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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

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Paul Heyse.

der Dichter die höchsten ethischen Forderungen und setzte von seinen "Kindern
der Welt" voraus, daß sie das Gvcthische "Edel sei der Mensch, hilfreich und
gut" um so voller ausüben, je gewisser ihnen nichts als das geblieben sei. Das
empfindet man heute, wo der Lärm, der Hehses ersten Roman begrüßt, längst
verhallt ist, stärker und sichrer als damals. Die "Kinder der Welt" stelle"
gleichsam eine" poetischen Protest dagegen dar, den sittlichen Werth des Menschen
nach seinem Verhältniß zu den Fragen des Jenseits zu messen, und führen eine
ganze Reihe von Gestalten vor, welche es mit dem Gedanken, daß sie sich hier
aufleben, hier ihr Dasein rechtfertigen müssen, bitter ernst nehmen und dabei
doch das Leben als ein werthvolles Gut empfinden. Wir dürfen auf keine Contro-
versen über den philosophischen Gehalt des Romans eintrete", er rührt an so ernste
und tiefe Frage", daß wir weit aushole" und uns mit jeder einzelnen Gestalt und
jeder Sentenz auseinandersetzen müßten. Das Recht des Dichters, diese Dinge in
den Kreis seiner Darstellung zu ziehen, liegt einfach in seinem Rechte, das ganze
Leben darzustellen, begründet. Was Menschen erfüllt und bewegt, beseligt und
niederschmettert, auf ihre Charaktere und Schicksale tief einwirkt, kann an sich
der poetischen Verwendung "icht entzöge" werden und droht immer nur durch
die Art der Behandlung, außerpvctisch zu bleiben. Hesse ist dieser Gefahr aus¬
gewichen -- aber anf Kosten seiner Idee. Die Erlebnisse des Haupthelden,
feine Liebesbeziehungen zu der unseligen Tvinette und zu Lea König könnten
beinahe (nicht ganz) von einem jungen Privatdocenten der ungläubige" Philo¬
sophie auf einen jungen Docenten der orthodoxen Theologie übertragen werden.
Im allgemeinen läßt sich zunächst erinnern, daß in dem in Rede stehenden
Roman Licht und Schatten verzweifelt ungleich vertheilt erscheine,?. So wenig
als alle Repräsentanten der von Paul Hesse befehdeten Anschauung und Ge¬
sinnung Lorinsers sind, so wenig zieht die vom Dichter vertretene Anschauung
überall und immer Edwins und Baldcrs, ja auch nur Maraunrds groß. Und
wollten wir gelten lassen, daß der Poet, da er hier einmal Tendenzschrift¬
steller geworden, nur ein Nepressivnsrecht gegen die gläubige" Schriftsteller geübt
habe, die von den Kindern der Welt bedenkliche Carricaturen zu entwerfen Pflege",
so bleibt auch in seinem Sinne ein wunderbarer Widerspruch in der Seele und
dein Verhalten seiner Hauptgestalten. Sie alle sind "Kinder der Welt, die nicht
Nüssen, woher sie kommen und wohin sie gehen." sie alle bescheiden sich dabei,
zu erfahren, "wie viel wir überhaupt zu wissen fähig sind und wo die ewig dunklen
Abgründe liegen." In dieser Bescheidung, dünkt uns, sind sie nicht berechtigt,
eiuen so hohen und aggressiven Ton anzuschlagen -- sie wissen von den höchsten
und letzten Dingen nicht mehr als die ander", die sich bescheiden, zu glauben.
Doch läßt sich hier kein Schritt zu einem Urtheile thun, ohne sofort vom ästhetischen
Gebiet hinweg auf andres Terrain zu gerathen. Rein als Kunstwerk betrachtet,
leidet der Roman "Kinder der Welt" an stärkern Gebrechen als irgend welche
andren Werke Hehses. Die Composition entbehrt der einheitlichen Geschlossen-


Paul Heyse.

der Dichter die höchsten ethischen Forderungen und setzte von seinen „Kindern
der Welt" voraus, daß sie das Gvcthische „Edel sei der Mensch, hilfreich und
gut" um so voller ausüben, je gewisser ihnen nichts als das geblieben sei. Das
empfindet man heute, wo der Lärm, der Hehses ersten Roman begrüßt, längst
verhallt ist, stärker und sichrer als damals. Die „Kinder der Welt" stelle»
gleichsam eine» poetischen Protest dagegen dar, den sittlichen Werth des Menschen
nach seinem Verhältniß zu den Fragen des Jenseits zu messen, und führen eine
ganze Reihe von Gestalten vor, welche es mit dem Gedanken, daß sie sich hier
aufleben, hier ihr Dasein rechtfertigen müssen, bitter ernst nehmen und dabei
doch das Leben als ein werthvolles Gut empfinden. Wir dürfen auf keine Contro-
versen über den philosophischen Gehalt des Romans eintrete», er rührt an so ernste
und tiefe Frage», daß wir weit aushole» und uns mit jeder einzelnen Gestalt und
jeder Sentenz auseinandersetzen müßten. Das Recht des Dichters, diese Dinge in
den Kreis seiner Darstellung zu ziehen, liegt einfach in seinem Rechte, das ganze
Leben darzustellen, begründet. Was Menschen erfüllt und bewegt, beseligt und
niederschmettert, auf ihre Charaktere und Schicksale tief einwirkt, kann an sich
der poetischen Verwendung »icht entzöge» werden und droht immer nur durch
die Art der Behandlung, außerpvctisch zu bleiben. Hesse ist dieser Gefahr aus¬
gewichen — aber anf Kosten seiner Idee. Die Erlebnisse des Haupthelden,
feine Liebesbeziehungen zu der unseligen Tvinette und zu Lea König könnten
beinahe (nicht ganz) von einem jungen Privatdocenten der ungläubige» Philo¬
sophie auf einen jungen Docenten der orthodoxen Theologie übertragen werden.
Im allgemeinen läßt sich zunächst erinnern, daß in dem in Rede stehenden
Roman Licht und Schatten verzweifelt ungleich vertheilt erscheine,?. So wenig
als alle Repräsentanten der von Paul Hesse befehdeten Anschauung und Ge¬
sinnung Lorinsers sind, so wenig zieht die vom Dichter vertretene Anschauung
überall und immer Edwins und Baldcrs, ja auch nur Maraunrds groß. Und
wollten wir gelten lassen, daß der Poet, da er hier einmal Tendenzschrift¬
steller geworden, nur ein Nepressivnsrecht gegen die gläubige» Schriftsteller geübt
habe, die von den Kindern der Welt bedenkliche Carricaturen zu entwerfen Pflege»,
so bleibt auch in seinem Sinne ein wunderbarer Widerspruch in der Seele und
dein Verhalten seiner Hauptgestalten. Sie alle sind „Kinder der Welt, die nicht
Nüssen, woher sie kommen und wohin sie gehen." sie alle bescheiden sich dabei,
zu erfahren, „wie viel wir überhaupt zu wissen fähig sind und wo die ewig dunklen
Abgründe liegen." In dieser Bescheidung, dünkt uns, sind sie nicht berechtigt,
eiuen so hohen und aggressiven Ton anzuschlagen — sie wissen von den höchsten
und letzten Dingen nicht mehr als die ander», die sich bescheiden, zu glauben.
Doch läßt sich hier kein Schritt zu einem Urtheile thun, ohne sofort vom ästhetischen
Gebiet hinweg auf andres Terrain zu gerathen. Rein als Kunstwerk betrachtet,
leidet der Roman „Kinder der Welt" an stärkern Gebrechen als irgend welche
andren Werke Hehses. Die Composition entbehrt der einheitlichen Geschlossen-


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[0559] Paul Heyse. der Dichter die höchsten ethischen Forderungen und setzte von seinen „Kindern der Welt" voraus, daß sie das Gvcthische „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut" um so voller ausüben, je gewisser ihnen nichts als das geblieben sei. Das empfindet man heute, wo der Lärm, der Hehses ersten Roman begrüßt, längst verhallt ist, stärker und sichrer als damals. Die „Kinder der Welt" stelle» gleichsam eine» poetischen Protest dagegen dar, den sittlichen Werth des Menschen nach seinem Verhältniß zu den Fragen des Jenseits zu messen, und führen eine ganze Reihe von Gestalten vor, welche es mit dem Gedanken, daß sie sich hier aufleben, hier ihr Dasein rechtfertigen müssen, bitter ernst nehmen und dabei doch das Leben als ein werthvolles Gut empfinden. Wir dürfen auf keine Contro- versen über den philosophischen Gehalt des Romans eintrete», er rührt an so ernste und tiefe Frage», daß wir weit aushole» und uns mit jeder einzelnen Gestalt und jeder Sentenz auseinandersetzen müßten. Das Recht des Dichters, diese Dinge in den Kreis seiner Darstellung zu ziehen, liegt einfach in seinem Rechte, das ganze Leben darzustellen, begründet. Was Menschen erfüllt und bewegt, beseligt und niederschmettert, auf ihre Charaktere und Schicksale tief einwirkt, kann an sich der poetischen Verwendung »icht entzöge» werden und droht immer nur durch die Art der Behandlung, außerpvctisch zu bleiben. Hesse ist dieser Gefahr aus¬ gewichen — aber anf Kosten seiner Idee. Die Erlebnisse des Haupthelden, feine Liebesbeziehungen zu der unseligen Tvinette und zu Lea König könnten beinahe (nicht ganz) von einem jungen Privatdocenten der ungläubige» Philo¬ sophie auf einen jungen Docenten der orthodoxen Theologie übertragen werden. Im allgemeinen läßt sich zunächst erinnern, daß in dem in Rede stehenden Roman Licht und Schatten verzweifelt ungleich vertheilt erscheine,?. So wenig als alle Repräsentanten der von Paul Hesse befehdeten Anschauung und Ge¬ sinnung Lorinsers sind, so wenig zieht die vom Dichter vertretene Anschauung überall und immer Edwins und Baldcrs, ja auch nur Maraunrds groß. Und wollten wir gelten lassen, daß der Poet, da er hier einmal Tendenzschrift¬ steller geworden, nur ein Nepressivnsrecht gegen die gläubige» Schriftsteller geübt habe, die von den Kindern der Welt bedenkliche Carricaturen zu entwerfen Pflege», so bleibt auch in seinem Sinne ein wunderbarer Widerspruch in der Seele und dein Verhalten seiner Hauptgestalten. Sie alle sind „Kinder der Welt, die nicht Nüssen, woher sie kommen und wohin sie gehen." sie alle bescheiden sich dabei, zu erfahren, „wie viel wir überhaupt zu wissen fähig sind und wo die ewig dunklen Abgründe liegen." In dieser Bescheidung, dünkt uns, sind sie nicht berechtigt, eiuen so hohen und aggressiven Ton anzuschlagen — sie wissen von den höchsten und letzten Dingen nicht mehr als die ander», die sich bescheiden, zu glauben. Doch läßt sich hier kein Schritt zu einem Urtheile thun, ohne sofort vom ästhetischen Gebiet hinweg auf andres Terrain zu gerathen. Rein als Kunstwerk betrachtet, leidet der Roman „Kinder der Welt" an stärkern Gebrechen als irgend welche andren Werke Hehses. Die Composition entbehrt der einheitlichen Geschlossen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/559>, abgerufen am 25.08.2024.