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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Hermann Lotzes System der Philosophie.

seit I. G. Fichte gerathen war, that sicherlich die erneute Zucht exacter Unter¬
suchungen noth. Bereits Schleiermacher hatte, obwohl sonst auf gleichem Boden
mit der ältern Speculation stehend, in seiner Weise hierzu eingelenkt; Tren¬
delenburg erwarb sich in der Kritik Hegels und eigner, sauber und vorsichtig
vorschreitender Gedankenführung in gleicher Richtung wesentliches Verdienst; aber
die radicalste und dauerndste Cur war nur von deu Stahlbädern einer müh¬
samen empirischen Forschung zu erwarten. Noch einer sehr wesentlichen äußern
Veränderung ist zu gedenken, welche diese Regeneration der deutschen Philo¬
sophie zur Folge hatte: es bildete sich ein deutscher philosophischer Schriftstil
aus, der die Schule unsrer Klassiker zeigte, unnützen gelehrten Ballast über
Bord warf, Klarheit und guten Geschmack mit weihevoller Höhe des Ausdrucks
zu vereinigen wußte. Die frühern hatten nicht selten die weihevolle Höhe nur durch
mystische Verschleierungen zu erreichen vermocht und in der Ueberfülle ihrer
Eingebungen sich ins Znngenreden verloren, das Verständniß dem guten Glücke
anheimstellend. Andre, wie Krause, schufen lieber gleich eine eigne Sprache;
noch andre, wie Schopenhauer, suchten die Verständlichkeit im ungenirter, cynischen
Drauflosreden, ohne dadurch irgend ein helleres Licht in die Dunkelheiten
ihrer Traumwelt zu tragen. Vielleicht verdient nach allen hier angedeuteten
Seiten Lotze am vollständigsten den Namen des deutschen Klassikers der Philo¬
sophie. Die in ihm zu jener Strenge und Klarheit ächter Wissenschaft hinzu¬
tretende ästhetische, künstlerische Tendenz erwies sich hier von höchstem Vortheil.
Sollen wir noch kritisiren, so können wir an seiner Darstellungsform höchstens
hie und da ein Uebermaß von Feinheit, Keuschheit und Weichheit tadeln, das
ein absichtliches Verwischen der Uebergänge, verfließende Eintheilungen, Mangel
an plastischen Conturen im Gefolge hat. Aber vor allem in seinem vielgelesenen
Hauptwerke, das seine Philosophie in allen ihren Theilen berührt, dem drei¬
bändigen "Mikrokosmus" (zuerst 18S6-1864, zuletzt 1876--1880). finden sich
Partien, vor denen selbst diese geringen Bedenken verstummen. Auch in der
Physiognomie seines Stils finden wir dasselbe Zusammenwirken jener "zwei
Seelen in seiner Brust" bezeugt, von dem wir ausgingen, und das wir in den
allgemeinsten Grundzügen seiner philosophischen Weltanschauung nunmehr wieder¬
zuerkennen versuchen wollen.

Wir haben der naturwissenschaftlichen Methode ein Loblied gesungen und
sind darin so weit gegangen, als es irgend von einem Philosophen erwartet
werden kann, der nichtsdestoweniger die Traditionen unsrer großen deutschen
Denker hochhält und bewahren will. Wir müssen jetzt auf die andre Seite
treten und fragen, warum nicht bei jenen Vorzügen der Nntnrwissenschaft die
Philosophie gänzlich von dieser verschlungen worden ist, warum selbst Männer
von ursprünglich vorherrschend exacter, physikalischer Richtung zu idealistischen
Gedanken gedrängt werden, welche auf jenem Boden nicht gewachsen sein
würden, warum sie sogar durch ästhetische, religiöse, ethische Jdealforderungen


Hermann Lotzes System der Philosophie.

seit I. G. Fichte gerathen war, that sicherlich die erneute Zucht exacter Unter¬
suchungen noth. Bereits Schleiermacher hatte, obwohl sonst auf gleichem Boden
mit der ältern Speculation stehend, in seiner Weise hierzu eingelenkt; Tren¬
delenburg erwarb sich in der Kritik Hegels und eigner, sauber und vorsichtig
vorschreitender Gedankenführung in gleicher Richtung wesentliches Verdienst; aber
die radicalste und dauerndste Cur war nur von deu Stahlbädern einer müh¬
samen empirischen Forschung zu erwarten. Noch einer sehr wesentlichen äußern
Veränderung ist zu gedenken, welche diese Regeneration der deutschen Philo¬
sophie zur Folge hatte: es bildete sich ein deutscher philosophischer Schriftstil
aus, der die Schule unsrer Klassiker zeigte, unnützen gelehrten Ballast über
Bord warf, Klarheit und guten Geschmack mit weihevoller Höhe des Ausdrucks
zu vereinigen wußte. Die frühern hatten nicht selten die weihevolle Höhe nur durch
mystische Verschleierungen zu erreichen vermocht und in der Ueberfülle ihrer
Eingebungen sich ins Znngenreden verloren, das Verständniß dem guten Glücke
anheimstellend. Andre, wie Krause, schufen lieber gleich eine eigne Sprache;
noch andre, wie Schopenhauer, suchten die Verständlichkeit im ungenirter, cynischen
Drauflosreden, ohne dadurch irgend ein helleres Licht in die Dunkelheiten
ihrer Traumwelt zu tragen. Vielleicht verdient nach allen hier angedeuteten
Seiten Lotze am vollständigsten den Namen des deutschen Klassikers der Philo¬
sophie. Die in ihm zu jener Strenge und Klarheit ächter Wissenschaft hinzu¬
tretende ästhetische, künstlerische Tendenz erwies sich hier von höchstem Vortheil.
Sollen wir noch kritisiren, so können wir an seiner Darstellungsform höchstens
hie und da ein Uebermaß von Feinheit, Keuschheit und Weichheit tadeln, das
ein absichtliches Verwischen der Uebergänge, verfließende Eintheilungen, Mangel
an plastischen Conturen im Gefolge hat. Aber vor allem in seinem vielgelesenen
Hauptwerke, das seine Philosophie in allen ihren Theilen berührt, dem drei¬
bändigen „Mikrokosmus" (zuerst 18S6-1864, zuletzt 1876—1880). finden sich
Partien, vor denen selbst diese geringen Bedenken verstummen. Auch in der
Physiognomie seines Stils finden wir dasselbe Zusammenwirken jener „zwei
Seelen in seiner Brust" bezeugt, von dem wir ausgingen, und das wir in den
allgemeinsten Grundzügen seiner philosophischen Weltanschauung nunmehr wieder¬
zuerkennen versuchen wollen.

Wir haben der naturwissenschaftlichen Methode ein Loblied gesungen und
sind darin so weit gegangen, als es irgend von einem Philosophen erwartet
werden kann, der nichtsdestoweniger die Traditionen unsrer großen deutschen
Denker hochhält und bewahren will. Wir müssen jetzt auf die andre Seite
treten und fragen, warum nicht bei jenen Vorzügen der Nntnrwissenschaft die
Philosophie gänzlich von dieser verschlungen worden ist, warum selbst Männer
von ursprünglich vorherrschend exacter, physikalischer Richtung zu idealistischen
Gedanken gedrängt werden, welche auf jenem Boden nicht gewachsen sein
würden, warum sie sogar durch ästhetische, religiöse, ethische Jdealforderungen


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[0294] Hermann Lotzes System der Philosophie. seit I. G. Fichte gerathen war, that sicherlich die erneute Zucht exacter Unter¬ suchungen noth. Bereits Schleiermacher hatte, obwohl sonst auf gleichem Boden mit der ältern Speculation stehend, in seiner Weise hierzu eingelenkt; Tren¬ delenburg erwarb sich in der Kritik Hegels und eigner, sauber und vorsichtig vorschreitender Gedankenführung in gleicher Richtung wesentliches Verdienst; aber die radicalste und dauerndste Cur war nur von deu Stahlbädern einer müh¬ samen empirischen Forschung zu erwarten. Noch einer sehr wesentlichen äußern Veränderung ist zu gedenken, welche diese Regeneration der deutschen Philo¬ sophie zur Folge hatte: es bildete sich ein deutscher philosophischer Schriftstil aus, der die Schule unsrer Klassiker zeigte, unnützen gelehrten Ballast über Bord warf, Klarheit und guten Geschmack mit weihevoller Höhe des Ausdrucks zu vereinigen wußte. Die frühern hatten nicht selten die weihevolle Höhe nur durch mystische Verschleierungen zu erreichen vermocht und in der Ueberfülle ihrer Eingebungen sich ins Znngenreden verloren, das Verständniß dem guten Glücke anheimstellend. Andre, wie Krause, schufen lieber gleich eine eigne Sprache; noch andre, wie Schopenhauer, suchten die Verständlichkeit im ungenirter, cynischen Drauflosreden, ohne dadurch irgend ein helleres Licht in die Dunkelheiten ihrer Traumwelt zu tragen. Vielleicht verdient nach allen hier angedeuteten Seiten Lotze am vollständigsten den Namen des deutschen Klassikers der Philo¬ sophie. Die in ihm zu jener Strenge und Klarheit ächter Wissenschaft hinzu¬ tretende ästhetische, künstlerische Tendenz erwies sich hier von höchstem Vortheil. Sollen wir noch kritisiren, so können wir an seiner Darstellungsform höchstens hie und da ein Uebermaß von Feinheit, Keuschheit und Weichheit tadeln, das ein absichtliches Verwischen der Uebergänge, verfließende Eintheilungen, Mangel an plastischen Conturen im Gefolge hat. Aber vor allem in seinem vielgelesenen Hauptwerke, das seine Philosophie in allen ihren Theilen berührt, dem drei¬ bändigen „Mikrokosmus" (zuerst 18S6-1864, zuletzt 1876—1880). finden sich Partien, vor denen selbst diese geringen Bedenken verstummen. Auch in der Physiognomie seines Stils finden wir dasselbe Zusammenwirken jener „zwei Seelen in seiner Brust" bezeugt, von dem wir ausgingen, und das wir in den allgemeinsten Grundzügen seiner philosophischen Weltanschauung nunmehr wieder¬ zuerkennen versuchen wollen. Wir haben der naturwissenschaftlichen Methode ein Loblied gesungen und sind darin so weit gegangen, als es irgend von einem Philosophen erwartet werden kann, der nichtsdestoweniger die Traditionen unsrer großen deutschen Denker hochhält und bewahren will. Wir müssen jetzt auf die andre Seite treten und fragen, warum nicht bei jenen Vorzügen der Nntnrwissenschaft die Philosophie gänzlich von dieser verschlungen worden ist, warum selbst Männer von ursprünglich vorherrschend exacter, physikalischer Richtung zu idealistischen Gedanken gedrängt werden, welche auf jenem Boden nicht gewachsen sein würden, warum sie sogar durch ästhetische, religiöse, ethische Jdealforderungen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/294>, abgerufen am 01.09.2024.