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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Hermann Lotzes System der Philosophie.

metaphysischen, zu markiren. Im Begriffe, die Feder hierzu anzusetzen, werden
wir von der Nachricht des plötzlich eingetretnen Lebensendes des noch nicht an
der Mitte der sechziger Jahre angelangten schmerzlich überrascht. Wir hatten
gewünscht und gehofft, was wir zu sagen uns vorgenommen, im Vorausblick
auf eine sich noch steigernde und verallgemeinernde Wirksamkeit des trefflichen
Mannes aussprechen zu können, im Vorausblick auch auf die Fortführung des
noch zu beendenden letzten Hauptwerkes. Das Geschick nöthigt uns zu dem
rückwärts gewendeten Blicke, der dankbar dem Gewordenen und nun Geschlossener
folgt, aber auch um so lebendiger an die Pflicht mahnt, die den Nachlebenden
die Uebernahme fortwirkender Arbeit in den gewiesenen Bahnen gebietet.

Lotzes wissenschaftlicher Standpunkt ist in entscheidender Jugendzeit, zwischen
seinem siebzehnten und zweiundzwanzigsten Lebensjahre -- er war 1817 in Bautzen
in der sächsischen Oberlausitz geboren --, von zwei sehr entgegengesetzten Seiten be¬
stimmt worden, entsprechend dem Doppelstudium der Mediein und der Philosophie,
welches ihm im Jahre 1839 die Habilitation an der Leipziger Universität in beiden
Facultäten ermöglichte. Denselben Doppelcharakter tragen noch ein reichliches
Jahrzehnt lang seine Werke. Der "Metaphysik" von 1841 folgt im nächsten
Jahre "Allgemeine Pathologie und Therapie als mechanische Naturwissenschaften,"
ebenso der "Logik" von 1843 der berühmt gewordne Artikel "Leben und Lebens¬
kraft" in Wagners Handwörterbuch der Physiologie und eine "Allgemeine Physio¬
logie des körperlichen Lebens" im Jahre 18S1; die "Medicinische Psychologie
oder Physiologie der Seele" (1852) faßt das sonst geschiedene unter einen bis
dahin unerhörten einheitlichen Titel zusammen. Jene beiden Elemente haben
aber nicht in gleichem Sinne auf die Gestaltung von Lotzes Denkweise eingewirkt;
was an derselben das eigentlich wissenschaftliche Moment genannt werden muß,
ist durchaus auf dem Boden naturwissenschaftlicher Schulung erwachsen, während
die philosophische Seite von vornherein nur durch das Bedürfniß nach einer das
Gemüth erfüllenden ethisch-ästhetischen Idealwelt sich zugesellte. Die Anziehungs¬
kraft, welche in dieser Richtung Fichte, Schelling, Hegel auf Lotze ausübten, hat
er jederzeit von wissenschaftlicher Befriedigung wohl zu unterscheiden verstanden.
Ani so nachhaltiger und eingreifender mußte der Einfluß solcher Lehren für ihn
werden, welche eine Verknüpfung idealer Forderungen und philosophischer Be¬
griffe mit der naturwissenschaftlichen Ansicht der Dinge gestatteten, wie die
Leibnizische Philosophie, oder durch strenge Abgrenzung des Vernunftgebiets
gegen das Gebiet der Phantasie und des Gefühls den Forderungen beider ihr
selbständiges Recht sicherten. In letzterm Sinne ist wohl hauptsächlich Lotzes
eignes Bekenntniß zu verstehen, wonach die Einwirkung des Philosophen Ch. H.
Weiße für ihn wahrhaft grundlegend und für immer richtunggebend geworden
ist, so sehr auch jenes andre, naturwissenschaftliche und Leibnizische Element die
gänzliche Verschmelzung ihrer beiderseitigen Resultate verhinderte. Weiße danke
er es, erklärte Lotze in den "Streitschriften" von 1837 an I. H. Fichte, "über


Hermann Lotzes System der Philosophie.

metaphysischen, zu markiren. Im Begriffe, die Feder hierzu anzusetzen, werden
wir von der Nachricht des plötzlich eingetretnen Lebensendes des noch nicht an
der Mitte der sechziger Jahre angelangten schmerzlich überrascht. Wir hatten
gewünscht und gehofft, was wir zu sagen uns vorgenommen, im Vorausblick
auf eine sich noch steigernde und verallgemeinernde Wirksamkeit des trefflichen
Mannes aussprechen zu können, im Vorausblick auch auf die Fortführung des
noch zu beendenden letzten Hauptwerkes. Das Geschick nöthigt uns zu dem
rückwärts gewendeten Blicke, der dankbar dem Gewordenen und nun Geschlossener
folgt, aber auch um so lebendiger an die Pflicht mahnt, die den Nachlebenden
die Uebernahme fortwirkender Arbeit in den gewiesenen Bahnen gebietet.

Lotzes wissenschaftlicher Standpunkt ist in entscheidender Jugendzeit, zwischen
seinem siebzehnten und zweiundzwanzigsten Lebensjahre — er war 1817 in Bautzen
in der sächsischen Oberlausitz geboren —, von zwei sehr entgegengesetzten Seiten be¬
stimmt worden, entsprechend dem Doppelstudium der Mediein und der Philosophie,
welches ihm im Jahre 1839 die Habilitation an der Leipziger Universität in beiden
Facultäten ermöglichte. Denselben Doppelcharakter tragen noch ein reichliches
Jahrzehnt lang seine Werke. Der „Metaphysik" von 1841 folgt im nächsten
Jahre „Allgemeine Pathologie und Therapie als mechanische Naturwissenschaften,"
ebenso der „Logik" von 1843 der berühmt gewordne Artikel „Leben und Lebens¬
kraft" in Wagners Handwörterbuch der Physiologie und eine „Allgemeine Physio¬
logie des körperlichen Lebens" im Jahre 18S1; die „Medicinische Psychologie
oder Physiologie der Seele" (1852) faßt das sonst geschiedene unter einen bis
dahin unerhörten einheitlichen Titel zusammen. Jene beiden Elemente haben
aber nicht in gleichem Sinne auf die Gestaltung von Lotzes Denkweise eingewirkt;
was an derselben das eigentlich wissenschaftliche Moment genannt werden muß,
ist durchaus auf dem Boden naturwissenschaftlicher Schulung erwachsen, während
die philosophische Seite von vornherein nur durch das Bedürfniß nach einer das
Gemüth erfüllenden ethisch-ästhetischen Idealwelt sich zugesellte. Die Anziehungs¬
kraft, welche in dieser Richtung Fichte, Schelling, Hegel auf Lotze ausübten, hat
er jederzeit von wissenschaftlicher Befriedigung wohl zu unterscheiden verstanden.
Ani so nachhaltiger und eingreifender mußte der Einfluß solcher Lehren für ihn
werden, welche eine Verknüpfung idealer Forderungen und philosophischer Be¬
griffe mit der naturwissenschaftlichen Ansicht der Dinge gestatteten, wie die
Leibnizische Philosophie, oder durch strenge Abgrenzung des Vernunftgebiets
gegen das Gebiet der Phantasie und des Gefühls den Forderungen beider ihr
selbständiges Recht sicherten. In letzterm Sinne ist wohl hauptsächlich Lotzes
eignes Bekenntniß zu verstehen, wonach die Einwirkung des Philosophen Ch. H.
Weiße für ihn wahrhaft grundlegend und für immer richtunggebend geworden
ist, so sehr auch jenes andre, naturwissenschaftliche und Leibnizische Element die
gänzliche Verschmelzung ihrer beiderseitigen Resultate verhinderte. Weiße danke
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/292>, abgerufen am 01.09.2024.