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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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steine kann des andern zu seiner Existenz entbehren; ohne die Monarchie und
das Deutschthum aber würden dort sehr bald ähnliche Zustande des Zerfalles
eintreten wie weiter nach Osten in der Türkei.

Es ist unmöglich, die wahren Aufgaben und Probleme des Staatslebens
vom Standpunkte irgend einer einzelnen einseitigen Parteidoetrin aus zu er¬
ledigen. Der echte und schöpferische Staatsmann wird überall den gerade be¬
stehenden und augenfällig vorhandnen Verhältnissen vorauseilen und die weiterhin
kommenden Ziele, Bedürfnisse und Gefahren der Lage im Auge behalten müssen.
Die Parteien aber rechnen in der Regel nur mit dem, was gerade da ist und
was sich in die bisher geltenden Principien und Erfahrungssätze einordnen läßt.
Der Staatsmann, der wirklich am Ruder sitzt, sieht die kommenden Aufgaben
und Gefahren der Regel nach wahrscheinlich besser, als dieses durch die Brillen
und Ferngläser der ihn umstehenden, an der Führung des Schiffes nicht direct
betheiligten Passagiere geschehen kann. Den rechten Mann zur rechte" Zeit
ans Ruder zu bringen, ist überall die Hauptsache im Leben, und statt alles
uuberufneu Dreiuredens ist es Pflicht, ihn nach Möglichkeit mit Vertrauen
zu unterstützen. Es gilt jetzt aber in der That neue Lösungen für die hervor¬
tretenden Aufgaben und Probleme des nationalen Lebens zu finden. Die wirk¬
liche Noth ist da und tritt von innen und von außen her fortwährend in be¬
stimmten Symptomen an uns heran. Die Kurzsichtigkeit der Parteien aber
kommt über ihren bloßen programmmäßigen Formalismus und über die sich
ewig wiederholende Oede ihres Wortgefechtes nicht hinaus. Es ist auch eine be¬
kannte Thatsache, daß der Mensch zu allem wirklich neuen und guten in der
Regel erst hat gezwungen werden müssen. Das Dogma von der Unfehlbarkeit
und dem sogenannten Instincte der Massen ist ein vollkommen falsches. Das
wahrhaft neue ist stets etwas, was außerhalb der Grenze der augenblicklich be¬
stehenden und herrschenden Ansichten, Meinungen oder Vorurtheile liegt. Auch
darüber, ob der gegenwärtige, auf der Basis des allgemeine" Stimmrechts ruhende
Parlamentarismus die wahre Form des Staatslebens sei, wird man in Zu¬
kunft vielleicht uoch anders urtheilen als jetzt. Die wahre Pflicht der Bethei-
ligung des Bürgers am öffentlichen Leben wird nicht durch einen bloßen Gang
an die Wahlurne erschöpft. Unser ganzes Staatsleben ist weder der Form noch
dem Inhalte nach wahrhaft ausgebildet und fertig zu nennen. Der wahrhafte
Zweck des Staates aber liegt nur im Individuum oder in der materiellen,
geistigen und sittlichen Wohlfahrt und .Hebung seiner Bürger. Aller äußer¬
liche Apparat des Wohlstandes "ut der Bildung aber kann uus nicht ver¬
blenden, weder über die materielle Noth, noch über die geistige und sittliche
Rohheit, an der die gegenwärtige Gesellschaft in weitem Umfange leidet. Auch
hier wird mit deu gewohnten und Hergebrachten Mitteln auf die Dauer nicht
mehr auszukommen sei". Der wirkliche Mensch und der wirkliche Staat ist
durchaus ein andrer, als er von irgend einem abstracten Standpunkt aus


steine kann des andern zu seiner Existenz entbehren; ohne die Monarchie und
das Deutschthum aber würden dort sehr bald ähnliche Zustande des Zerfalles
eintreten wie weiter nach Osten in der Türkei.

Es ist unmöglich, die wahren Aufgaben und Probleme des Staatslebens
vom Standpunkte irgend einer einzelnen einseitigen Parteidoetrin aus zu er¬
ledigen. Der echte und schöpferische Staatsmann wird überall den gerade be¬
stehenden und augenfällig vorhandnen Verhältnissen vorauseilen und die weiterhin
kommenden Ziele, Bedürfnisse und Gefahren der Lage im Auge behalten müssen.
Die Parteien aber rechnen in der Regel nur mit dem, was gerade da ist und
was sich in die bisher geltenden Principien und Erfahrungssätze einordnen läßt.
Der Staatsmann, der wirklich am Ruder sitzt, sieht die kommenden Aufgaben
und Gefahren der Regel nach wahrscheinlich besser, als dieses durch die Brillen
und Ferngläser der ihn umstehenden, an der Führung des Schiffes nicht direct
betheiligten Passagiere geschehen kann. Den rechten Mann zur rechte» Zeit
ans Ruder zu bringen, ist überall die Hauptsache im Leben, und statt alles
uuberufneu Dreiuredens ist es Pflicht, ihn nach Möglichkeit mit Vertrauen
zu unterstützen. Es gilt jetzt aber in der That neue Lösungen für die hervor¬
tretenden Aufgaben und Probleme des nationalen Lebens zu finden. Die wirk¬
liche Noth ist da und tritt von innen und von außen her fortwährend in be¬
stimmten Symptomen an uns heran. Die Kurzsichtigkeit der Parteien aber
kommt über ihren bloßen programmmäßigen Formalismus und über die sich
ewig wiederholende Oede ihres Wortgefechtes nicht hinaus. Es ist auch eine be¬
kannte Thatsache, daß der Mensch zu allem wirklich neuen und guten in der
Regel erst hat gezwungen werden müssen. Das Dogma von der Unfehlbarkeit
und dem sogenannten Instincte der Massen ist ein vollkommen falsches. Das
wahrhaft neue ist stets etwas, was außerhalb der Grenze der augenblicklich be¬
stehenden und herrschenden Ansichten, Meinungen oder Vorurtheile liegt. Auch
darüber, ob der gegenwärtige, auf der Basis des allgemeine« Stimmrechts ruhende
Parlamentarismus die wahre Form des Staatslebens sei, wird man in Zu¬
kunft vielleicht uoch anders urtheilen als jetzt. Die wahre Pflicht der Bethei-
ligung des Bürgers am öffentlichen Leben wird nicht durch einen bloßen Gang
an die Wahlurne erschöpft. Unser ganzes Staatsleben ist weder der Form noch
dem Inhalte nach wahrhaft ausgebildet und fertig zu nennen. Der wahrhafte
Zweck des Staates aber liegt nur im Individuum oder in der materiellen,
geistigen und sittlichen Wohlfahrt und .Hebung seiner Bürger. Aller äußer¬
liche Apparat des Wohlstandes »ut der Bildung aber kann uus nicht ver¬
blenden, weder über die materielle Noth, noch über die geistige und sittliche
Rohheit, an der die gegenwärtige Gesellschaft in weitem Umfange leidet. Auch
hier wird mit deu gewohnten und Hergebrachten Mitteln auf die Dauer nicht
mehr auszukommen sei». Der wirkliche Mensch und der wirkliche Staat ist
durchaus ein andrer, als er von irgend einem abstracten Standpunkt aus


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/26>, abgerufen am 01.09.2024.