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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

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Zum Jubiläum eines Buches.

lichkeit auf dem Wege theoretischer Verstmideserkenntniß Realität nicht gewähr¬
leistet werden kann.

Wäre dies aber das Endergebniß von Kants Philosophiren überhaupt,
hätte er uns nichts weiter als die "Kritik der reinen Vernunft" hinterlassen, so
wäre er freilich auch so in der Geschichte der'Philosophie unsterblich; wenn
aber das deutsche Volk den Namen Kant nennt, so denkt es dabei nicht nur an
den Erneuerer der Erkeuutnißtheorie, es denkt dabei vor allem und in erster
Linie an den Reformator auf sittlichem Gebiete,, an den Mann des kategorischen
Imperativs, der mit ernster Stimme die Gewissen ausrüttelte und dem Worte
"Pflicht" wieder die gebührende Achtung verschaffte. Wie wir sahen, hatte sich
Kant in der "Kritik der reinen Verminst" die Untersuchung des menschlichen Er-
kenntnißvermögens zur Aufgabe gemacht, und diese Aufgabe hat er in seinem
Werke gelöst; er hat den Verstand nach allen Richtungen hin durchforscht, seine
Grenzen aufs genauste ausgemessen und ein vollständiges Inventarium seiner
Besitzstücke aufgenommen. Wenn er dabei zu dem Resultate kam, daß dieser
Verstand mit seiner Erkenntniß auf die Erfahrung beschränkt, daß die übersinn¬
liche Welt für ihn unerreichbar sei, so hat er doch die Existenz einer solchen
übersinnlichen Welt damit nicht in Abrede gestellt. So richtet sich z. B. seine
Kritik der rationalen Theologie nicht gegen die Existenz Gottes selbst, sondern
nur gegen ihre theoretische Beweisbarkeit, und indem er die wissenschaftlichen
Beweise für Gottes Existenz widerlegt, widerlegt er zugleich ihre Kehrseite, die
Beweise für seiue Nicht-Existenz. Das Dasein Gottes ist wissenschaftlich weder
zu beweisen noch zu widerlegen, so lautet das Ergebniß jener Kritik, und ganz
dasselbe gilt auch von den übrigen Objecten einer übersinnlichen Welt. Sollte
es also zu dieser übersinnlichen Welt einen andern Zugang geben als den Weg
der theoretischen Verstandeserkenntniß, so wäre uns derselbe durch die Resultate
der "Kritik der reinen Vernunft" durchaus nicht verlegt. Und einen solchen Zu¬
gang giebt es nach Kant, und er selbst zeigt ihn uns in seinen ethischen Schriften,
besonders in seiner "Kritik der praktischen Vernunft." Der Mensch ist nicht nur
ein erkennendes, sondern auch ein wollendes, ein handelndes Wesen, er hat, wie
Kant sagt, nicht nur theoretische, sondern auch praktische Vernunft, und diese
letztre ist es, durch die er die der Speculation gezognen Grenzen zu überschreite"
imstande ist. Was das Erkennen vergebens erstrebte, die Pforte der übersinn¬
lichen Welt zu offnen, das vermag das sittliche Wollen. Bei allem unserm
Wollen, sagt Kant, fühlen wir uns einem Sittengesetz unterworfen, das die
Praktische Vernunft uns giebt. Dieses Gesetz ist ein unbedingt, ohne. Rücksicht
ans einen andern Zweck gebietendes, das um seiner selbst willen beobachtet werden
soll, ein kategorischer Imperativ. Sollen wir dieses Gesetz befolgen, so müssen


Zum Jubiläum eines Buches.

lichkeit auf dem Wege theoretischer Verstmideserkenntniß Realität nicht gewähr¬
leistet werden kann.

Wäre dies aber das Endergebniß von Kants Philosophiren überhaupt,
hätte er uns nichts weiter als die „Kritik der reinen Vernunft" hinterlassen, so
wäre er freilich auch so in der Geschichte der'Philosophie unsterblich; wenn
aber das deutsche Volk den Namen Kant nennt, so denkt es dabei nicht nur an
den Erneuerer der Erkeuutnißtheorie, es denkt dabei vor allem und in erster
Linie an den Reformator auf sittlichem Gebiete,, an den Mann des kategorischen
Imperativs, der mit ernster Stimme die Gewissen ausrüttelte und dem Worte
„Pflicht" wieder die gebührende Achtung verschaffte. Wie wir sahen, hatte sich
Kant in der „Kritik der reinen Verminst" die Untersuchung des menschlichen Er-
kenntnißvermögens zur Aufgabe gemacht, und diese Aufgabe hat er in seinem
Werke gelöst; er hat den Verstand nach allen Richtungen hin durchforscht, seine
Grenzen aufs genauste ausgemessen und ein vollständiges Inventarium seiner
Besitzstücke aufgenommen. Wenn er dabei zu dem Resultate kam, daß dieser
Verstand mit seiner Erkenntniß auf die Erfahrung beschränkt, daß die übersinn¬
liche Welt für ihn unerreichbar sei, so hat er doch die Existenz einer solchen
übersinnlichen Welt damit nicht in Abrede gestellt. So richtet sich z. B. seine
Kritik der rationalen Theologie nicht gegen die Existenz Gottes selbst, sondern
nur gegen ihre theoretische Beweisbarkeit, und indem er die wissenschaftlichen
Beweise für Gottes Existenz widerlegt, widerlegt er zugleich ihre Kehrseite, die
Beweise für seiue Nicht-Existenz. Das Dasein Gottes ist wissenschaftlich weder
zu beweisen noch zu widerlegen, so lautet das Ergebniß jener Kritik, und ganz
dasselbe gilt auch von den übrigen Objecten einer übersinnlichen Welt. Sollte
es also zu dieser übersinnlichen Welt einen andern Zugang geben als den Weg
der theoretischen Verstandeserkenntniß, so wäre uns derselbe durch die Resultate
der „Kritik der reinen Vernunft" durchaus nicht verlegt. Und einen solchen Zu¬
gang giebt es nach Kant, und er selbst zeigt ihn uns in seinen ethischen Schriften,
besonders in seiner „Kritik der praktischen Vernunft." Der Mensch ist nicht nur
ein erkennendes, sondern auch ein wollendes, ein handelndes Wesen, er hat, wie
Kant sagt, nicht nur theoretische, sondern auch praktische Vernunft, und diese
letztre ist es, durch die er die der Speculation gezognen Grenzen zu überschreite»
imstande ist. Was das Erkennen vergebens erstrebte, die Pforte der übersinn¬
lichen Welt zu offnen, das vermag das sittliche Wollen. Bei allem unserm
Wollen, sagt Kant, fühlen wir uns einem Sittengesetz unterworfen, das die
Praktische Vernunft uns giebt. Dieses Gesetz ist ein unbedingt, ohne. Rücksicht
ans einen andern Zweck gebietendes, das um seiner selbst willen beobachtet werden
soll, ein kategorischer Imperativ. Sollen wir dieses Gesetz befolgen, so müssen


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[0551] Zum Jubiläum eines Buches. lichkeit auf dem Wege theoretischer Verstmideserkenntniß Realität nicht gewähr¬ leistet werden kann. Wäre dies aber das Endergebniß von Kants Philosophiren überhaupt, hätte er uns nichts weiter als die „Kritik der reinen Vernunft" hinterlassen, so wäre er freilich auch so in der Geschichte der'Philosophie unsterblich; wenn aber das deutsche Volk den Namen Kant nennt, so denkt es dabei nicht nur an den Erneuerer der Erkeuutnißtheorie, es denkt dabei vor allem und in erster Linie an den Reformator auf sittlichem Gebiete,, an den Mann des kategorischen Imperativs, der mit ernster Stimme die Gewissen ausrüttelte und dem Worte „Pflicht" wieder die gebührende Achtung verschaffte. Wie wir sahen, hatte sich Kant in der „Kritik der reinen Verminst" die Untersuchung des menschlichen Er- kenntnißvermögens zur Aufgabe gemacht, und diese Aufgabe hat er in seinem Werke gelöst; er hat den Verstand nach allen Richtungen hin durchforscht, seine Grenzen aufs genauste ausgemessen und ein vollständiges Inventarium seiner Besitzstücke aufgenommen. Wenn er dabei zu dem Resultate kam, daß dieser Verstand mit seiner Erkenntniß auf die Erfahrung beschränkt, daß die übersinn¬ liche Welt für ihn unerreichbar sei, so hat er doch die Existenz einer solchen übersinnlichen Welt damit nicht in Abrede gestellt. So richtet sich z. B. seine Kritik der rationalen Theologie nicht gegen die Existenz Gottes selbst, sondern nur gegen ihre theoretische Beweisbarkeit, und indem er die wissenschaftlichen Beweise für Gottes Existenz widerlegt, widerlegt er zugleich ihre Kehrseite, die Beweise für seiue Nicht-Existenz. Das Dasein Gottes ist wissenschaftlich weder zu beweisen noch zu widerlegen, so lautet das Ergebniß jener Kritik, und ganz dasselbe gilt auch von den übrigen Objecten einer übersinnlichen Welt. Sollte es also zu dieser übersinnlichen Welt einen andern Zugang geben als den Weg der theoretischen Verstandeserkenntniß, so wäre uns derselbe durch die Resultate der „Kritik der reinen Vernunft" durchaus nicht verlegt. Und einen solchen Zu¬ gang giebt es nach Kant, und er selbst zeigt ihn uns in seinen ethischen Schriften, besonders in seiner „Kritik der praktischen Vernunft." Der Mensch ist nicht nur ein erkennendes, sondern auch ein wollendes, ein handelndes Wesen, er hat, wie Kant sagt, nicht nur theoretische, sondern auch praktische Vernunft, und diese letztre ist es, durch die er die der Speculation gezognen Grenzen zu überschreite» imstande ist. Was das Erkennen vergebens erstrebte, die Pforte der übersinn¬ lichen Welt zu offnen, das vermag das sittliche Wollen. Bei allem unserm Wollen, sagt Kant, fühlen wir uns einem Sittengesetz unterworfen, das die Praktische Vernunft uns giebt. Dieses Gesetz ist ein unbedingt, ohne. Rücksicht ans einen andern Zweck gebietendes, das um seiner selbst willen beobachtet werden soll, ein kategorischer Imperativ. Sollen wir dieses Gesetz befolgen, so müssen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/551>, abgerufen am 23.07.2024.