Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Richard Wagner und die "nationale Bewegung" in Berlin.

so doch eine gleiche Empfänglichkeit für das parlamentarische Leben besitzt wie
das englische.

Solche Erscheinungen müssen in Betracht gezogen werden, um die lebhafte
Bewegung zu erklaren, welche die Aufführung der Nibelungentrilogie -- sechzehn
Vorstellungen bei ungewöhnlich hohen Preisen vor stets vollen Häusern -- her¬
vorgerufen hat. Berlin ist zwar von jeher eine musikfreundliche, wenn auch nicht
gerade eine musikalische Stadt in dem Sinne wie Wien gewesen. Es hat ganze
Jahrzehnte gegeben, in welchen die Musik gleichbedeutend mit dem öffentlichen
Leben war, die beiden Jahrzehnte namentlich nach den Freiheitskriegen, in welchen
nur noch musikalische Fragen die bis zum Tode ermattete oder richtiger künstlich
in den Schlaf gelullte Gesellschaft aus ihrer Lethargie aufrütteln konnten. Es
war jene Epoche, welcher Schlegel und Tieck die geistige Signatur verliehen
haben, jene Zeit, in welcher sich die Berliner Gesellschaft von Henriette Herz und
Rahel Levin den Ton angeben ließ und die um Varnhagen von Ense gruppirte
Clique, deren jämmerliches Treiben noch immer nicht nach Gebühr erkannt worden
ist, die ästhetischen Parolen ausgab. In dieser Zeit des allgemeinen "Gefühls¬
dusels" -- das sonst so abscheuliche Wort trifft hier den Kern der Sache --
war die Musik die Alleinherrschern: im Reich der Künste, im Reiche der Mode
und des Tagesgeschmacks. Damals feierten Henriette Sonntag, Paganini, Ole
Bull, Franz Liszt, Jenny Lind und die Schwestern Milanvllo Triumphe, deren
Berichte wir heute mit Staunen und Kopfschütteln lesen. Ein fast an den Wahn¬
sinn grenzender Enthusiasmus hatte alle Welt und nicht zum mindesten die
Kreise der Berliner Gesellschaft ergriffen. Scenen abenteuerlichster Huldigungen,
wie sie sich damals abspielten, kommen heute nur noch in den Städten des
amerikanischen Westens bei den Gastspielen reisender Virtuosen vor.

Die Revolution von 1848 erzeugte auch nach dieser Richtung eine gewisse
Reaction, welche in dem Grade zunahm, als die Ereignisse auf dem Welttheater
immer dramatischer und katastrophenartiger wurden und Berlin seinen provinziellen
Charakter verlor und den einer Weltstadt anzunehmen begann. Die musikalischen
Zirkel wurden enger und enger, je mehr sich der allgemeine Gesichtskreis er¬
weiterte, und die specieller" Musikfreunde schlossen sich zu stillen Gemeinden zu¬
sammen, welche in dem Meer einer Großstadt kleine Inseln bildeten. Ab und
zu stieg wohl aus diesen Kreisen eine Blase an die Oberfläche empor, aber sie
zerplatzte schnell, ohne eine tiefere Bewegung in dem Wellengekräusel hervorzu¬
rufen. Zwar haben wir auch noch in der neuesten Zeit, nach den Tagen von
Königgrätz und Sedan, die uns doch gelehrt haben sollten, welche Personen und
welche Gedanken der höchsten Begeisterung würdig sind, Abende erlebt, an welchen
die Wogen des Musikenthusiasmns alle Grenzen zu überschreiten drohten. Die


Richard Wagner und die „nationale Bewegung" in Berlin.

so doch eine gleiche Empfänglichkeit für das parlamentarische Leben besitzt wie
das englische.

Solche Erscheinungen müssen in Betracht gezogen werden, um die lebhafte
Bewegung zu erklaren, welche die Aufführung der Nibelungentrilogie — sechzehn
Vorstellungen bei ungewöhnlich hohen Preisen vor stets vollen Häusern — her¬
vorgerufen hat. Berlin ist zwar von jeher eine musikfreundliche, wenn auch nicht
gerade eine musikalische Stadt in dem Sinne wie Wien gewesen. Es hat ganze
Jahrzehnte gegeben, in welchen die Musik gleichbedeutend mit dem öffentlichen
Leben war, die beiden Jahrzehnte namentlich nach den Freiheitskriegen, in welchen
nur noch musikalische Fragen die bis zum Tode ermattete oder richtiger künstlich
in den Schlaf gelullte Gesellschaft aus ihrer Lethargie aufrütteln konnten. Es
war jene Epoche, welcher Schlegel und Tieck die geistige Signatur verliehen
haben, jene Zeit, in welcher sich die Berliner Gesellschaft von Henriette Herz und
Rahel Levin den Ton angeben ließ und die um Varnhagen von Ense gruppirte
Clique, deren jämmerliches Treiben noch immer nicht nach Gebühr erkannt worden
ist, die ästhetischen Parolen ausgab. In dieser Zeit des allgemeinen „Gefühls¬
dusels" — das sonst so abscheuliche Wort trifft hier den Kern der Sache —
war die Musik die Alleinherrschern: im Reich der Künste, im Reiche der Mode
und des Tagesgeschmacks. Damals feierten Henriette Sonntag, Paganini, Ole
Bull, Franz Liszt, Jenny Lind und die Schwestern Milanvllo Triumphe, deren
Berichte wir heute mit Staunen und Kopfschütteln lesen. Ein fast an den Wahn¬
sinn grenzender Enthusiasmus hatte alle Welt und nicht zum mindesten die
Kreise der Berliner Gesellschaft ergriffen. Scenen abenteuerlichster Huldigungen,
wie sie sich damals abspielten, kommen heute nur noch in den Städten des
amerikanischen Westens bei den Gastspielen reisender Virtuosen vor.

Die Revolution von 1848 erzeugte auch nach dieser Richtung eine gewisse
Reaction, welche in dem Grade zunahm, als die Ereignisse auf dem Welttheater
immer dramatischer und katastrophenartiger wurden und Berlin seinen provinziellen
Charakter verlor und den einer Weltstadt anzunehmen begann. Die musikalischen
Zirkel wurden enger und enger, je mehr sich der allgemeine Gesichtskreis er¬
weiterte, und die specieller» Musikfreunde schlossen sich zu stillen Gemeinden zu¬
sammen, welche in dem Meer einer Großstadt kleine Inseln bildeten. Ab und
zu stieg wohl aus diesen Kreisen eine Blase an die Oberfläche empor, aber sie
zerplatzte schnell, ohne eine tiefere Bewegung in dem Wellengekräusel hervorzu¬
rufen. Zwar haben wir auch noch in der neuesten Zeit, nach den Tagen von
Königgrätz und Sedan, die uns doch gelehrt haben sollten, welche Personen und
welche Gedanken der höchsten Begeisterung würdig sind, Abende erlebt, an welchen
die Wogen des Musikenthusiasmns alle Grenzen zu überschreiten drohten. Die


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0454" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/150026"/>
          <fw type="header" place="top"> Richard Wagner und die &#x201E;nationale Bewegung" in Berlin.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1512" prev="#ID_1511"> so doch eine gleiche Empfänglichkeit für das parlamentarische Leben besitzt wie<lb/>
das englische.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1513"> Solche Erscheinungen müssen in Betracht gezogen werden, um die lebhafte<lb/>
Bewegung zu erklaren, welche die Aufführung der Nibelungentrilogie &#x2014; sechzehn<lb/>
Vorstellungen bei ungewöhnlich hohen Preisen vor stets vollen Häusern &#x2014; her¬<lb/>
vorgerufen hat. Berlin ist zwar von jeher eine musikfreundliche, wenn auch nicht<lb/>
gerade eine musikalische Stadt in dem Sinne wie Wien gewesen. Es hat ganze<lb/>
Jahrzehnte gegeben, in welchen die Musik gleichbedeutend mit dem öffentlichen<lb/>
Leben war, die beiden Jahrzehnte namentlich nach den Freiheitskriegen, in welchen<lb/>
nur noch musikalische Fragen die bis zum Tode ermattete oder richtiger künstlich<lb/>
in den Schlaf gelullte Gesellschaft aus ihrer Lethargie aufrütteln konnten. Es<lb/>
war jene Epoche, welcher Schlegel und Tieck die geistige Signatur verliehen<lb/>
haben, jene Zeit, in welcher sich die Berliner Gesellschaft von Henriette Herz und<lb/>
Rahel Levin den Ton angeben ließ und die um Varnhagen von Ense gruppirte<lb/>
Clique, deren jämmerliches Treiben noch immer nicht nach Gebühr erkannt worden<lb/>
ist, die ästhetischen Parolen ausgab. In dieser Zeit des allgemeinen &#x201E;Gefühls¬<lb/>
dusels" &#x2014; das sonst so abscheuliche Wort trifft hier den Kern der Sache &#x2014;<lb/>
war die Musik die Alleinherrschern: im Reich der Künste, im Reiche der Mode<lb/>
und des Tagesgeschmacks. Damals feierten Henriette Sonntag, Paganini, Ole<lb/>
Bull, Franz Liszt, Jenny Lind und die Schwestern Milanvllo Triumphe, deren<lb/>
Berichte wir heute mit Staunen und Kopfschütteln lesen. Ein fast an den Wahn¬<lb/>
sinn grenzender Enthusiasmus hatte alle Welt und nicht zum mindesten die<lb/>
Kreise der Berliner Gesellschaft ergriffen. Scenen abenteuerlichster Huldigungen,<lb/>
wie sie sich damals abspielten, kommen heute nur noch in den Städten des<lb/>
amerikanischen Westens bei den Gastspielen reisender Virtuosen vor.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1514" next="#ID_1515"> Die Revolution von 1848 erzeugte auch nach dieser Richtung eine gewisse<lb/>
Reaction, welche in dem Grade zunahm, als die Ereignisse auf dem Welttheater<lb/>
immer dramatischer und katastrophenartiger wurden und Berlin seinen provinziellen<lb/>
Charakter verlor und den einer Weltstadt anzunehmen begann. Die musikalischen<lb/>
Zirkel wurden enger und enger, je mehr sich der allgemeine Gesichtskreis er¬<lb/>
weiterte, und die specieller» Musikfreunde schlossen sich zu stillen Gemeinden zu¬<lb/>
sammen, welche in dem Meer einer Großstadt kleine Inseln bildeten. Ab und<lb/>
zu stieg wohl aus diesen Kreisen eine Blase an die Oberfläche empor, aber sie<lb/>
zerplatzte schnell, ohne eine tiefere Bewegung in dem Wellengekräusel hervorzu¬<lb/>
rufen. Zwar haben wir auch noch in der neuesten Zeit, nach den Tagen von<lb/>
Königgrätz und Sedan, die uns doch gelehrt haben sollten, welche Personen und<lb/>
welche Gedanken der höchsten Begeisterung würdig sind, Abende erlebt, an welchen<lb/>
die Wogen des Musikenthusiasmns alle Grenzen zu überschreiten drohten. Die</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0454] Richard Wagner und die „nationale Bewegung" in Berlin. so doch eine gleiche Empfänglichkeit für das parlamentarische Leben besitzt wie das englische. Solche Erscheinungen müssen in Betracht gezogen werden, um die lebhafte Bewegung zu erklaren, welche die Aufführung der Nibelungentrilogie — sechzehn Vorstellungen bei ungewöhnlich hohen Preisen vor stets vollen Häusern — her¬ vorgerufen hat. Berlin ist zwar von jeher eine musikfreundliche, wenn auch nicht gerade eine musikalische Stadt in dem Sinne wie Wien gewesen. Es hat ganze Jahrzehnte gegeben, in welchen die Musik gleichbedeutend mit dem öffentlichen Leben war, die beiden Jahrzehnte namentlich nach den Freiheitskriegen, in welchen nur noch musikalische Fragen die bis zum Tode ermattete oder richtiger künstlich in den Schlaf gelullte Gesellschaft aus ihrer Lethargie aufrütteln konnten. Es war jene Epoche, welcher Schlegel und Tieck die geistige Signatur verliehen haben, jene Zeit, in welcher sich die Berliner Gesellschaft von Henriette Herz und Rahel Levin den Ton angeben ließ und die um Varnhagen von Ense gruppirte Clique, deren jämmerliches Treiben noch immer nicht nach Gebühr erkannt worden ist, die ästhetischen Parolen ausgab. In dieser Zeit des allgemeinen „Gefühls¬ dusels" — das sonst so abscheuliche Wort trifft hier den Kern der Sache — war die Musik die Alleinherrschern: im Reich der Künste, im Reiche der Mode und des Tagesgeschmacks. Damals feierten Henriette Sonntag, Paganini, Ole Bull, Franz Liszt, Jenny Lind und die Schwestern Milanvllo Triumphe, deren Berichte wir heute mit Staunen und Kopfschütteln lesen. Ein fast an den Wahn¬ sinn grenzender Enthusiasmus hatte alle Welt und nicht zum mindesten die Kreise der Berliner Gesellschaft ergriffen. Scenen abenteuerlichster Huldigungen, wie sie sich damals abspielten, kommen heute nur noch in den Städten des amerikanischen Westens bei den Gastspielen reisender Virtuosen vor. Die Revolution von 1848 erzeugte auch nach dieser Richtung eine gewisse Reaction, welche in dem Grade zunahm, als die Ereignisse auf dem Welttheater immer dramatischer und katastrophenartiger wurden und Berlin seinen provinziellen Charakter verlor und den einer Weltstadt anzunehmen begann. Die musikalischen Zirkel wurden enger und enger, je mehr sich der allgemeine Gesichtskreis er¬ weiterte, und die specieller» Musikfreunde schlossen sich zu stillen Gemeinden zu¬ sammen, welche in dem Meer einer Großstadt kleine Inseln bildeten. Ab und zu stieg wohl aus diesen Kreisen eine Blase an die Oberfläche empor, aber sie zerplatzte schnell, ohne eine tiefere Bewegung in dem Wellengekräusel hervorzu¬ rufen. Zwar haben wir auch noch in der neuesten Zeit, nach den Tagen von Königgrätz und Sedan, die uns doch gelehrt haben sollten, welche Personen und welche Gedanken der höchsten Begeisterung würdig sind, Abende erlebt, an welchen die Wogen des Musikenthusiasmns alle Grenzen zu überschreiten drohten. Die

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/454
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/454>, abgerufen am 01.07.2024.