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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

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Die bulgarische Krisis.

als Pathcnbrief eine Verfassung in die Wiege gelegt, über die jedem Liberalen vor
Freude die Angen übergehen. Was werden die Leute mit diesen Gaben machen
und leisten? Auf diese Frage ist bis diesen Tag eine äußerst unbefriedigende Ant¬
wort erfolgt. Von dem Augenblicke an, wo die Bulgaren in den Stand gesetzt
waren, ihre Angelegenheiten selbst zu verwalten, haben sie sich übel aufgeführt,
Dummheiten gröbster Art begangen, Unbilliges erstrebt und ausgeführt und sich
infolge dessen schlecht befunden. Nur in einem einzigen Stücke der Summe von
Rechten, mit denen man sie beschenkt, verfuhren sie vernünftig: die Wahl ihres
ersten Fürsten aus der Zahl der Bewerber um diese Würde traf das Richtige. Sie
gaben sich zum Beherrscher einen Prinzen, der mit einer guten natürlichen Be¬
gabung einen fleckenlosen Charakter verband, der mächtige Familienverbindnngcn
hatte, und der in die Schule und Zucht des preußischen Heeres gegangen war.
Europa billigte die Wahl und kam dem jungen Staate mit herzlichem Wohlwollen
entgegen. Prinz Alexander von Ballenberg, der ein Neffe des verstorbnen und
ein Vetter des jetzt regierenden Zaren und mit mehrern königlichen und fürstlichen
Häusern nahe verwandt war, und der sich der hohen Stellung, die ihm gegeben
worden, überdies dadurch würdig gemacht hatte, daß er für die Emancipation der
Bulgaren freiwillig auf dem Schlnchtfelde gekämpft hatte, ließ die Schöpfer des
Berliner Vertrags hoffen, daß sie weise gehandelt, als sie der Berstümmelnng der
Türkei nud dem Hauptpunkte des revolutionären Programms deS Panslavismus
ihre Zustimmung ertheilt.

In andern Beziehungen aber begannen die Bulgaren ihr neues politisches
Leben auf nichts weniger als kluge Art. Sie nahmen eine im Vergleich mit ihrem
Bildungszustände und allen andern Verhältnissen geradezu lächerliche Konstitution
an. Sie mißhandelten und beraubten ihre zahlreichen muhamednnischen Mitbürger
in himmelschreiender Weise. Ihre ersten Wahlen für die Landesvertretung waren
schon durch alle Mängel und Mißbräuche bezeichnet, welche sich Parasitisch in Län¬
dern entwickelt haben, wo bereits länger verfassungsmäßige Einrichtungen und eine
Parteiregierung bestehen. Der schlichte, rechtschaffne, anspruchslose Bulgar, dessen
Tugenden von den liberalen Rednern in England von allen Platformeu gepriesen
worden Ware", entpuppte sich als bestechlicher Wähler oder als mit Bestechung für
sein Interesse wirkender Kandidat.

Nachdem die Bulgaren sich mit einem verständigen Fürsten und einer unver¬
ständigen Verfassung versehen, handelten sie, wie wenn sie mit der größten Ge¬
schwindigkeit darzuthun verpflichtet wären, daß sie zur Selbstregierung ganz und
gar nicht das' Zeug hätten. Zwei auf einander folgende Sessionen ihrer Sobrnnje
oder Nativunlversammlnng waren nichts als Zeitvergeudung mit langatmigen Er¬
örterungen und sinnlosen Zänkereien. Maßregel auf Maßregel, mehr oder minder
geschickt zusammengeflickt von Ministern, nicht viel klüger und fähiger als die Ge>
sctzgeber, welche diese Leistungen gutzuheißen oder zu verwerfen berechtigt waren,
wurde von dem einen und dem andern Cabinet aufs Tapet gebracht und von der


Die bulgarische Krisis.

als Pathcnbrief eine Verfassung in die Wiege gelegt, über die jedem Liberalen vor
Freude die Angen übergehen. Was werden die Leute mit diesen Gaben machen
und leisten? Auf diese Frage ist bis diesen Tag eine äußerst unbefriedigende Ant¬
wort erfolgt. Von dem Augenblicke an, wo die Bulgaren in den Stand gesetzt
waren, ihre Angelegenheiten selbst zu verwalten, haben sie sich übel aufgeführt,
Dummheiten gröbster Art begangen, Unbilliges erstrebt und ausgeführt und sich
infolge dessen schlecht befunden. Nur in einem einzigen Stücke der Summe von
Rechten, mit denen man sie beschenkt, verfuhren sie vernünftig: die Wahl ihres
ersten Fürsten aus der Zahl der Bewerber um diese Würde traf das Richtige. Sie
gaben sich zum Beherrscher einen Prinzen, der mit einer guten natürlichen Be¬
gabung einen fleckenlosen Charakter verband, der mächtige Familienverbindnngcn
hatte, und der in die Schule und Zucht des preußischen Heeres gegangen war.
Europa billigte die Wahl und kam dem jungen Staate mit herzlichem Wohlwollen
entgegen. Prinz Alexander von Ballenberg, der ein Neffe des verstorbnen und
ein Vetter des jetzt regierenden Zaren und mit mehrern königlichen und fürstlichen
Häusern nahe verwandt war, und der sich der hohen Stellung, die ihm gegeben
worden, überdies dadurch würdig gemacht hatte, daß er für die Emancipation der
Bulgaren freiwillig auf dem Schlnchtfelde gekämpft hatte, ließ die Schöpfer des
Berliner Vertrags hoffen, daß sie weise gehandelt, als sie der Berstümmelnng der
Türkei nud dem Hauptpunkte des revolutionären Programms deS Panslavismus
ihre Zustimmung ertheilt.

In andern Beziehungen aber begannen die Bulgaren ihr neues politisches
Leben auf nichts weniger als kluge Art. Sie nahmen eine im Vergleich mit ihrem
Bildungszustände und allen andern Verhältnissen geradezu lächerliche Konstitution
an. Sie mißhandelten und beraubten ihre zahlreichen muhamednnischen Mitbürger
in himmelschreiender Weise. Ihre ersten Wahlen für die Landesvertretung waren
schon durch alle Mängel und Mißbräuche bezeichnet, welche sich Parasitisch in Län¬
dern entwickelt haben, wo bereits länger verfassungsmäßige Einrichtungen und eine
Parteiregierung bestehen. Der schlichte, rechtschaffne, anspruchslose Bulgar, dessen
Tugenden von den liberalen Rednern in England von allen Platformeu gepriesen
worden Ware», entpuppte sich als bestechlicher Wähler oder als mit Bestechung für
sein Interesse wirkender Kandidat.

Nachdem die Bulgaren sich mit einem verständigen Fürsten und einer unver¬
ständigen Verfassung versehen, handelten sie, wie wenn sie mit der größten Ge¬
schwindigkeit darzuthun verpflichtet wären, daß sie zur Selbstregierung ganz und
gar nicht das' Zeug hätten. Zwei auf einander folgende Sessionen ihrer Sobrnnje
oder Nativunlversammlnng waren nichts als Zeitvergeudung mit langatmigen Er¬
örterungen und sinnlosen Zänkereien. Maßregel auf Maßregel, mehr oder minder
geschickt zusammengeflickt von Ministern, nicht viel klüger und fähiger als die Ge>
sctzgeber, welche diese Leistungen gutzuheißen oder zu verwerfen berechtigt waren,
wurde von dem einen und dem andern Cabinet aufs Tapet gebracht und von der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/531>, abgerufen am 25.08.2024.