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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Literatur.

Welt und Geist. Alte und neue Tagebuchblätter in Sprnchdichtuugeu von Otto
Sntermeister. Bern, I. Dnlpsche Buchhandlung, 1L8l.

Da im allgemeinen sich nur wenige den Genuß gönnen, sich in Rückerts "Weis¬
heit des Brnhiuanen" mit ihrer unerschöpflichen Spruchweisheit hineinzulesen, ge¬
schweige denn bis zum alten Logan und Angelus Silesius zuriickzugeheu, so ist es
vielleicht ganz gut, daß von Zeit zu Zeit neue Spruchdichter auftauchen. Handelt
es sich nothwendig bei ihnen vielfach nur um neue Wiedergabe alter Gednukeu, so
wird doch bei dem Tüchtigen auch ein neuer mit unterlaufen und in scharfer, knapper
Fassung gewinnt selbst ein Gemeinplatz noch einmal Wirkung. Der Dichter der
vorliegenden kleinen Spruchsammlung, welche den Manen Rückerts gewidmet ist,
bewährt durchaus kernhafte, edle Gesinnung, tiefere Bildung, Witz und jenes Fein¬
gefühl, ohne das der Lehrdichter immer zum platten Moralisten herabsinkt. Die
Krankheiten unsers "Zeitgeists" kennt er gut und einige seiner kurzen Sprüche sagen
mehr als lange Artikel vermögen, z. B.:


Macht zwar von den Atzten ein bös Geschrei,
Doch ist er krank, so muß einer herbei;
Treibt zwar mit Himmel und Hölle Spott,
Doch glaubt man ihm nicht, so sagt er', bei Gott!

oder:


Das ist des Schwächlings Prob' und Beweis:
Friede, Friede um jeden Preis!

oder zur gegenwärtigen Kritik, die keine Kritik mehr ist:


Das Schlechte nicht mit Macht bestritten,
Das Mittelmäßige sacht gelitten,
Nur hübsch sich gehalten in der Mitten:
So wuchern und walten die faulen Sitte".

Und zum Schluß ein schöner Spruch, der völlig um den "Cherubinischen Wanders-
mann" zurückerinnert:


Fern sei dir Todesfurcht; zu sterben sind wir hier;
Geh heiter drum dem Tod entgegen für und für;
Viel besser, wenn du, kommst zum Tod, als er zu dir.

Hoffentlich liest niemand aus den sinnigen Zeilen eine Empfehlung des Selbst¬
mords heraus und verwendet sie zum Beweis für die Entartung der modernen
Poesie. Für möglich halten muß man dergleichen immer.






Für die Redaction verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig.
Verlag von F. L. Herbig in Leipzig. -- Druck von Carl Mnrqucirt in Neuduitz-Leipzig-
Literatur.

Welt und Geist. Alte und neue Tagebuchblätter in Sprnchdichtuugeu von Otto
Sntermeister. Bern, I. Dnlpsche Buchhandlung, 1L8l.

Da im allgemeinen sich nur wenige den Genuß gönnen, sich in Rückerts „Weis¬
heit des Brnhiuanen" mit ihrer unerschöpflichen Spruchweisheit hineinzulesen, ge¬
schweige denn bis zum alten Logan und Angelus Silesius zuriickzugeheu, so ist es
vielleicht ganz gut, daß von Zeit zu Zeit neue Spruchdichter auftauchen. Handelt
es sich nothwendig bei ihnen vielfach nur um neue Wiedergabe alter Gednukeu, so
wird doch bei dem Tüchtigen auch ein neuer mit unterlaufen und in scharfer, knapper
Fassung gewinnt selbst ein Gemeinplatz noch einmal Wirkung. Der Dichter der
vorliegenden kleinen Spruchsammlung, welche den Manen Rückerts gewidmet ist,
bewährt durchaus kernhafte, edle Gesinnung, tiefere Bildung, Witz und jenes Fein¬
gefühl, ohne das der Lehrdichter immer zum platten Moralisten herabsinkt. Die
Krankheiten unsers „Zeitgeists" kennt er gut und einige seiner kurzen Sprüche sagen
mehr als lange Artikel vermögen, z. B.:


Macht zwar von den Atzten ein bös Geschrei,
Doch ist er krank, so muß einer herbei;
Treibt zwar mit Himmel und Hölle Spott,
Doch glaubt man ihm nicht, so sagt er', bei Gott!

oder:


Das ist des Schwächlings Prob' und Beweis:
Friede, Friede um jeden Preis!

oder zur gegenwärtigen Kritik, die keine Kritik mehr ist:


Das Schlechte nicht mit Macht bestritten,
Das Mittelmäßige sacht gelitten,
Nur hübsch sich gehalten in der Mitten:
So wuchern und walten die faulen Sitte».

Und zum Schluß ein schöner Spruch, der völlig um den „Cherubinischen Wanders-
mann" zurückerinnert:


Fern sei dir Todesfurcht; zu sterben sind wir hier;
Geh heiter drum dem Tod entgegen für und für;
Viel besser, wenn du, kommst zum Tod, als er zu dir.

Hoffentlich liest niemand aus den sinnigen Zeilen eine Empfehlung des Selbst¬
mords heraus und verwendet sie zum Beweis für die Entartung der modernen
Poesie. Für möglich halten muß man dergleichen immer.






Für die Redaction verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig.
Verlag von F. L. Herbig in Leipzig. — Druck von Carl Mnrqucirt in Neuduitz-Leipzig-
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[0312] Literatur. Welt und Geist. Alte und neue Tagebuchblätter in Sprnchdichtuugeu von Otto Sntermeister. Bern, I. Dnlpsche Buchhandlung, 1L8l. Da im allgemeinen sich nur wenige den Genuß gönnen, sich in Rückerts „Weis¬ heit des Brnhiuanen" mit ihrer unerschöpflichen Spruchweisheit hineinzulesen, ge¬ schweige denn bis zum alten Logan und Angelus Silesius zuriickzugeheu, so ist es vielleicht ganz gut, daß von Zeit zu Zeit neue Spruchdichter auftauchen. Handelt es sich nothwendig bei ihnen vielfach nur um neue Wiedergabe alter Gednukeu, so wird doch bei dem Tüchtigen auch ein neuer mit unterlaufen und in scharfer, knapper Fassung gewinnt selbst ein Gemeinplatz noch einmal Wirkung. Der Dichter der vorliegenden kleinen Spruchsammlung, welche den Manen Rückerts gewidmet ist, bewährt durchaus kernhafte, edle Gesinnung, tiefere Bildung, Witz und jenes Fein¬ gefühl, ohne das der Lehrdichter immer zum platten Moralisten herabsinkt. Die Krankheiten unsers „Zeitgeists" kennt er gut und einige seiner kurzen Sprüche sagen mehr als lange Artikel vermögen, z. B.: Macht zwar von den Atzten ein bös Geschrei, Doch ist er krank, so muß einer herbei; Treibt zwar mit Himmel und Hölle Spott, Doch glaubt man ihm nicht, so sagt er', bei Gott! oder: Das ist des Schwächlings Prob' und Beweis: Friede, Friede um jeden Preis! oder zur gegenwärtigen Kritik, die keine Kritik mehr ist: Das Schlechte nicht mit Macht bestritten, Das Mittelmäßige sacht gelitten, Nur hübsch sich gehalten in der Mitten: So wuchern und walten die faulen Sitte». Und zum Schluß ein schöner Spruch, der völlig um den „Cherubinischen Wanders- mann" zurückerinnert: Fern sei dir Todesfurcht; zu sterben sind wir hier; Geh heiter drum dem Tod entgegen für und für; Viel besser, wenn du, kommst zum Tod, als er zu dir. Hoffentlich liest niemand aus den sinnigen Zeilen eine Empfehlung des Selbst¬ mords heraus und verwendet sie zum Beweis für die Entartung der modernen Poesie. Für möglich halten muß man dergleichen immer. Für die Redaction verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig. Verlag von F. L. Herbig in Leipzig. — Druck von Carl Mnrqucirt in Neuduitz-Leipzig-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/312>, abgerufen am 01.09.2024.