Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.Richard Wagner und die "nationale Bewegung" in Berlin. worden. Wir haben den letztem oben unter denjenigen Virtuosen genannt, welche Während Liszt bei weitem nicht allgemeine Theilnahme fand, wurde sie Richard Wagner und die „nationale Bewegung" in Berlin. worden. Wir haben den letztem oben unter denjenigen Virtuosen genannt, welche Während Liszt bei weitem nicht allgemeine Theilnahme fand, wurde sie <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0459" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/150031"/> <fw type="header" place="top"> Richard Wagner und die „nationale Bewegung" in Berlin.</fw><lb/> <p xml:id="ID_1527" prev="#ID_1526"> worden. Wir haben den letztem oben unter denjenigen Virtuosen genannt, welche<lb/> in Berlin vor Jahrzehnten rauschende Triumphe erlebt haben. Als Liszt 1839<lb/> seine große Reise durch Europa begann und dabei auch Berlin berührte, wurden<lb/> ihm die glänzendsten Ehrenbezeugungen zu Theil. Man liest, daß die Studenten<lb/> ihm zu Ehren eine Schlittenpartie veranstalteten, daß die Straßenjungen auf die<lb/> Bäume kletterten, um den Gefeierten des Tages besser zu sehen, daß die Damen<lb/> sich darnach drängten, aus dem Wasserglase zu trinken, welches seine Lippen be¬<lb/> rührt hatten u. tgi. in. Als er dann zum zweiten Male nach Berlin kam, war<lb/> der Enthusiasmus schon verraucht, und seine Aufnahme war eine ziemlich kühle.<lb/> Auch in diesem Jahre hat er keine nachhaltige Begeisterung hervorgerufen, ob¬<lb/> wohl ihm zu Ehren die reife Frucht seines Alters, sein Oratorium „Christus,"<lb/> aufgeführt wurde. Das Gros der protestantischen Bevölkerung bleibt seiner<lb/> geistlichen Musik gegenüber innerlich fremd, und es war nur eine Verhältniß-<lb/> mäßig kleine Gemeinde, welche dem Apostel Wagners ihre warme Anerkennung<lb/> darbrachte. Es geht mit der geistlichen Musik in unserm Jahrhundert, wenigstens<lb/> in seiner zweiten Hälfte, wie mit der religiösen Malerei. Für beide Offenbarungen<lb/> verschiedner Künste ist in dem überwiegend protestantischen Norden Deutschlands<lb/> mit der Productionsfähigkeit zugleich die Genußfähigkeit ausgegangen, ohne daß<lb/> man das Recht hätte, diese Erscheinung aus der Abnahme des religiösen Sinnes<lb/> zu erklären. Der Materialismus hat durchaus nicht diejenigen Fortschritte ge¬<lb/> macht, von welchen die Eiferer sprechen. Ein Blick in die Kirchen Berlins an<lb/> hohen Festtagen lehrt aufs deutlichste, daß das religiöse Bedürfniß nach wie vor<lb/> tief im Volke wurzelt. Daß der Kirchenbesuch an den gewöhnlichen Sonntagen<lb/> nicht so stark ist, wie ihn die Geistlichkeit wünscht, ist andern Gründen zuzu¬<lb/> schreiben als dem Wachsthum der Irreligiosität. Die Bedürfnisse der Gro߬<lb/> stadt, unter denen die Vergnügungssucht allerdings eine wichtige Rolle spielt,<lb/> sind so groß, daß eine sechstägige Arbeit kaum ausreicht, sie zu befriedige,?, und<lb/> daß die höher bezahlte Sonntagsarbeit ergänzend hinzutreten muß. Auch ist<lb/> vielleicht momentan nicht ganz ohne Gewicht der Umstand, daß Berlin keinen<lb/> Kanzelredner besitzt, dessen oratorische Leistungen besonders hervorragend sind.<lb/> Wenn sich einmal auch ein „Freidenkerverein" bildet, wie es kürzlich in Berlin<lb/> geschehen ist, so darf man daraus noch keinen Schluß auf die gesammte Be¬<lb/> völkerung ziehen. Solche Elemente werden sich in einer Millionenstadt immer<lb/> beisammen finden, und in dem concreten Falle ist es gewiß charakteristisch, daß<lb/> der Verein von Juden oder, vorsichtiger ausgedrückt, von „israelitischen Mit¬<lb/> bürgern" und einigen radicalen Journalisten gegründet worden ist.</p><lb/> <p xml:id="ID_1528" next="#ID_1529"> Während Liszt bei weitem nicht allgemeine Theilnahme fand, wurde sie<lb/> Wagner in einer Freund und Feind gleichmäßig überraschenden Weife entgegen-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0459]
Richard Wagner und die „nationale Bewegung" in Berlin.
worden. Wir haben den letztem oben unter denjenigen Virtuosen genannt, welche
in Berlin vor Jahrzehnten rauschende Triumphe erlebt haben. Als Liszt 1839
seine große Reise durch Europa begann und dabei auch Berlin berührte, wurden
ihm die glänzendsten Ehrenbezeugungen zu Theil. Man liest, daß die Studenten
ihm zu Ehren eine Schlittenpartie veranstalteten, daß die Straßenjungen auf die
Bäume kletterten, um den Gefeierten des Tages besser zu sehen, daß die Damen
sich darnach drängten, aus dem Wasserglase zu trinken, welches seine Lippen be¬
rührt hatten u. tgi. in. Als er dann zum zweiten Male nach Berlin kam, war
der Enthusiasmus schon verraucht, und seine Aufnahme war eine ziemlich kühle.
Auch in diesem Jahre hat er keine nachhaltige Begeisterung hervorgerufen, ob¬
wohl ihm zu Ehren die reife Frucht seines Alters, sein Oratorium „Christus,"
aufgeführt wurde. Das Gros der protestantischen Bevölkerung bleibt seiner
geistlichen Musik gegenüber innerlich fremd, und es war nur eine Verhältniß-
mäßig kleine Gemeinde, welche dem Apostel Wagners ihre warme Anerkennung
darbrachte. Es geht mit der geistlichen Musik in unserm Jahrhundert, wenigstens
in seiner zweiten Hälfte, wie mit der religiösen Malerei. Für beide Offenbarungen
verschiedner Künste ist in dem überwiegend protestantischen Norden Deutschlands
mit der Productionsfähigkeit zugleich die Genußfähigkeit ausgegangen, ohne daß
man das Recht hätte, diese Erscheinung aus der Abnahme des religiösen Sinnes
zu erklären. Der Materialismus hat durchaus nicht diejenigen Fortschritte ge¬
macht, von welchen die Eiferer sprechen. Ein Blick in die Kirchen Berlins an
hohen Festtagen lehrt aufs deutlichste, daß das religiöse Bedürfniß nach wie vor
tief im Volke wurzelt. Daß der Kirchenbesuch an den gewöhnlichen Sonntagen
nicht so stark ist, wie ihn die Geistlichkeit wünscht, ist andern Gründen zuzu¬
schreiben als dem Wachsthum der Irreligiosität. Die Bedürfnisse der Gro߬
stadt, unter denen die Vergnügungssucht allerdings eine wichtige Rolle spielt,
sind so groß, daß eine sechstägige Arbeit kaum ausreicht, sie zu befriedige,?, und
daß die höher bezahlte Sonntagsarbeit ergänzend hinzutreten muß. Auch ist
vielleicht momentan nicht ganz ohne Gewicht der Umstand, daß Berlin keinen
Kanzelredner besitzt, dessen oratorische Leistungen besonders hervorragend sind.
Wenn sich einmal auch ein „Freidenkerverein" bildet, wie es kürzlich in Berlin
geschehen ist, so darf man daraus noch keinen Schluß auf die gesammte Be¬
völkerung ziehen. Solche Elemente werden sich in einer Millionenstadt immer
beisammen finden, und in dem concreten Falle ist es gewiß charakteristisch, daß
der Verein von Juden oder, vorsichtiger ausgedrückt, von „israelitischen Mit¬
bürgern" und einigen radicalen Journalisten gegründet worden ist.
Während Liszt bei weitem nicht allgemeine Theilnahme fand, wurde sie
Wagner in einer Freund und Feind gleichmäßig überraschenden Weife entgegen-
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