankbarkeit
abzuschwächen vermögen, welche sie Shakespeare schuldig zu sein glauben; daher
sie eher der von diesem Schriftsteller an einem andern Orte ausgesprochenen
Meinung beipflichten werden, "daß an diesem Dichter selbst noch die Fehler ehr¬
würdig seien."

Die Uebersetuingeu des La Place standen nicht ans der Höhe dieser An¬
schauungen. Auch wurden sie beide theils mit Beifall, theils mit Widerspruch
"ufgenvmmen. Voltaire scheint mit erzwunguer Gleichgiltigkeit, ja mit Vcrcicht-
lichleit ans sie herabgesehen zu haben, da er wenigstens öffentlich zunächst keine
besondere Notiz davon nahm. Er beschäftigte sich damals mit seiner Leim,",
^e gewissermaßen eine Umarbeitung der MixoM ist, daher wie diese eine Geister-
Erscheinung enthält und schon hierdurch wieder an Shakespeare erinnert. Es ist
bekannt, daß diese Erscheinung durch das Gelächter, das sie veranlaßte, das Stück
beinahe zu Falle brachte, aber doch stark genug war, die Zuschauer, die Voltaire


Shakespeare in Frankreich.

flamme» oder nach seinem Wunsche beschwichtigen mag. Wohl sind wir nicht
selten betroffen, uns so plötzlich von ihm gerührt zu finden, wenn wir aber über
den Gcgeustcuid nachdenken, über deu er uns weinen macht, so müssen wir uns
gestehen, daß es noch wunderbarer gewesen sein würde, wenn wir diese Thränen
nicht vergossen hätten. Nicht minder außerordentlich aber ist, daß dieser selbe
Mensch auch über eine ganz entgegengesetzte Art der Erregungen gebietet. Die
verschiedensten Arten des Lächerlichen erhalten durch seinen Pinsel ebenso feine
und heitere Züge, als die Tugend und das Laster majestätische und furchtbare
erhalten. Er zeichnet sich nicht weniger in der Kälte der Reflexion und der
Beweisführung als durch das Feuer der Leidenschaft aus. Seine Maximen
und seine Empfindungen sind nicht nur den Gegenständen, die er behandelt, aufs
genaueste angemessen, sondern er trifft auch durch die Feinheit seiner Urtheile, die
ihm ganz eigenthümlich sind, immer das Richtige und den einzigen Punkt, welcher
die sich darbietende Schwierigkeit beleuchtet und löst. Dieses letzte Talent ist
an einem Manne, ohne die Welterfahrung, ohne die genaue Kenntniß der großen
Schauplätze des menschlichen Lebens, die fortgesetzt den Stoff seiner Betrach-
wngen bilden, bewundernswerther als alles andre. Mit einem Worte: er scheint
die Welt durch eine Art Inspiration gekannt zu haben. Ihm hat schon ein Blick
genügt, die Natur zu entschleiern. Man erkennt, indem man seine Werke liest,
daß er nicht minder ein großer Philosoph als ein großer Dichter war."

Nach alledem glaubt La Place seinen Landsleuten rathen zu sollen, heute
nicht das zu verdammen, dem vielleicht eines Tages unsre Enkel schon Beifall
zurufen dürften. Er findet, daß wenn Herr v. Voltaire gesagt, das Verdienst
dieses Dichters habe das englische Theater zu Grunde gerichtet, er den Begriffen
gnnäß geurtheilt habe, die mau sich in Frankreich von einer guten Tragödie
gebildet, »vorüber niemand mehr Recht zu sprechen hatte als er. Die Engländer
aber dächten hierüber anders. Nie wird ein Franzose, welchen Grad der Achtung
°r sich bei ihnen auch erworben haben möchte, die Ehrfurcht und Dankbarkeit
abzuschwächen vermögen, welche sie Shakespeare schuldig zu sein glauben; daher
sie eher der von diesem Schriftsteller an einem andern Orte ausgesprochenen
Meinung beipflichten werden, „daß an diesem Dichter selbst noch die Fehler ehr¬
würdig seien."

Die Uebersetuingeu des La Place standen nicht ans der Höhe dieser An¬
schauungen. Auch wurden sie beide theils mit Beifall, theils mit Widerspruch
"ufgenvmmen. Voltaire scheint mit erzwunguer Gleichgiltigkeit, ja mit Vcrcicht-
lichleit ans sie herabgesehen zu haben, da er wenigstens öffentlich zunächst keine
besondere Notiz davon nahm. Er beschäftigte sich damals mit seiner Leim,«,
^e gewissermaßen eine Umarbeitung der MixoM ist, daher wie diese eine Geister-
Erscheinung enthält und schon hierdurch wieder an Shakespeare erinnert. Es ist
bekannt, daß diese Erscheinung durch das Gelächter, das sie veranlaßte, das Stück
beinahe zu Falle brachte, aber doch stark genug war, die Zuschauer, die Voltaire


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[0339] Shakespeare in Frankreich. flamme» oder nach seinem Wunsche beschwichtigen mag. Wohl sind wir nicht selten betroffen, uns so plötzlich von ihm gerührt zu finden, wenn wir aber über den Gcgeustcuid nachdenken, über deu er uns weinen macht, so müssen wir uns gestehen, daß es noch wunderbarer gewesen sein würde, wenn wir diese Thränen nicht vergossen hätten. Nicht minder außerordentlich aber ist, daß dieser selbe Mensch auch über eine ganz entgegengesetzte Art der Erregungen gebietet. Die verschiedensten Arten des Lächerlichen erhalten durch seinen Pinsel ebenso feine und heitere Züge, als die Tugend und das Laster majestätische und furchtbare erhalten. Er zeichnet sich nicht weniger in der Kälte der Reflexion und der Beweisführung als durch das Feuer der Leidenschaft aus. Seine Maximen und seine Empfindungen sind nicht nur den Gegenständen, die er behandelt, aufs genaueste angemessen, sondern er trifft auch durch die Feinheit seiner Urtheile, die ihm ganz eigenthümlich sind, immer das Richtige und den einzigen Punkt, welcher die sich darbietende Schwierigkeit beleuchtet und löst. Dieses letzte Talent ist an einem Manne, ohne die Welterfahrung, ohne die genaue Kenntniß der großen Schauplätze des menschlichen Lebens, die fortgesetzt den Stoff seiner Betrach- wngen bilden, bewundernswerther als alles andre. Mit einem Worte: er scheint die Welt durch eine Art Inspiration gekannt zu haben. Ihm hat schon ein Blick genügt, die Natur zu entschleiern. Man erkennt, indem man seine Werke liest, daß er nicht minder ein großer Philosoph als ein großer Dichter war." Nach alledem glaubt La Place seinen Landsleuten rathen zu sollen, heute nicht das zu verdammen, dem vielleicht eines Tages unsre Enkel schon Beifall zurufen dürften. Er findet, daß wenn Herr v. Voltaire gesagt, das Verdienst dieses Dichters habe das englische Theater zu Grunde gerichtet, er den Begriffen gnnäß geurtheilt habe, die mau sich in Frankreich von einer guten Tragödie gebildet, »vorüber niemand mehr Recht zu sprechen hatte als er. Die Engländer aber dächten hierüber anders. Nie wird ein Franzose, welchen Grad der Achtung °r sich bei ihnen auch erworben haben möchte, die Ehrfurcht und Dankbarkeit abzuschwächen vermögen, welche sie Shakespeare schuldig zu sein glauben; daher sie eher der von diesem Schriftsteller an einem andern Orte ausgesprochenen Meinung beipflichten werden, „daß an diesem Dichter selbst noch die Fehler ehr¬ würdig seien." Die Uebersetuingeu des La Place standen nicht ans der Höhe dieser An¬ schauungen. Auch wurden sie beide theils mit Beifall, theils mit Widerspruch "ufgenvmmen. Voltaire scheint mit erzwunguer Gleichgiltigkeit, ja mit Vcrcicht- lichleit ans sie herabgesehen zu haben, da er wenigstens öffentlich zunächst keine besondere Notiz davon nahm. Er beschäftigte sich damals mit seiner Leim,«, ^e gewissermaßen eine Umarbeitung der MixoM ist, daher wie diese eine Geister- Erscheinung enthält und schon hierdurch wieder an Shakespeare erinnert. Es ist bekannt, daß diese Erscheinung durch das Gelächter, das sie veranlaßte, das Stück beinahe zu Falle brachte, aber doch stark genug war, die Zuschauer, die Voltaire

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/339>, abgerufen am 01.09.2024.