Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Politische Briefe.

diese Bekämpfung angeführt werden, sind so phrasenhaft, daß sie sich sogleich als
bloße Vorwände verrathen. Was soll es heißen, wenn gesagt wird, man dürfe dem
ärmsten Steuerzahler nichts abfordern zum Vortheil des minder armen? Mit diesen?
Satze muß man folgerichtig den ganzen Staat abschaffen, dessen Grundgedanken man
verleugnet hat. Die Solidarität der Bürger ist der elementare Boden der Staats¬
idee, und zwar die Solidarität für einen Zweck, dessen Wohlthaten anerkannter¬
maßen niemals für alle gleich groß und auch nicht gleichzeitig sein können. An
jene Phrase glauben die Vertreter der Großindustrie selber nicht, so mangelhaft
es mit ihrer Intelligenz auch bestellt sein mag. Die wahre Ursache ihres Wider¬
standes, die ihnen auch den Beistand des Centrums zuführt, liegt in der voll¬
kommen richtigen Erkenntniß, daß der Staatszuschuß deu dauernden Ernst der
Staatsfürsorge verbürgt, damit aber auch eine gewisse Bevormundung der
Industrie dauernd und unausbleiblich herbeiführt. Es ist der Grundgedanke
des Gesetzes, den die Großindustrie vereiteln möchte, dn sie ihn nicht offen
abzulehnen wagt. Die Großindustrie folgt ihrem natürlichen Egoismus, das
Centrum folgt der Berechnung, ein wohlthätiges Werkzeug in der Hand des
Staates sich nicht ausbilden zu lassen, dessen Verdienst und Dank dem Staate
nicht zu gönnen ist, am wenigsten aber dem deutschen Reiche. Die Liberalen
sind natürlich auch Gegner des Staatszuschusscs und zwar aus Confusion, soweit
sie es nicht ans Doctrin sind. Es ist traurig zu sehen, wie der nationale Theil
der Liberalen einen Weg verschließt, auf dem dem nationalen Gedanken das
kräftigste Lebensbrot zuzuführen ist. Aber die Confusion der Liberalen ist es,
die dem Schmetterling zuletzt auch den Leib zerdrückt. Sie wollen durchaus
neben der Reichsversichcrungsanstalt, an der sie die nationale Symbolik schätzen,
die concurrirenden Privatunternehmungen aufrecht halten. Die Sicherheit der
Arbeiter gegenüber diesen Unternehmungen soll durch Normativbedingungen ge¬
währleistet werden. Als solche Normativbcdingnngen hat man n. a. vorgeschlagen,
daß das Capital, welches die Pension des verunglückten Arbeiters, berechnet
nach der Wahrscheinlichkeit der fernern Lebensdauer, aufzubringen hat, sogleich
nach Anerkennung der Berechtigung bei einer Staatsanstalt hinterlegt werden
muß. Aber sieht man denn nicht, daß man einen wesentlichen Theil der
Function mit dieser Theilung dennoch dem Staate übertrüge? Sieht man denn
nicht, daß man den Kampf der Privatunternehmungen gegen den Arbeiter ver¬
ewigt, daß man die Privatunternehmungen auf den Weg treibt, erst Arbeiter
und Unternehmer durch niedrige Prämien zu locken, dann aber die Capital¬
entschädigung durch alle erdenklichen Vorwände zu verringern? Die Vorwände
werden nicht fehlen; wenn es nicht mehr mit der Verschuldung des Arbeiters
geht, wird sich die Wahrscheinlichkeit der geringen Lebensdauer und andres dar-


Politische Briefe.

diese Bekämpfung angeführt werden, sind so phrasenhaft, daß sie sich sogleich als
bloße Vorwände verrathen. Was soll es heißen, wenn gesagt wird, man dürfe dem
ärmsten Steuerzahler nichts abfordern zum Vortheil des minder armen? Mit diesen?
Satze muß man folgerichtig den ganzen Staat abschaffen, dessen Grundgedanken man
verleugnet hat. Die Solidarität der Bürger ist der elementare Boden der Staats¬
idee, und zwar die Solidarität für einen Zweck, dessen Wohlthaten anerkannter¬
maßen niemals für alle gleich groß und auch nicht gleichzeitig sein können. An
jene Phrase glauben die Vertreter der Großindustrie selber nicht, so mangelhaft
es mit ihrer Intelligenz auch bestellt sein mag. Die wahre Ursache ihres Wider¬
standes, die ihnen auch den Beistand des Centrums zuführt, liegt in der voll¬
kommen richtigen Erkenntniß, daß der Staatszuschuß deu dauernden Ernst der
Staatsfürsorge verbürgt, damit aber auch eine gewisse Bevormundung der
Industrie dauernd und unausbleiblich herbeiführt. Es ist der Grundgedanke
des Gesetzes, den die Großindustrie vereiteln möchte, dn sie ihn nicht offen
abzulehnen wagt. Die Großindustrie folgt ihrem natürlichen Egoismus, das
Centrum folgt der Berechnung, ein wohlthätiges Werkzeug in der Hand des
Staates sich nicht ausbilden zu lassen, dessen Verdienst und Dank dem Staate
nicht zu gönnen ist, am wenigsten aber dem deutschen Reiche. Die Liberalen
sind natürlich auch Gegner des Staatszuschusscs und zwar aus Confusion, soweit
sie es nicht ans Doctrin sind. Es ist traurig zu sehen, wie der nationale Theil
der Liberalen einen Weg verschließt, auf dem dem nationalen Gedanken das
kräftigste Lebensbrot zuzuführen ist. Aber die Confusion der Liberalen ist es,
die dem Schmetterling zuletzt auch den Leib zerdrückt. Sie wollen durchaus
neben der Reichsversichcrungsanstalt, an der sie die nationale Symbolik schätzen,
die concurrirenden Privatunternehmungen aufrecht halten. Die Sicherheit der
Arbeiter gegenüber diesen Unternehmungen soll durch Normativbedingungen ge¬
währleistet werden. Als solche Normativbcdingnngen hat man n. a. vorgeschlagen,
daß das Capital, welches die Pension des verunglückten Arbeiters, berechnet
nach der Wahrscheinlichkeit der fernern Lebensdauer, aufzubringen hat, sogleich
nach Anerkennung der Berechtigung bei einer Staatsanstalt hinterlegt werden
muß. Aber sieht man denn nicht, daß man einen wesentlichen Theil der
Function mit dieser Theilung dennoch dem Staate übertrüge? Sieht man denn
nicht, daß man den Kampf der Privatunternehmungen gegen den Arbeiter ver¬
ewigt, daß man die Privatunternehmungen auf den Weg treibt, erst Arbeiter
und Unternehmer durch niedrige Prämien zu locken, dann aber die Capital¬
entschädigung durch alle erdenklichen Vorwände zu verringern? Die Vorwände
werden nicht fehlen; wenn es nicht mehr mit der Verschuldung des Arbeiters
geht, wird sich die Wahrscheinlichkeit der geringen Lebensdauer und andres dar-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0475" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/150047"/>
          <fw type="header" place="top"> Politische Briefe.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1614" prev="#ID_1613" next="#ID_1615"> diese Bekämpfung angeführt werden, sind so phrasenhaft, daß sie sich sogleich als<lb/>
bloße Vorwände verrathen. Was soll es heißen, wenn gesagt wird, man dürfe dem<lb/>
ärmsten Steuerzahler nichts abfordern zum Vortheil des minder armen? Mit diesen?<lb/>
Satze muß man folgerichtig den ganzen Staat abschaffen, dessen Grundgedanken man<lb/>
verleugnet hat. Die Solidarität der Bürger ist der elementare Boden der Staats¬<lb/>
idee, und zwar die Solidarität für einen Zweck, dessen Wohlthaten anerkannter¬<lb/>
maßen niemals für alle gleich groß und auch nicht gleichzeitig sein können. An<lb/>
jene Phrase glauben die Vertreter der Großindustrie selber nicht, so mangelhaft<lb/>
es mit ihrer Intelligenz auch bestellt sein mag. Die wahre Ursache ihres Wider¬<lb/>
standes, die ihnen auch den Beistand des Centrums zuführt, liegt in der voll¬<lb/>
kommen richtigen Erkenntniß, daß der Staatszuschuß deu dauernden Ernst der<lb/>
Staatsfürsorge verbürgt, damit aber auch eine gewisse Bevormundung der<lb/>
Industrie dauernd und unausbleiblich herbeiführt. Es ist der Grundgedanke<lb/>
des Gesetzes, den die Großindustrie vereiteln möchte, dn sie ihn nicht offen<lb/>
abzulehnen wagt. Die Großindustrie folgt ihrem natürlichen Egoismus, das<lb/>
Centrum folgt der Berechnung, ein wohlthätiges Werkzeug in der Hand des<lb/>
Staates sich nicht ausbilden zu lassen, dessen Verdienst und Dank dem Staate<lb/>
nicht zu gönnen ist, am wenigsten aber dem deutschen Reiche. Die Liberalen<lb/>
sind natürlich auch Gegner des Staatszuschusscs und zwar aus Confusion, soweit<lb/>
sie es nicht ans Doctrin sind. Es ist traurig zu sehen, wie der nationale Theil<lb/>
der Liberalen einen Weg verschließt, auf dem dem nationalen Gedanken das<lb/>
kräftigste Lebensbrot zuzuführen ist. Aber die Confusion der Liberalen ist es,<lb/>
die dem Schmetterling zuletzt auch den Leib zerdrückt. Sie wollen durchaus<lb/>
neben der Reichsversichcrungsanstalt, an der sie die nationale Symbolik schätzen,<lb/>
die concurrirenden Privatunternehmungen aufrecht halten. Die Sicherheit der<lb/>
Arbeiter gegenüber diesen Unternehmungen soll durch Normativbedingungen ge¬<lb/>
währleistet werden. Als solche Normativbcdingnngen hat man n. a. vorgeschlagen,<lb/>
daß das Capital, welches die Pension des verunglückten Arbeiters, berechnet<lb/>
nach der Wahrscheinlichkeit der fernern Lebensdauer, aufzubringen hat, sogleich<lb/>
nach Anerkennung der Berechtigung bei einer Staatsanstalt hinterlegt werden<lb/>
muß. Aber sieht man denn nicht, daß man einen wesentlichen Theil der<lb/>
Function mit dieser Theilung dennoch dem Staate übertrüge? Sieht man denn<lb/>
nicht, daß man den Kampf der Privatunternehmungen gegen den Arbeiter ver¬<lb/>
ewigt, daß man die Privatunternehmungen auf den Weg treibt, erst Arbeiter<lb/>
und Unternehmer durch niedrige Prämien zu locken, dann aber die Capital¬<lb/>
entschädigung durch alle erdenklichen Vorwände zu verringern? Die Vorwände<lb/>
werden nicht fehlen; wenn es nicht mehr mit der Verschuldung des Arbeiters<lb/>
geht, wird sich die Wahrscheinlichkeit der geringen Lebensdauer und andres dar-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0475] Politische Briefe. diese Bekämpfung angeführt werden, sind so phrasenhaft, daß sie sich sogleich als bloße Vorwände verrathen. Was soll es heißen, wenn gesagt wird, man dürfe dem ärmsten Steuerzahler nichts abfordern zum Vortheil des minder armen? Mit diesen? Satze muß man folgerichtig den ganzen Staat abschaffen, dessen Grundgedanken man verleugnet hat. Die Solidarität der Bürger ist der elementare Boden der Staats¬ idee, und zwar die Solidarität für einen Zweck, dessen Wohlthaten anerkannter¬ maßen niemals für alle gleich groß und auch nicht gleichzeitig sein können. An jene Phrase glauben die Vertreter der Großindustrie selber nicht, so mangelhaft es mit ihrer Intelligenz auch bestellt sein mag. Die wahre Ursache ihres Wider¬ standes, die ihnen auch den Beistand des Centrums zuführt, liegt in der voll¬ kommen richtigen Erkenntniß, daß der Staatszuschuß deu dauernden Ernst der Staatsfürsorge verbürgt, damit aber auch eine gewisse Bevormundung der Industrie dauernd und unausbleiblich herbeiführt. Es ist der Grundgedanke des Gesetzes, den die Großindustrie vereiteln möchte, dn sie ihn nicht offen abzulehnen wagt. Die Großindustrie folgt ihrem natürlichen Egoismus, das Centrum folgt der Berechnung, ein wohlthätiges Werkzeug in der Hand des Staates sich nicht ausbilden zu lassen, dessen Verdienst und Dank dem Staate nicht zu gönnen ist, am wenigsten aber dem deutschen Reiche. Die Liberalen sind natürlich auch Gegner des Staatszuschusscs und zwar aus Confusion, soweit sie es nicht ans Doctrin sind. Es ist traurig zu sehen, wie der nationale Theil der Liberalen einen Weg verschließt, auf dem dem nationalen Gedanken das kräftigste Lebensbrot zuzuführen ist. Aber die Confusion der Liberalen ist es, die dem Schmetterling zuletzt auch den Leib zerdrückt. Sie wollen durchaus neben der Reichsversichcrungsanstalt, an der sie die nationale Symbolik schätzen, die concurrirenden Privatunternehmungen aufrecht halten. Die Sicherheit der Arbeiter gegenüber diesen Unternehmungen soll durch Normativbedingungen ge¬ währleistet werden. Als solche Normativbcdingnngen hat man n. a. vorgeschlagen, daß das Capital, welches die Pension des verunglückten Arbeiters, berechnet nach der Wahrscheinlichkeit der fernern Lebensdauer, aufzubringen hat, sogleich nach Anerkennung der Berechtigung bei einer Staatsanstalt hinterlegt werden muß. Aber sieht man denn nicht, daß man einen wesentlichen Theil der Function mit dieser Theilung dennoch dem Staate übertrüge? Sieht man denn nicht, daß man den Kampf der Privatunternehmungen gegen den Arbeiter ver¬ ewigt, daß man die Privatunternehmungen auf den Weg treibt, erst Arbeiter und Unternehmer durch niedrige Prämien zu locken, dann aber die Capital¬ entschädigung durch alle erdenklichen Vorwände zu verringern? Die Vorwände werden nicht fehlen; wenn es nicht mehr mit der Verschuldung des Arbeiters geht, wird sich die Wahrscheinlichkeit der geringen Lebensdauer und andres dar-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/475
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/475>, abgerufen am 01.10.2024.