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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Hermann itotzes System der Philosophie,

diesem Problem nur wenig gewidmet hat und im allgemeinen vom Raum realistisch
spricht, so bleibt der einzige Schopenhauer in der Entschiedenheit der Raumleng-
uung unter den neuern mit Lotze vergleichbar. Der jüngste Rückgang auf Kant
hat hierin zwar einiges geändert; aber man darf nicht übersehen, daß die Rea¬
lität als Kantianer oder als kritischer Philosoph dem Raume absprechen etwas
ganz andres ist, als sie ableugnen im Umkreise und Sinne einer dogmatischen
Philosophie. Der consequente Kantianer -- ebenso der consequente Kant selbst --
hat eigentlich kein Recht, das Dasein von Dingen oder Wesen zu lehren, welche
ohne räumliche Trennung bei- oder ineinander wohnen und ohne Ort und ohne
räumliche Form existiren; Kantisch denken, das heißt überall nur die Fähigkeit
der Vernunft zu irgend welcher Erkenntniß der Dinge überhaupt bestreiten, weil
alle unsre Denkformen für uns lediglich den Werth subjectiver Gesichtspunkte zur
Verarbeitung eines subjectiven Inhalts haben. Lotze denkt nicht Kantisch. Freilich
räumt er ein, daß Erkennen -- Erkennen ist, also ein Zustand oder eine Thätig¬
keit des erkennenden Subjectes; aber mehr als die Dinge erkennen will ja auch
niemand, und eben dies hält der Kantianer für unmöglich. Wir verweisen in
dieser Frage auf Lotzes "Logik" (1880; besonders auf den Abschnitt über den
Skepticismus), ohne uns hier dabei aufhalten zu können. Seine Raumleugnnng
ist für ihn -- dies allein galt es außer Zweifel zu stellen -- eine wahrhafte
Erkenntniß der Dinge, natürlich immer unter bescheidnen Eingeständniß seiner
persönlichen Jrrthumsfähigkeit. Nicht weil der Raum eine subjective Vorstellung
ist und es irgendwie erwiesen wäre, daß er lediglich zum Subjecte gehört, spricht
Lotze ihm Realität ab, sondern weil er die Realität der Dinge daraufhin erkannt
zu haben glaubt, spricht er ihr die Räumlichkeit ab, während er ihr die Zeitlich¬
keit nicht abspricht, die vom Kantischen Gesichtspunkte her sicher nicht zu rette"
gewesen wäre. Zwei der ausführlichsten Capitel seines jüngsten Werkes hat
Lotze der Raumfrage gewidmet. Das zweite derselben ist beiläufig auch dadurch
zu einem der interessantesten geworden, daß die modernste Naumtheorie, die von
den vier und mehr Dimensionen, darin einer überaus geschickten und, wie uns
scheinen will, aufräumenden Kritik unterworfen ist. Das erste, welches die
Subjektivität der Raumanschauung behandelt, interessirt uns hier allein. Eine
Fragestellung, die bei Kant nur beiläufig benutzt ist, wird hier zur einzig ent¬
scheidenden erhoben: Wie kann dein Raum seinem Wesen nach eine eigne Wirk¬
lichkeit zukommen, er sei nun erfüllt oder leer, und was kann man sich bei einem
Sein der Dinge im Raum irgend denken? Gesetzt, der Raum existirte wirklich,
so wie wir ihn vorzustellen genöthigt sind, -- antwortet Lotze auf das erste
Glied dieser Frage --, so müßten nur jedem Punkte desselben die gleiche Wirklich¬
keit zutrauen, welche der ganze Raum genießt; jeder dieser Punkte ferner müßte
dem andern ein sich völlig gleich, dennoch aber ganz und gar von ihm verschieden
sein, da ja seine ganze Existenz als Raumpuukt eben nur darin besteht, sich von
jedem andern zu unterscheiden und sich zu jedem, jedem zu sich, eine nnveränder-


Hermann itotzes System der Philosophie,

diesem Problem nur wenig gewidmet hat und im allgemeinen vom Raum realistisch
spricht, so bleibt der einzige Schopenhauer in der Entschiedenheit der Raumleng-
uung unter den neuern mit Lotze vergleichbar. Der jüngste Rückgang auf Kant
hat hierin zwar einiges geändert; aber man darf nicht übersehen, daß die Rea¬
lität als Kantianer oder als kritischer Philosoph dem Raume absprechen etwas
ganz andres ist, als sie ableugnen im Umkreise und Sinne einer dogmatischen
Philosophie. Der consequente Kantianer — ebenso der consequente Kant selbst —
hat eigentlich kein Recht, das Dasein von Dingen oder Wesen zu lehren, welche
ohne räumliche Trennung bei- oder ineinander wohnen und ohne Ort und ohne
räumliche Form existiren; Kantisch denken, das heißt überall nur die Fähigkeit
der Vernunft zu irgend welcher Erkenntniß der Dinge überhaupt bestreiten, weil
alle unsre Denkformen für uns lediglich den Werth subjectiver Gesichtspunkte zur
Verarbeitung eines subjectiven Inhalts haben. Lotze denkt nicht Kantisch. Freilich
räumt er ein, daß Erkennen — Erkennen ist, also ein Zustand oder eine Thätig¬
keit des erkennenden Subjectes; aber mehr als die Dinge erkennen will ja auch
niemand, und eben dies hält der Kantianer für unmöglich. Wir verweisen in
dieser Frage auf Lotzes „Logik" (1880; besonders auf den Abschnitt über den
Skepticismus), ohne uns hier dabei aufhalten zu können. Seine Raumleugnnng
ist für ihn — dies allein galt es außer Zweifel zu stellen — eine wahrhafte
Erkenntniß der Dinge, natürlich immer unter bescheidnen Eingeständniß seiner
persönlichen Jrrthumsfähigkeit. Nicht weil der Raum eine subjective Vorstellung
ist und es irgendwie erwiesen wäre, daß er lediglich zum Subjecte gehört, spricht
Lotze ihm Realität ab, sondern weil er die Realität der Dinge daraufhin erkannt
zu haben glaubt, spricht er ihr die Räumlichkeit ab, während er ihr die Zeitlich¬
keit nicht abspricht, die vom Kantischen Gesichtspunkte her sicher nicht zu rette»
gewesen wäre. Zwei der ausführlichsten Capitel seines jüngsten Werkes hat
Lotze der Raumfrage gewidmet. Das zweite derselben ist beiläufig auch dadurch
zu einem der interessantesten geworden, daß die modernste Naumtheorie, die von
den vier und mehr Dimensionen, darin einer überaus geschickten und, wie uns
scheinen will, aufräumenden Kritik unterworfen ist. Das erste, welches die
Subjektivität der Raumanschauung behandelt, interessirt uns hier allein. Eine
Fragestellung, die bei Kant nur beiläufig benutzt ist, wird hier zur einzig ent¬
scheidenden erhoben: Wie kann dein Raum seinem Wesen nach eine eigne Wirk¬
lichkeit zukommen, er sei nun erfüllt oder leer, und was kann man sich bei einem
Sein der Dinge im Raum irgend denken? Gesetzt, der Raum existirte wirklich,
so wie wir ihn vorzustellen genöthigt sind, — antwortet Lotze auf das erste
Glied dieser Frage —, so müßten nur jedem Punkte desselben die gleiche Wirklich¬
keit zutrauen, welche der ganze Raum genießt; jeder dieser Punkte ferner müßte
dem andern ein sich völlig gleich, dennoch aber ganz und gar von ihm verschieden
sein, da ja seine ganze Existenz als Raumpuukt eben nur darin besteht, sich von
jedem andern zu unterscheiden und sich zu jedem, jedem zu sich, eine nnveränder-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/296>, abgerufen am 01.09.2024.