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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

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Zum Jubiläum eines Buches.

für ihn unmöglich sei, daß seine eignen Erkeiintliißformen sich gewissermaßen
zwischen ihn und die Dinge stellen und diese ihm verhüllen. Und so sehen nur
denn in der nachkantischen Philosophie allenthalben das Streben, diese Kluft zwischen
Denken und Sein zu überbrücken, und wenn die einen Kants Idealismus weiter
fortbildeten, so hielten sich die andern an die realistischen Elemente seiner Lehre
vom Ding an sich und suchten von hier aus zu einer Erkeuutuißtheorie zu ge¬
langen, welche eine wirkliche Erkenntniß der Dinge zu erreichen imstande wäre.

Da auf der Apriorität des Raumes die Möglichkeit der geometrischen, auf
der der Zeit die Möglichkeit der arithmetische" Urtheile beruht, so hat Kant mit
dein Nachweis jener Apriorität der Anschauungsformen zugleich die Frage be¬
antwortet: Wie ist reine Mathematik möglich? Ebenso hat mit der Darlegung
der apriorischen Denkformen die Frage, wie reine Naturwissenschaft möglich sei,
ihre Beantwortung gefunden; denn aus der Apriorität dieser Formen ergiebt sich
die Giltigkeit der allgemeinen Grundsätze, welche aller Naturwissenschaft, aller
empirischen Erfahrung zu Grunde liegen, z. B. des Satzes, daß alle Veränderungen
nach dem Gesetz der Verknüpfung von Ursache und Wirkung geschehen. Es bleibt also
von den drei Fragen, die Kant um die Spitze seiner Untersuchung gestellt hatte,
noch die nach der Möglichkeit einer Metaphysik zu beantworten. Wie wir be¬
reits oben sahen, beschränkt Kant unsre Erkenntniß ans die Gegenstände der Er¬
fahrung. Da nun die Metaphysik sich gerade mit dein über die Erfahrung Hinaus¬
liegenden, dein Uebcrsiinilichen beschäftigt, so muß er natürlich die Möglichkeit
einer Metaphysik in dem bisher geltenden Sinne verneinen. Dieses verneinende
Urtheil begründet er nun im einzelnen, indem er die drei metaphysische" Wissen¬
schaften, die rationale Psychologie, die Kosmologie und die Theologie, untersucht
und den Nachweis führt, daß dieselben durchaus verfehlt seien, daß ihren Ob-
jecten theoretische Giltigkeit nur durch eine Logik des Scheins vindicirt werden
könne. Von hervorragender Bedeutung ist hier besonders der Abschnitt, der die
Widerlegung der rationalen Theologie enthält. Kant unterzieht in ihm die "Beweise
für das Dasein Gottes" einer äußerst scharfen Kritik, durch die er jene seit Jahr¬
hunderten in unangefochtuem Ansehen stehende" Lieblinge der theologischen Spe-
culation für immer vernichtet. Es ist dies wohl derjenige Theil des Buches?
der die ausgedehnteste und tiefste Wirkung hervorgerufen hat; behandelt er doch
einen Gegenstand, dein in den weitesten Kreisen des Volkes ein ganz andres
Interesse entgegengebracht wird, als es die rein erkcnutuißlhevretischen Frage"
jemals z" erwecke" vermöge". So schließt also die "Kritik der reinen Verminst"
mit einem negativen Resultate ab, mit dem Ergebniß, daß die übersinnliche Welt
für unser Erkennen unerreichbar ist, daß jenen metaphysischen Begriffen, an denen
das höchste Interesse des Menschen haftet, den Ideen Gott, Freiheit, Unsterb-


Zum Jubiläum eines Buches.

für ihn unmöglich sei, daß seine eignen Erkeiintliißformen sich gewissermaßen
zwischen ihn und die Dinge stellen und diese ihm verhüllen. Und so sehen nur
denn in der nachkantischen Philosophie allenthalben das Streben, diese Kluft zwischen
Denken und Sein zu überbrücken, und wenn die einen Kants Idealismus weiter
fortbildeten, so hielten sich die andern an die realistischen Elemente seiner Lehre
vom Ding an sich und suchten von hier aus zu einer Erkeuutuißtheorie zu ge¬
langen, welche eine wirkliche Erkenntniß der Dinge zu erreichen imstande wäre.

Da auf der Apriorität des Raumes die Möglichkeit der geometrischen, auf
der der Zeit die Möglichkeit der arithmetische» Urtheile beruht, so hat Kant mit
dein Nachweis jener Apriorität der Anschauungsformen zugleich die Frage be¬
antwortet: Wie ist reine Mathematik möglich? Ebenso hat mit der Darlegung
der apriorischen Denkformen die Frage, wie reine Naturwissenschaft möglich sei,
ihre Beantwortung gefunden; denn aus der Apriorität dieser Formen ergiebt sich
die Giltigkeit der allgemeinen Grundsätze, welche aller Naturwissenschaft, aller
empirischen Erfahrung zu Grunde liegen, z. B. des Satzes, daß alle Veränderungen
nach dem Gesetz der Verknüpfung von Ursache und Wirkung geschehen. Es bleibt also
von den drei Fragen, die Kant um die Spitze seiner Untersuchung gestellt hatte,
noch die nach der Möglichkeit einer Metaphysik zu beantworten. Wie wir be¬
reits oben sahen, beschränkt Kant unsre Erkenntniß ans die Gegenstände der Er¬
fahrung. Da nun die Metaphysik sich gerade mit dein über die Erfahrung Hinaus¬
liegenden, dein Uebcrsiinilichen beschäftigt, so muß er natürlich die Möglichkeit
einer Metaphysik in dem bisher geltenden Sinne verneinen. Dieses verneinende
Urtheil begründet er nun im einzelnen, indem er die drei metaphysische» Wissen¬
schaften, die rationale Psychologie, die Kosmologie und die Theologie, untersucht
und den Nachweis führt, daß dieselben durchaus verfehlt seien, daß ihren Ob-
jecten theoretische Giltigkeit nur durch eine Logik des Scheins vindicirt werden
könne. Von hervorragender Bedeutung ist hier besonders der Abschnitt, der die
Widerlegung der rationalen Theologie enthält. Kant unterzieht in ihm die „Beweise
für das Dasein Gottes" einer äußerst scharfen Kritik, durch die er jene seit Jahr¬
hunderten in unangefochtuem Ansehen stehende» Lieblinge der theologischen Spe-
culation für immer vernichtet. Es ist dies wohl derjenige Theil des Buches?
der die ausgedehnteste und tiefste Wirkung hervorgerufen hat; behandelt er doch
einen Gegenstand, dein in den weitesten Kreisen des Volkes ein ganz andres
Interesse entgegengebracht wird, als es die rein erkcnutuißlhevretischen Frage»
jemals z» erwecke» vermöge». So schließt also die „Kritik der reinen Verminst"
mit einem negativen Resultate ab, mit dem Ergebniß, daß die übersinnliche Welt
für unser Erkennen unerreichbar ist, daß jenen metaphysischen Begriffen, an denen
das höchste Interesse des Menschen haftet, den Ideen Gott, Freiheit, Unsterb-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/550>, abgerufen am 23.07.2024.