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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

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politische Briefe.

Versprechen nicht einlösen zu können, vermuthlich bald gezwungen sein werde.
So kurzsichtig sind einmal die Menschen: die Freude liber den Mißerfolg eines
Beneideten ist größer als die Trauer über den Schaden, der der Nation und
allen Einzelnen erwächst. Aber eben weil man nicht glaubte, die Reichsregieruug
werde auch nur zu ernstlichen Versuchen socialer Besserung das Geschick und den
Muth finden, darum mahnte man desto eifriger. Die ultramontane, fortschritt¬
liche und liberale Presse unterließ keinen Tag die Frage: Wo bleiben die so-
cialen Reformversuche? Aber der Reichskanzler ist nicht der Mann, der er¬
pressenden Noth ein Versprechen hinzuwerfen, das die Ohnmacht nicht erfüllen
kann. In dem Unfallversicherungsplan für einen Theil der Arbeiter erschien der
erste sveinlpolitische Refvrmversuch. Wir sind schon wiederholt auf denselben zu
sprechen gekommen, ans die glücklich geführte Hand, welche die Wurzel des Uebels
noch nicht umspannt, aber bereits erfaßt, auf die natürlichen Gegner, die sich
in dem Rufe vereinigen: Weg die Hand von dieser Stelle!

Der Vorwurf der Ohnmacht fällt nicht mehr auf den großen Mann, der
die richtige Bahn zeigt, sondern auf die Schwäche und Verworrenheit der Zeit¬
genossen, die sich nicht zu dem richtigen Entschlüsse erheben. Drei Grundgedanken
bilden den Plan des Kanzlers: 1. der Versicherungszwang zu Gunsten aller
Arbeiter zunächst in einem begrenzten Theile der industriellen Betriebe; 2. die
Versicherung durch tue Unternehmer und durch die besser gestellten Arbeiter für
die letztern, für den größern Theil der Arbeiter aber durch die Unternehmer
und durch den Staat, der hier die locale Armenpflege entlastet; 3. die Ver¬
sicherung bei einer allgemeinen monopvlisirten Reichsanstalt. Wie die Knaben
einen gefangnen Schmetterling, so haben die Parteien diesen Entwurf zerpflückt
und zu einem Unding gemacht. Wie der eine Knabe die Flügel ausreißt und
dafür ein paar beliebige Blätter einsetzt, der zweite Knabe den Kopf abreißt
und dafür etwa eine Stecknadel einsteckt, der dritte endlich den Leib zerreißt und
ihn etwa durch ein Stückchen längliches Holz ersetzen will, so haben die Par¬
teien jene geniale Arbeit zum Narrenspiel gemacht. Das Centrum hat dem
Schmetterling die Flügel ausgerissen, indem es aus nie verleugneter particula-
ristischer Tendenz die allgemeine Reichsversicherungsanstalt durch Landesver-
sicherungsanstalten ersetze" will. Doch ist diese Mißhandlung nicht die schlimmste
und von der Reichsregierung, die ja weiß, daß Mißhandlungen nicht abzuwenden
sind, deshalb zugestanden worden. Denn die Landcsversichernngsanstalten führen
auf einem allerdings Zeit und Mittel verderbenden Umwege unausbleiblich zur
Reichsversicherungsanstalt. Die Vertreter der Großiudustrie aber reißen dem
Schmetterlinge den Kopf ab, indem sie den Staatszuschuß bekämpfen und diesen
auch wirklich aus der Commissionsvorlage entfernt haben. Die Gründe, welche für


politische Briefe.

Versprechen nicht einlösen zu können, vermuthlich bald gezwungen sein werde.
So kurzsichtig sind einmal die Menschen: die Freude liber den Mißerfolg eines
Beneideten ist größer als die Trauer über den Schaden, der der Nation und
allen Einzelnen erwächst. Aber eben weil man nicht glaubte, die Reichsregieruug
werde auch nur zu ernstlichen Versuchen socialer Besserung das Geschick und den
Muth finden, darum mahnte man desto eifriger. Die ultramontane, fortschritt¬
liche und liberale Presse unterließ keinen Tag die Frage: Wo bleiben die so-
cialen Reformversuche? Aber der Reichskanzler ist nicht der Mann, der er¬
pressenden Noth ein Versprechen hinzuwerfen, das die Ohnmacht nicht erfüllen
kann. In dem Unfallversicherungsplan für einen Theil der Arbeiter erschien der
erste sveinlpolitische Refvrmversuch. Wir sind schon wiederholt auf denselben zu
sprechen gekommen, ans die glücklich geführte Hand, welche die Wurzel des Uebels
noch nicht umspannt, aber bereits erfaßt, auf die natürlichen Gegner, die sich
in dem Rufe vereinigen: Weg die Hand von dieser Stelle!

Der Vorwurf der Ohnmacht fällt nicht mehr auf den großen Mann, der
die richtige Bahn zeigt, sondern auf die Schwäche und Verworrenheit der Zeit¬
genossen, die sich nicht zu dem richtigen Entschlüsse erheben. Drei Grundgedanken
bilden den Plan des Kanzlers: 1. der Versicherungszwang zu Gunsten aller
Arbeiter zunächst in einem begrenzten Theile der industriellen Betriebe; 2. die
Versicherung durch tue Unternehmer und durch die besser gestellten Arbeiter für
die letztern, für den größern Theil der Arbeiter aber durch die Unternehmer
und durch den Staat, der hier die locale Armenpflege entlastet; 3. die Ver¬
sicherung bei einer allgemeinen monopvlisirten Reichsanstalt. Wie die Knaben
einen gefangnen Schmetterling, so haben die Parteien diesen Entwurf zerpflückt
und zu einem Unding gemacht. Wie der eine Knabe die Flügel ausreißt und
dafür ein paar beliebige Blätter einsetzt, der zweite Knabe den Kopf abreißt
und dafür etwa eine Stecknadel einsteckt, der dritte endlich den Leib zerreißt und
ihn etwa durch ein Stückchen längliches Holz ersetzen will, so haben die Par¬
teien jene geniale Arbeit zum Narrenspiel gemacht. Das Centrum hat dem
Schmetterling die Flügel ausgerissen, indem es aus nie verleugneter particula-
ristischer Tendenz die allgemeine Reichsversicherungsanstalt durch Landesver-
sicherungsanstalten ersetze» will. Doch ist diese Mißhandlung nicht die schlimmste
und von der Reichsregierung, die ja weiß, daß Mißhandlungen nicht abzuwenden
sind, deshalb zugestanden worden. Denn die Landcsversichernngsanstalten führen
auf einem allerdings Zeit und Mittel verderbenden Umwege unausbleiblich zur
Reichsversicherungsanstalt. Die Vertreter der Großiudustrie aber reißen dem
Schmetterlinge den Kopf ab, indem sie den Staatszuschuß bekämpfen und diesen
auch wirklich aus der Commissionsvorlage entfernt haben. Die Gründe, welche für


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/474>, abgerufen am 01.07.2024.