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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

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Politische Lriefe.

Die Verantwortung aber für den kläglichen Ausgang, den die Parteien
dem Anfange des größten Werkes bereitet haben, welches der modernen Humanität
und Staatskunst als schwerste Aufgabe, aber auch als größte Ehre auferlegt ist,
trifft in höherm Grade als alle andern Parteien das Centrum.

Dieser edeln Aufgabe gegenüber war keine der fünfundzwanzig Regierungen,
welche das deutsche Reich bilden, so partieularistisch gewesen, an der Neichs-
versichernngsanstalt Anstoß zu nehmen. Das Centrum schleppte den Stein des
Anstoßes künstlich herbei, und etwas voreilig wurde ihm das Zugeständniß, die
einheitliche Ncichsversicherungsanstalt durch Landesanstalteu zu ersetzen, vonseiten
der Deutschevnscrvativen wie der Freieonservativen gemacht. Den zweiten Stein
des Anstoßes fand die Selbstsucht der Großindustrie in dem Staatszuschuß, welcher
eine dauernde und wirksame Staatsaufsicht über die Industrie, eindringender als
die bisher geübte, zur unabwendbaren Folge haben mußte. Dem großiudustriellen
Widerstand gesellte sich der Widerstand des liberalen Doctrinarismns bei. Wer
aber hätte denken sollen, daß der dritte im Bunde gegen den Staatszuschuß das
Centrum sein würde? Wie soll man sich den Kampf des Centrums gegen den
Staatszuschuß auch nur erklären? Die Redensarten, welche die klerikale Presse
zur Begründung dieser Ablehnung dem "Manchesterthum" abgeborgt hat, tragen
den Stempel der Unwahrheit aus diesem Munde bis zur Lächerlichkeit. Wen
wollen die klerikalen Organe glauben machen, daß sie nach jahrelanger Ver¬
spottung der individualistischen Wirthschaftsordnung eine Maßregel zurückweisen,
weil sie dieser Wirthschaftsordnluig zu ucche tritt? O, wir können uns die Ant¬
wort selbst geben, die uns die klerikalen Blätter freilich nicht geben werden.
Nicht weil er der individualistischen Wirtschaftsordnung zu nahe trat, hat man
den Staatszuschuß bekämpft, sondern weil er dem Staate zu Gute gekommen
wäre. Das Centrum gönnt dem Staate um keinen Preis -- wir eignen uns
hier den zutreffenden Ausdruck eines Berliner Briefes der "Politischen Korrespon¬
denz" an -- die moralische Eroberung der arbeitenden Klassen. Aber
die Verwerfung des Staatszuschusses war dein Centrum nicht genng. Im letzten
Augenblick entschloß der Reichskanzler sich, das Gesetz anzunehmen auch ohne
den Staatszufchuß, wenn wenigstens die Versichcrnngslast allein auf die Betriebs¬
herren gelegt, die Arbeiter aber auch ohne den Staatszufchuß von jener Last
befreit blieben. Auch diesen Vermittluugsantrcig stimmte das Centrum nieder.
Das Centrum will nicht, daß den Arbeitern eine wirkliche Wohlthat vom Staate
komme, sei es direct, sei es indirect; die Arbeiter sollen die Besserung ihrer Lage,
soweit eine solche eintreten kann, nur Rom und seiner Kirche verdanken, und nur
so weit soll eine solche Besserung eintreten, als sie von Rom, seinen Stiftungen,
Orden n. s. w. bewirkt werden kann. Daher das immer wiederholte Lied der


Politische Lriefe.

Die Verantwortung aber für den kläglichen Ausgang, den die Parteien
dem Anfange des größten Werkes bereitet haben, welches der modernen Humanität
und Staatskunst als schwerste Aufgabe, aber auch als größte Ehre auferlegt ist,
trifft in höherm Grade als alle andern Parteien das Centrum.

Dieser edeln Aufgabe gegenüber war keine der fünfundzwanzig Regierungen,
welche das deutsche Reich bilden, so partieularistisch gewesen, an der Neichs-
versichernngsanstalt Anstoß zu nehmen. Das Centrum schleppte den Stein des
Anstoßes künstlich herbei, und etwas voreilig wurde ihm das Zugeständniß, die
einheitliche Ncichsversicherungsanstalt durch Landesanstalteu zu ersetzen, vonseiten
der Deutschevnscrvativen wie der Freieonservativen gemacht. Den zweiten Stein
des Anstoßes fand die Selbstsucht der Großindustrie in dem Staatszuschuß, welcher
eine dauernde und wirksame Staatsaufsicht über die Industrie, eindringender als
die bisher geübte, zur unabwendbaren Folge haben mußte. Dem großiudustriellen
Widerstand gesellte sich der Widerstand des liberalen Doctrinarismns bei. Wer
aber hätte denken sollen, daß der dritte im Bunde gegen den Staatszuschuß das
Centrum sein würde? Wie soll man sich den Kampf des Centrums gegen den
Staatszuschuß auch nur erklären? Die Redensarten, welche die klerikale Presse
zur Begründung dieser Ablehnung dem „Manchesterthum" abgeborgt hat, tragen
den Stempel der Unwahrheit aus diesem Munde bis zur Lächerlichkeit. Wen
wollen die klerikalen Organe glauben machen, daß sie nach jahrelanger Ver¬
spottung der individualistischen Wirthschaftsordnung eine Maßregel zurückweisen,
weil sie dieser Wirthschaftsordnluig zu ucche tritt? O, wir können uns die Ant¬
wort selbst geben, die uns die klerikalen Blätter freilich nicht geben werden.
Nicht weil er der individualistischen Wirtschaftsordnung zu nahe trat, hat man
den Staatszuschuß bekämpft, sondern weil er dem Staate zu Gute gekommen
wäre. Das Centrum gönnt dem Staate um keinen Preis — wir eignen uns
hier den zutreffenden Ausdruck eines Berliner Briefes der „Politischen Korrespon¬
denz" an — die moralische Eroberung der arbeitenden Klassen. Aber
die Verwerfung des Staatszuschusses war dein Centrum nicht genng. Im letzten
Augenblick entschloß der Reichskanzler sich, das Gesetz anzunehmen auch ohne
den Staatszufchuß, wenn wenigstens die Versichcrnngslast allein auf die Betriebs¬
herren gelegt, die Arbeiter aber auch ohne den Staatszufchuß von jener Last
befreit blieben. Auch diesen Vermittluugsantrcig stimmte das Centrum nieder.
Das Centrum will nicht, daß den Arbeitern eine wirkliche Wohlthat vom Staate
komme, sei es direct, sei es indirect; die Arbeiter sollen die Besserung ihrer Lage,
soweit eine solche eintreten kann, nur Rom und seiner Kirche verdanken, und nur
so weit soll eine solche Besserung eintreten, als sie von Rom, seinen Stiftungen,
Orden n. s. w. bewirkt werden kann. Daher das immer wiederholte Lied der


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[0526] Politische Lriefe. Die Verantwortung aber für den kläglichen Ausgang, den die Parteien dem Anfange des größten Werkes bereitet haben, welches der modernen Humanität und Staatskunst als schwerste Aufgabe, aber auch als größte Ehre auferlegt ist, trifft in höherm Grade als alle andern Parteien das Centrum. Dieser edeln Aufgabe gegenüber war keine der fünfundzwanzig Regierungen, welche das deutsche Reich bilden, so partieularistisch gewesen, an der Neichs- versichernngsanstalt Anstoß zu nehmen. Das Centrum schleppte den Stein des Anstoßes künstlich herbei, und etwas voreilig wurde ihm das Zugeständniß, die einheitliche Ncichsversicherungsanstalt durch Landesanstalteu zu ersetzen, vonseiten der Deutschevnscrvativen wie der Freieonservativen gemacht. Den zweiten Stein des Anstoßes fand die Selbstsucht der Großindustrie in dem Staatszuschuß, welcher eine dauernde und wirksame Staatsaufsicht über die Industrie, eindringender als die bisher geübte, zur unabwendbaren Folge haben mußte. Dem großiudustriellen Widerstand gesellte sich der Widerstand des liberalen Doctrinarismns bei. Wer aber hätte denken sollen, daß der dritte im Bunde gegen den Staatszuschuß das Centrum sein würde? Wie soll man sich den Kampf des Centrums gegen den Staatszuschuß auch nur erklären? Die Redensarten, welche die klerikale Presse zur Begründung dieser Ablehnung dem „Manchesterthum" abgeborgt hat, tragen den Stempel der Unwahrheit aus diesem Munde bis zur Lächerlichkeit. Wen wollen die klerikalen Organe glauben machen, daß sie nach jahrelanger Ver¬ spottung der individualistischen Wirthschaftsordnung eine Maßregel zurückweisen, weil sie dieser Wirthschaftsordnluig zu ucche tritt? O, wir können uns die Ant¬ wort selbst geben, die uns die klerikalen Blätter freilich nicht geben werden. Nicht weil er der individualistischen Wirtschaftsordnung zu nahe trat, hat man den Staatszuschuß bekämpft, sondern weil er dem Staate zu Gute gekommen wäre. Das Centrum gönnt dem Staate um keinen Preis — wir eignen uns hier den zutreffenden Ausdruck eines Berliner Briefes der „Politischen Korrespon¬ denz" an — die moralische Eroberung der arbeitenden Klassen. Aber die Verwerfung des Staatszuschusses war dein Centrum nicht genng. Im letzten Augenblick entschloß der Reichskanzler sich, das Gesetz anzunehmen auch ohne den Staatszufchuß, wenn wenigstens die Versichcrnngslast allein auf die Betriebs¬ herren gelegt, die Arbeiter aber auch ohne den Staatszufchuß von jener Last befreit blieben. Auch diesen Vermittluugsantrcig stimmte das Centrum nieder. Das Centrum will nicht, daß den Arbeitern eine wirkliche Wohlthat vom Staate komme, sei es direct, sei es indirect; die Arbeiter sollen die Besserung ihrer Lage, soweit eine solche eintreten kann, nur Rom und seiner Kirche verdanken, und nur so weit soll eine solche Besserung eintreten, als sie von Rom, seinen Stiftungen, Orden n. s. w. bewirkt werden kann. Daher das immer wiederholte Lied der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/526>, abgerufen am 23.07.2024.